Dresdens Japanisches Palais ist derzeit Experimentierraum für den Umgang mit kolonialen ethnographischen Sammlungen. Direktorin Léontine Meijer-van Mensch und Kuratorin Barbara Höffer deklinieren Modi musealer Selbstreflexion durch und zeigen, wie multidirektionale Erinnerung im Museum aussehen kann.

  • Felix Ackermann

    Felix Ackermann ist Professor für Public History an der FernUniversität in Hagen. Aktuelles Forschungsthema: die Geschichte der Digitalisierung autobiographischer Erzählungen in der Ukraine, Belarus und Russland. Er ist Mitbegründer von „Stimmen aus Belarus“.

In der Debatte um das Verhältnis der Erin­ne­rung an den Holo­caust, den kolo­nialen Völker­mord und andere Formen staat­li­cher Massen­ge­walt öffnet das Museum für Völker­kunde die baro­cken Tore des Japa­ni­schen Palais in Dresden. Hier zeigen Direk­torin Léon­tine Meijer-van Mensch und Kura­torin Barbara Höffer in der Ausstel­lung „Sprach­lo­sig­keit“, wie sich multi­di­rek­tio­nale Erin­ne­rung in der Praxis gestalten lässt. Dabei beziehen sie sich auf Michael Roth­berg, der seit 2009 in seinen Essays nach neuen Formen von Soli­da­rität mit unter­schied­li­chen Opfer­gruppen im Zeit­alter der Globa­li­sie­rung fragt.

Ausstel­lungs­an­sicht „Sprach­lo­sig­keit – Das laute Verstummen“, Quelle: japanisches-palais.skd.museum

Roth­berg skiz­ziert eine demo­kra­ti­sche Erin­ne­rung der Zukunft, in der unter­schied­liche Gewalt­er­fah­rungen weder konkur­rie­rend noch gleich­set­zend neben­ein­an­der­stehen und zeigt, dass es diese gegen­sei­tigen Bezüge in Kunst, Lite­ratur und Politik längst gibt. Anstatt – wie kürz­lich Jürgen Kaube in der Frank­furter Allge­meinen Sonn­tags­zei­tung – offi­zi­elle Verbote eines Vergleichs auszu­spre­chen, lotet Roth­berg aktiv aus, in welchem Verhältnis die Ausein­an­der­set­zung mit dem Erbe des Kolo­nia­lismus zu der mit dem Erbe des Holo­causts steht. Meijer-van Mensch greift Roth­bergs Analyse auf, um sich kritisch mit der eigenen Rolle der Staat­li­chen Kunst­samm­lungen Dresden und dem Umgang mit in kolo­nialen Kontexten entstan­denen ethno­gra­phi­schen Objekten auseinanderzusetzen.

Gegen­wart sozialer Erin­ne­rung statt vergan­gener Ereignisgeschichte

In seinem Text „Von Gaza nach Warschau: Die Kartie­rung des multi­di­rek­tio­nalen Gedächt­nisses“, der im Diskurs­buch Sprach­lo­sig­keit (2021) zur Ausstel­lung im engli­schen Original doku­men­tiert ist, vergleicht Rоth­berg nicht die Situa­tion der Paläs­ti­nenser im 21. Jahr­hun­dert mit der Situa­tion von verfolgten Juden im besetzten Polen. Statt­dessen analy­siert er künst­le­ri­sche Arbeiten, die mit Mitteln der visu­ellen Gleich­set­zung eine Verbin­dung herzu­stellen suchen und schlägt zwei analy­ti­sche Achsen vor. In der ersten Achse stellt er im öffent­li­chen Ringen um Aner­ken­nung einen flie­ßenden Über­gang von der Gleich­set­zung der Erin­ne­rung an unter­schied­liche Verbre­chen hin zur ihrer Diffe­ren­zie­rung fest. In einer zweiten Analyse-Achse schlägt Roth­berg das Konti­nuum zwischen Wett­be­werb und Soli­da­rität unter­schied­li­cher Opfer­gruppen vor.

Das Dresdner Ausstel­lungs­team greift beide Dimen­sionen auf und lotet im Japa­ni­schen Palais aus, wie Soli­da­rität und Diffe­ren­zie­rung in der musealen Praxis 2021 entstehen können. Dafür öffnet Meijer-van Mensch das säch­si­sche Pracht­schloss program­ma­tisch als Labor der Erin­ne­rung, in dem sie im ersten Stock­werk den Nach­fahren von Gewalt-Opfern in Asien und Europa einen Raum gibt, um ihre Ausein­an­der­set­zung selbst zu doku­men­tieren. Durch diese Anord­nung stehen Vitrinen zur deut­schen kolo­nialen Herr­schaft im südwest­li­chen Afrika neben einer Instal­la­tion von Michelle Eistrup über die geolo­gi­schen Mine­ra­li­en­samm­lungen der Bergbau-Universität in Frei­berg und kauka­si­schen Teppi­chen von Silvina Der-Meguerditchian. Im Ober­ge­schoss fragen die Ausstellungsmacher:innen kritisch nach den Möglich­keiten und Grenzen der Selbst­re­fle­xion eines Museums, dessen Gebäude und Samm­lung selbst in kolo­nialen Kontexten entstanden ist und nun zum ersten Mal aktiv thema­ti­siert wird.

Foto aus der Ausstel­lung: Quelle: japanisches-palais.skd.museum

Ausgangs­punkt für die Suche nach einer Sprache für den Umgang mit Verlust ist die Poesie von Paul Celan, der die Kura­torin histo­ri­sche Foto­gra­fien von aus Dresden geflo­henen jüdi­schen Fami­lien an die Seite stellt. In einer Wand­in­stal­la­tion seziert sie exem­pla­risch Celans Gedicht „Sprach­gitter“. Mit den Asso­zia­ti­ons­fäden zu unter­schied­li­chen Bedeu­tungs­ebenen von Celans Werk verweist sie auf die Ähnlich­keit von kollek­tivem Gedächtnis und neuro­nalen Netz­werken, in denen einzelne Begriffe als Knoten­punkte für ganz unter­schied­liche Bedeu­tungen stehen können. Das Nach­denken über Formen der Verge­gen­wär­ti­gung des Holo­causts bildet einen Rahmen dieses ersten Teils der Ausstel­lung. Ganz am Ende des Rund­gangs leuchten Olaf Schlotes Foto­gra­phien von Shoah-Überlebenden, deren Kraft viele Besu­cher irri­tiert, weil in Deutsch­land die Erzäh­lung vom Über­leben vor allem verwendet wird, um den Tod sichtbar zu machen. Schlote lässt das Leben in den Augen von Menschen strahlen, die in Israel einen Weg gefunden haben, nach der Shoah ein neues Leben zu beginnen.

Im Japa­ni­schen Palais ist gut zu erkennen, dass mit dem Konzept, die Strahl­kraft der Augen von über­le­benden Juden im selben Stock­werk zusammen mit der kura­to­ri­schen Ausein­an­der­set­zung mit Gewalt im Kaukasus, in Südost­asien, in Austra­lien und im südwest­li­chen Afrika zu kombi­nieren, weder eine Gleich­set­zung von unter­schied­li­chen Gewalt-Formen bedeutet, noch die beson­dere Stel­lung des Holo­causts für den deut­schen Umgang mit der Geschichte des Natio­nal­so­zia­lismus in Frage stellt. Das Wissen über die Verbre­chen wird hier aller­dings implizit voraus­ge­setzt, denn Thema der Ausstel­lung ist nicht eine verglei­chende Gewalt­studie, sondern die Schwie­rig­keit, eine kollek­tive Sprache für Erfah­rungen zu finden, die den Opfern und ihren Nach­fahren eine Stimme gibt.

Silvina Der-Meguerditchian, „When they go low, we go high“, 2021; Quelle: japanisches-palais.skd.museum

Damit traut Meijer-van Mensch den Besu­chern zu, selbst eine aktive Rolle des Verknüp­fens einzu­nehmen, die nicht an iden­ti­täre Rollen geknüpft ist. Michael Roth­berg nennt dieses handelnde Subjekt „impli­cated subject“ und fordert, die starre Tricho­tomie von aktiven Tätern, passiven Opfern und beob­ach­tenden Bystan­dern aufzu­bre­chen. Genau in diesem Punkt lässt sich die Kritik an Roth­berg auch auf die Ausstel­lung über­tragen: Ein neu verhan­deltes Verhältnis der Erin­ne­rung аn unter­schied­liche Gewalt­er­fah­rungen ermög­licht, die klare Benen­nung von Täter­schaft aufzu­wei­chen, was vor allem dann proble­ma­tisch ist, wenn zentrale Verbre­chen des Deut­schen Reichs in einem deut­schen Kontext thema­ti­siert werden.

Modi des Umgangs mit konta­mi­nierten Sammlungen

Die Ausstel­lung wirft selbst die Frage auf, wie eine staat­liche Samm­lung 2021 mit ihrer Vergan­gen­heit umgeht. Dafür hat die Kura­torin mit ihrem Team die Geschichte eines wich­tigen Stif­ters der ethno­gra­phi­schen Afrika-Sammlung nach­re­cher­chiert und dokumentiert.

Georg Maercker hatte als Major der Schutz­truppe des Deut­schen Reiches seine eigene kolo­niale Wahr­neh­mung des südwest­li­chen Afrikas akri­bisch doku­men­tiert und der Dres­dener Samm­lung zentrale Objekte aus Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, und anderen deut­schen Kolo­nien gestiftet. Die Recherche-Ergebnisse des Museums zeigen seine aktive mili­tä­ri­sche Teil­nahme am Krieg gegen die Herero und Nama sowie frag­wür­dige Prak­tiken der Entfer­nung von ethno­gra­phi­schen Objekten aus ihrem Entstehungskontext.

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Diese Infor­ma­tionen werden den Besu­chern nicht im Ankla­geton mitge­teilt, sondern schlicht als Kontext z.B. einem wert­vollen Stirn­band aus dem südwest­li­chen Afrika zur Seite gestellt. Am Ende eines visua­li­sierten Zeit­strahls klebt in der Ausstel­lung ein hand­ge­schrie­bener Zettel mit der Infor­ma­tion „Aner­ken­nung des Völker­mords durch die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land“, da diese erst nach Eröff­nung der Ausstel­lung erfolgte. Eine prak­ti­sche Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit kolo­nialen Objekten ist in einer Glas­vi­trine davor zu sehen. Darin sind Georg Maerckers foto­gra­fi­sche Reise­ta­ge­bü­cher ausge­stellt. Die Kura­torin hat sie explizit nicht für den Blick der Besu­cher geöffnet, die kolo­nialen Bilder Maerckers werden nicht gezeigt.

Eine andere Antwort gibt die Kura­torin im Umgang mit einem Holz-Schild der Kaurna Yerta Abori­gines. Seine Geschichte ist verbunden mit der Ankunft von Missio­naren aus Halle in Austra­lien. Sie hatten ab 1838 syste­ma­tisch Schulen für die Kinder der Aborigines-Gruppe einge­richtet und damit zum Verlust ihrer Sprache beigetragen. Die Versuche der Kaurna, ihre eigene Sprache seit den 1980er Jahren wieder zu erlangen, zeigt, dass die Ausstel­lung nicht nur im Meta­pho­ri­schen verbleibt. Aufgrund der symbo­li­schen Bedeu­tung des Schilds für die austra­li­sche Gruppe werden die Staat­li­chen Kunst­samm­lungen nach Ende der Ausstel­lung die mit der Jagd verbun­denen histo­ri­schen Objekte an die Kaurna Yerta zurückgeben.

Den Rahmen für dieses Labor, in dem expe­ri­men­tell über­prüft werden kann, ob es gelingt, eine Sprache für Trau­mata der Vergan­gen­heit zu finden, ist das Japa­ni­sche Palais selbst. Es steht für den Macht­an­spruch von August dem Starken, der nach der Wahl zum König von Polen und Groß­fürsten von Litauen Hoff­nungen hegte, selbst Kaiser zu werden. Wie die Leiterin der Porzel­lan­samm­lung, Julia Weber, in einem Essay im Diskurs­buch darlegt, war das Palais als Prachtbau konzi­piert, um dem Triumph des Meissner Porzel­lans über die Vorbilder aus Asien ein Denkmal zu setzen.

Da das Gebäude von der baro­cken Altstadt aus gesehen am gegen­über­lie­genden Elbufer in der Nähe des Neustädter Bahn­hofs liegt und im Februar 1945 gänz­lich ausbrannte, gilt das Gebäude in Dresden bis heute als „Narbe am anderen Ufer“. Die Ausstel­lung schließt mit einer Farb­auf­nahme des Japa­ni­schen Palais vom 15. Februar 1945. Walter Holl­nagel doku­men­tierte darin, wie die Flammen der bren­nenden Bestände der Dresdner Stadt­bi­blio­thek durch die Haupt­fas­sade des Palais dringen, während im Hinter­grund die Silhou­ette der zerstörten Innen­stadt zu erkennen ist. Die Veror­tung am Ende der Ausstel­lung lässt sich als Mahnung lesen, dass der vom Deut­schen Reich begon­nene Zweite Welt­krieg letzt­lich auch seine eigene Zerstö­rung bewirkte. Im Sinne von Michael Roth­bergs Thesen steht aber noch aus, eine Sprache zu finden, wie die ganz unter­schied­li­chen Formen von Gewalt, die in der Ausstel­lung doku­men­tiert sind, mit der Zerstö­rung Dres­dens zusam­men­ge­bracht werden können. Daher ist der Unter­titel der Ausstel­lung genau formu­liert: „Das laute Verstummen.“