In der Debatte um das Verhältnis der Erinnerung an den Holocaust, den kolonialen Völkermord und andere Formen staatlicher Massengewalt öffnet das Museum für Völkerkunde die barocken Tore des Japanischen Palais in Dresden. Hier zeigen Direktorin Léontine Meijer-van Mensch und Kuratorin Barbara Höffer in der Ausstellung „Sprachlosigkeit“, wie sich multidirektionale Erinnerung in der Praxis gestalten lässt. Dabei beziehen sie sich auf Michael Rothberg, der seit 2009 in seinen Essays nach neuen Formen von Solidarität mit unterschiedlichen Opfergruppen im Zeitalter der Globalisierung fragt.

Ausstellungsansicht „Sprachlosigkeit – Das laute Verstummen“, Quelle: japanisches-palais.skd.museum
Rothberg skizziert eine demokratische Erinnerung der Zukunft, in der unterschiedliche Gewalterfahrungen weder konkurrierend noch gleichsetzend nebeneinanderstehen und zeigt, dass es diese gegenseitigen Bezüge in Kunst, Literatur und Politik längst gibt. Anstatt – wie kürzlich Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – offizielle Verbote eines Vergleichs auszusprechen, lotet Rothberg aktiv aus, in welchem Verhältnis die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus zu der mit dem Erbe des Holocausts steht. Meijer-van Mensch greift Rothbergs Analyse auf, um sich kritisch mit der eigenen Rolle der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und dem Umgang mit in kolonialen Kontexten entstandenen ethnographischen Objekten auseinanderzusetzen.
Gegenwart sozialer Erinnerung statt vergangener Ereignisgeschichte
In seinem Text „Von Gaza nach Warschau: Die Kartierung des multidirektionalen Gedächtnisses“, der im Diskursbuch Sprachlosigkeit (2021) zur Ausstellung im englischen Original dokumentiert ist, vergleicht Rоthberg nicht die Situation der Palästinenser im 21. Jahrhundert mit der Situation von verfolgten Juden im besetzten Polen. Stattdessen analysiert er künstlerische Arbeiten, die mit Mitteln der visuellen Gleichsetzung eine Verbindung herzustellen suchen und schlägt zwei analytische Achsen vor. In der ersten Achse stellt er im öffentlichen Ringen um Anerkennung einen fließenden Übergang von der Gleichsetzung der Erinnerung an unterschiedliche Verbrechen hin zur ihrer Differenzierung fest. In einer zweiten Analyse-Achse schlägt Rothberg das Kontinuum zwischen Wettbewerb und Solidarität unterschiedlicher Opfergruppen vor.
Das Dresdner Ausstellungsteam greift beide Dimensionen auf und lotet im Japanischen Palais aus, wie Solidarität und Differenzierung in der musealen Praxis 2021 entstehen können. Dafür öffnet Meijer-van Mensch das sächsische Prachtschloss programmatisch als Labor der Erinnerung, in dem sie im ersten Stockwerk den Nachfahren von Gewalt-Opfern in Asien und Europa einen Raum gibt, um ihre Auseinandersetzung selbst zu dokumentieren. Durch diese Anordnung stehen Vitrinen zur deutschen kolonialen Herrschaft im südwestlichen Afrika neben einer Installation von Michelle Eistrup über die geologischen Mineraliensammlungen der Bergbau-Universität in Freiberg und kaukasischen Teppichen von Silvina Der-Meguerditchian. Im Obergeschoss fragen die Ausstellungsmacher:innen kritisch nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstreflexion eines Museums, dessen Gebäude und Sammlung selbst in kolonialen Kontexten entstanden ist und nun zum ersten Mal aktiv thematisiert wird.

Foto aus der Ausstellung: Quelle: japanisches-palais.skd.museum
Ausgangspunkt für die Suche nach einer Sprache für den Umgang mit Verlust ist die Poesie von Paul Celan, der die Kuratorin historische Fotografien von aus Dresden geflohenen jüdischen Familien an die Seite stellt. In einer Wandinstallation seziert sie exemplarisch Celans Gedicht „Sprachgitter“. Mit den Assoziationsfäden zu unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Celans Werk verweist sie auf die Ähnlichkeit von kollektivem Gedächtnis und neuronalen Netzwerken, in denen einzelne Begriffe als Knotenpunkte für ganz unterschiedliche Bedeutungen stehen können. Das Nachdenken über Formen der Vergegenwärtigung des Holocausts bildet einen Rahmen dieses ersten Teils der Ausstellung. Ganz am Ende des Rundgangs leuchten Olaf Schlotes Fotographien von Shoah-Überlebenden, deren Kraft viele Besucher irritiert, weil in Deutschland die Erzählung vom Überleben vor allem verwendet wird, um den Tod sichtbar zu machen. Schlote lässt das Leben in den Augen von Menschen strahlen, die in Israel einen Weg gefunden haben, nach der Shoah ein neues Leben zu beginnen.
Im Japanischen Palais ist gut zu erkennen, dass mit dem Konzept, die Strahlkraft der Augen von überlebenden Juden im selben Stockwerk zusammen mit der kuratorischen Auseinandersetzung mit Gewalt im Kaukasus, in Südostasien, in Australien und im südwestlichen Afrika zu kombinieren, weder eine Gleichsetzung von unterschiedlichen Gewalt-Formen bedeutet, noch die besondere Stellung des Holocausts für den deutschen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Frage stellt. Das Wissen über die Verbrechen wird hier allerdings implizit vorausgesetzt, denn Thema der Ausstellung ist nicht eine vergleichende Gewaltstudie, sondern die Schwierigkeit, eine kollektive Sprache für Erfahrungen zu finden, die den Opfern und ihren Nachfahren eine Stimme gibt.

Silvina Der-Meguerditchian, „When they go low, we go high“, 2021; Quelle: japanisches-palais.skd.museum
Damit traut Meijer-van Mensch den Besuchern zu, selbst eine aktive Rolle des Verknüpfens einzunehmen, die nicht an identitäre Rollen geknüpft ist. Michael Rothberg nennt dieses handelnde Subjekt „implicated subject“ und fordert, die starre Trichotomie von aktiven Tätern, passiven Opfern und beobachtenden Bystandern aufzubrechen. Genau in diesem Punkt lässt sich die Kritik an Rothberg auch auf die Ausstellung übertragen: Ein neu verhandeltes Verhältnis der Erinnerung аn unterschiedliche Gewalterfahrungen ermöglicht, die klare Benennung von Täterschaft aufzuweichen, was vor allem dann problematisch ist, wenn zentrale Verbrechen des Deutschen Reichs in einem deutschen Kontext thematisiert werden.
Modi des Umgangs mit kontaminierten Sammlungen
Die Ausstellung wirft selbst die Frage auf, wie eine staatliche Sammlung 2021 mit ihrer Vergangenheit umgeht. Dafür hat die Kuratorin mit ihrem Team die Geschichte eines wichtigen Stifters der ethnographischen Afrika-Sammlung nachrecherchiert und dokumentiert.
Georg Maercker hatte als Major der Schutztruppe des Deutschen Reiches seine eigene koloniale Wahrnehmung des südwestlichen Afrikas akribisch dokumentiert und der Dresdener Sammlung zentrale Objekte aus Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, und anderen deutschen Kolonien gestiftet. Die Recherche-Ergebnisse des Museums zeigen seine aktive militärische Teilnahme am Krieg gegen die Herero und Nama sowie fragwürdige Praktiken der Entfernung von ethnographischen Objekten aus ihrem Entstehungskontext.
Diese Informationen werden den Besuchern nicht im Anklageton mitgeteilt, sondern schlicht als Kontext z.B. einem wertvollen Stirnband aus dem südwestlichen Afrika zur Seite gestellt. Am Ende eines visualisierten Zeitstrahls klebt in der Ausstellung ein handgeschriebener Zettel mit der Information „Anerkennung des Völkermords durch die Bundesrepublik Deutschland“, da diese erst nach Eröffnung der Ausstellung erfolgte. Eine praktische Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit kolonialen Objekten ist in einer Glasvitrine davor zu sehen. Darin sind Georg Maerckers fotografische Reisetagebücher ausgestellt. Die Kuratorin hat sie explizit nicht für den Blick der Besucher geöffnet, die kolonialen Bilder Maerckers werden nicht gezeigt.
Eine andere Antwort gibt die Kuratorin im Umgang mit einem Holz-Schild der Kaurna Yerta Aborigines. Seine Geschichte ist verbunden mit der Ankunft von Missionaren aus Halle in Australien. Sie hatten ab 1838 systematisch Schulen für die Kinder der Aborigines-Gruppe eingerichtet und damit zum Verlust ihrer Sprache beigetragen. Die Versuche der Kaurna, ihre eigene Sprache seit den 1980er Jahren wieder zu erlangen, zeigt, dass die Ausstellung nicht nur im Metaphorischen verbleibt. Aufgrund der symbolischen Bedeutung des Schilds für die australische Gruppe werden die Staatlichen Kunstsammlungen nach Ende der Ausstellung die mit der Jagd verbundenen historischen Objekte an die Kaurna Yerta zurückgeben.
Den Rahmen für dieses Labor, in dem experimentell überprüft werden kann, ob es gelingt, eine Sprache für Traumata der Vergangenheit zu finden, ist das Japanische Palais selbst. Es steht für den Machtanspruch von August dem Starken, der nach der Wahl zum König von Polen und Großfürsten von Litauen Hoffnungen hegte, selbst Kaiser zu werden. Wie die Leiterin der Porzellansammlung, Julia Weber, in einem Essay im Diskursbuch darlegt, war das Palais als Prachtbau konzipiert, um dem Triumph des Meissner Porzellans über die Vorbilder aus Asien ein Denkmal zu setzen.
Da das Gebäude von der barocken Altstadt aus gesehen am gegenüberliegenden Elbufer in der Nähe des Neustädter Bahnhofs liegt und im Februar 1945 gänzlich ausbrannte, gilt das Gebäude in Dresden bis heute als „Narbe am anderen Ufer“. Die Ausstellung schließt mit einer Farbaufnahme des Japanischen Palais vom 15. Februar 1945. Walter Hollnagel dokumentierte darin, wie die Flammen der brennenden Bestände der Dresdner Stadtbibliothek durch die Hauptfassade des Palais dringen, während im Hintergrund die Silhouette der zerstörten Innenstadt zu erkennen ist. Die Verortung am Ende der Ausstellung lässt sich als Mahnung lesen, dass der vom Deutschen Reich begonnene Zweite Weltkrieg letztlich auch seine eigene Zerstörung bewirkte. Im Sinne von Michael Rothbergs Thesen steht aber noch aus, eine Sprache zu finden, wie die ganz unterschiedlichen Formen von Gewalt, die in der Ausstellung dokumentiert sind, mit der Zerstörung Dresdens zusammengebracht werden können. Daher ist der Untertitel der Ausstellung genau formuliert: „Das laute Verstummen.“