Was war die Moderne – eine Epoche? Oder ist die Moderne so etwas wie eine „Haltung“, ein „unvollendetes Projekt“, das wir von der Aufklärung geerbt haben? Und sind daher nur die, die sich auf die Aufklärung beziehen, die rechtmässigen „Kinder der Moderne“?

Es gibt Begriffe, die so schil­lernd sind, dass sie ohne Einord­nung miss- oder unver­ständ­lich bleiben – und zwar so sehr, dass sie einen bei unbe­dachtem Gebrauch oft selbst verwirren. In diesem Sinne miss­ver­ständ­lich war die Formu­lie­rung „Zänke­reien unter den Kindern der Moderne“, die ich am Ende meines Arti­kels über „die Neue Rechte von Arnold Gehlen bis Botho Strauß“ verwendet habe. Beab­sich­tigt war, den poli­ti­schen Streit unter all jenen, die sich in der Tradi­tion des aufklä­re­ri­schen Denkens sehen, von den Posi­tionen der Neuen Rechten abzu­grenzen, die für die Aufklä­rung nur noch ein höhni­sches Lachen übrig hat.

Soweit die gute Absicht. Allein, die Aussage war falsch, denn auch die Neue Rechte gehört fraglos zu den „Kindern der Moderne“. Ist denn der Hass auf die Aufklä­rung nicht auch ein modernes Phänomen? Gehören nicht auch Rassismus und Faschismus zur Moderne, ebenso wie der Stali­nismus und seine Verbre­chen…? Die Frage, die sich stellt, ist also folgende: Ist „Moderne“ der Name für eine geschicht­liche Epoche, oder bedeutet „Moderne“ auch, oder vor allem – oder ausschließ­lich – eine „Haltung“, die sich eben zum Beispiel durch ihren posi­tiven Bezug auf die Aufklä­rung kenn­zeichnen lässt?

Die Geschichte eines Wortes

Die Verwir­rung um den Begriff der Moderne – bzw. moder­nity oder moder­nité – beginnt schon damit, dass er einer­seits zwar eine Selbst­be­schrei­bung einer Gesell­schaft zu sein scheint, die von ihrer eigenen stän­digen „Neuheit“ und Gegen­wär­tig­keit so sehr faszi­niert ist, dass sie von sich selbst nichts anderes sagen kann, als eben „modern“ zu sein – dass andrer­seits aber die west­li­chen Gesell­schaften diesen Begriff von sich selbst bis in die 1970er Jahre prak­tisch nicht verwendet haben. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Selbst in der Sozio­logie, die als Wissen­schaft der „modernen Gesell­schaft“ gleichsam mit dieser entstanden war, blieb der Begriff der „Moderne“, der in den 1880er Jahren in einem Kreis von Lite­raten geprägt wurde, weit­ge­hend unge­braucht. Max Weber etwa verwen­dete wohl das Adjektiv „modern“, nie aber das gene­ri­sche Substantiv „die Moderne“.

Wich­tiger war mithin immer die adjek­ti­vi­sche Form, die als modernus in der Bedeu­tung von „neu, heutig“ schon seit dem 5. Jahr­hun­dert nach­weisbar ist. Im Engli­schen und im Fran­zö­si­schen diente sie in den Verbin­dungen modern times bezie­hungs­weise temps modernes („moderne Zeiten“) seit dem späten 18. Jahr­hun­dert – und damit beson­ders seit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion – immer häufiger dazu, ein neues Zeit- oder viel­mehr Gegen­warts­ge­fühl zu formu­lieren; bis in die Mitte des 19. Jahr­hun­derts wurde dieser Ausdruck zum geläu­figen Code­wort für die schnelle Verän­de­rung aller Lebensverhältnisse.

Im Deut­schen hingegen gab es zwar kaum „moderne Zeiten“; Marx und Engels hatten 1848 im Mani­fest der kommu­nis­ti­schen Partei aller­dings exem­pla­risch vorge­führt, wie die eigene Gegen­wart auch mit anderen Adjektiv-Verbindungen als „modern“ beschrieben werden konnte. Sie spra­chen so dezi­diert und gehäuft vom „modernen Bour­geois“ und dem „modernen Arbeiter“, von der „modernen großen Indus­trie“ und den „modernen Produk­tiv­kräften“, dem „modernen Reprä­sen­ta­tiv­staat“, der „modernen Staats­ge­walt“ oder der „modernen bürger­li­chen Gesell­schaft“, dass das Neue, das laut Marx und Engels mit der „Bour­geoise“ und dem von ihr geschaf­fenen „modernen Welt­markt“ heraufzog, als eine ganz neue Epoche der Geschichte erscheinen musste. Es sei dies eine Epoche, so die berühmte Diagnose, in der „alles Stän­di­sche und Stehende verdampft“, in der, mit anderen Worten, der indus­tri­elle Fort­schritt und die Dynamik der frei­ge­setzten Markt­kräfte die Gebäude der Tradi­tion nieder­reißen und die stän­dige Um- und Neuge­stal­tung zum Signum dieser neuen Zeit, dieser neuen Epoche wurde.

„Moder­nität“ als Haltung

Es ist trivial fest­zu­stellen, dass die beiden Autoren mit dieser Gegen­warts­dia­gnose – publi­ziert in London und, wie der Google Books Ngram Viewer verrät, genau auf dem Höhe­punkt der engli­schen Häufig­keits­kurve von „modern times“ – nicht allein waren. Diese Diagnose war nach 1850 sogar schon so sehr keine Neuig­keit mehr, dass seither im Engli­schen wie auch ab 1860 im Fran­zö­si­schen die Verwen­dungs­häu­fig­keit der Ausdrücke modern times und temps modernes wieder rück­läufig war – darin, wenn man so will, das moderne Schicksal zeit­dia­gnos­ti­scher Begriffe selbst noch spie­gelnd. Es war jeden­falls auf dem Höhe­punkt der fran­zö­si­schen temps modernes, als Charles Baude­laire in seinem Groß­essay „Le peintre de la vie moderne“ („Der Maler des modernen Lebens“, 1859/1862) die „moderne“ Zeit- und Lebens­er­fah­rung mit der Groß­stadt, der Mode und der Kunst in Verbin­dung brachte: Der Maler Constantin Guys, den Baude­laire porträ­tierte, finde eine neue, moderne „Haltung“, einen neuen Stil genau darin, dass er auf kein tradi­tio­nelles Muster der Lebens­füh­rung mehr zurück­greife, sondern sich ganz der Gegen­wart, dem Wechsel der Moden und dem kurz­wel­ligen Flim­mern der Zeit­läufte hingebe. Diese „Haltung“, die die künst­le­ri­sche Suche nach dem „Ewigen“ keines­wegs ausschließe, sei das, so Baude­laire, was „die Moder­nität zu nennen man mir erlauben möge; da es nun einmal […] kein besseres Wort gibt für das, was mir vorschwebt“.

Charles Baude­laire, 1855, Foto: Félix Nadar; Quelle: wikipedia.org

Auch wenn Baude­laires Essay breit rezi­piert wurde, hat sich die von ihm lancierte moder­nité als Begriff wie gesagt noch hundert Jahre lang nicht durch­ge­setzt. Vor allem aber war er für ihn keine Epochen­be­zeich­nung, sondern die Kenn­zeich­nung einer Lebensart, eines bestimmten Stils, oder eben einer „Haltung“. An sie erin­nerte in durchaus pathe­ti­scher Weise Michel Foucault, als er, sich glei­cher­maßen auf Kant wie auf Baude­laire bezie­hend, 1984 schrieb: „Die Baudelaire’sche Moder­nität ist eine Übung, in der die äußerste Aufmerk­sam­keit für das Wirk­liche mit der Praxis einer Frei­heit konfron­tiert wird, die dieses Wirk­liche zugleich achtet und ihm Gewalt antut.“ Das heißt: diese (moderne) „Praxis der Frei­heit“ achtet zwar, prag­ma­tisch, das Wirk­liche als Realität, tut ihm aber inso­fern auch „Gewalt“ an, als das Subjekt sich selbst und die Welt verän­dern bzw. umge­stalten kann und will. Die Moder­nität, so Foucault, nötige den Menschen „zu der Aufgabe, sich selbst auszu­ar­beiten“; dies sei „eine Arbeit von uns selbst an uns selbst, inso­fern wir freie Wesen sind“.

Diese moderne Haltung, aus sich selbst und aus der „Welt“ etwas Neues zu schaffen, ist, folgt man Foucault, „aufklä­re­risch“. Sie entspricht dem, was Imma­nuel Kant „den Mut“ nannte, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“; sie geht von der „Frei­heit“ des Menschen aus und glaubt an die Möglich­keit, die Welt letzt­lich auch vernünftig einzu­richten. Auf diesen Ausgangs­punkt bezog sich auch Jürgen Habermas, der 1980 die „Moderne“ ein „unvoll­endetes Projekt“ nannte – unvoll­endet eben, weil die Welt noch immer nicht vernünftig einge­richtet ist. Für Habermas war die Moderne schon lange, bevor dieser Begriff aufkam, das Projekt und eigent­liche Programm der Aufklärung.

Die Radi­ka­lität der Moderne

Es gibt sicher gute Gründe, sich in dieser empha­ti­schen Weise auf die Aufklä­rung zu beziehen und die „Moderne“ in dieser Weise als eine Haltung zu bezeichnen, die wir uns selbst und der Welt gegen­über einnehmen, „inso­fern wir freie Menschen sind“. Allein, diese Frei­heit hat in ihrer etwas bana­leren, nicht-emphatischen Form zuerst bedeutet, dass sich seit dem 19. Jahr­hun­dert schritt­weise, keines­wegs konti­nu­ier­lich und nicht überall gleich­zeitig, aber dennoch in zuneh­mendem Maß die Verpflich­tung und Anbin­dung an „alles Stän­di­sche und Stehende“ gelo­ckert hat. Die Zirku­la­tion von Kapital, Gütern, Menschen, Spra­chen und Zeichen hat Gesell­schaften, Produk­ti­ons­weisen und „Kulturen“ aus ihren tradi­tio­nellen Veran­ke­rungen gelöst und Gewiss­heiten aufge­weicht. Zudem hat die Moderne, wie die Sozio­logen sagen, die „Fremd­re­fe­renzen“ Reli­gion und Natur gekappt: Gesell­schaft­liche Verhält­nisse können nicht länger reli­giös fundiert oder als „natür­liche“ begründet werden. In der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion hat sich in diesem Sinne die poli­ti­sche Macht als Reprä­sen­ta­tion des Willens „aller Bürger“ selbst konsti­tu­iert und wurde 1793 Louis XVI. öffent­lich hingerichtet.

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Moderne Gesell­schaften sind, so gesehen, ganz auf sich selbst gestellt, und sogar ihre Bindung an die „Vernunft“ musste in den Strudel dieser stän­digen Auflö­sungs­be­we­gung geraten. Niklas Luhmann formu­lierte die unlös­bare Wider­sprüch­lich­keit, in die die Moderne auf diese Weise gerät, eini­ger­maßen scharf (aber nicht nost­al­gisch oder gar reak­tionär): Die Moderne „kennt keine Posi­tionen, von denen aus die Gesell­schaft in der Gesell­schaft für andere verbind­lich beschrieben werden könnte“ – es gibt, mit anderen Worten, keinen Stand­punkt „außer­halb“, keine der Geschichte entho­bene „Vernunft“, von dem aus und mit der sich alle Aussagen gültig beur­teilen ließen. Luhmann folgert daraus: „Es geht daher nicht um Eman­zi­pa­tion zur Vernunft, sondern um Eman­zi­pa­tion von der Vernunft, und diese Eman­zi­pa­tion ist nicht anzu­streben, sondern bereits passiert. Wer immer sich für vernünftig hält und dies sagt, wird beob­achtet und dekonstruiert.“

Das ist der radi­kale Endpunkt der Moderne, und folgt man Luhmanns Beob­ach­tungen der Moderne aus dem Jahr 1992, ist es auch eini­ger­maßen uner­heb­lich, ob man das nun als „Post­mo­derne“ oder weiterhin als „Moderne“ bezeichnet. Eine, wie Habermas sagt, „substan­zi­elle“, eine aufklä­re­ri­sche Vernunft jeden­falls lässt sich mit ihr nicht mehr begründen.

Eine Moderne ohne Absicherungen

Auch wenn, ideal­ty­pisch gespro­chen, in der Moderne der König geköpft wurde und Gott tot ist, konnten auch die Gesell­schaften seither nicht ohne ein bestimmtes Maß an stabilen Struk­turen, Gewiss­heiten und Sinn stif­tenden Erzäh­lungen exis­tieren. Moderne Gesell­schaften vertrauten deshalb auf die Ratio­na­lität von Wissen­schaft und Technik; sie glaubten an den Wert des „Lebens“, sowie an die „Frei­heit“ bzw. die „Auto­nomie“ des Subjektes. Und schließ­lich versuchten sie, ihre Regie­rungs­form entspre­chend einzu­richten (Gegen­ten­denzen und „Ungleich­zei­tig­keiten“ immer mit eingeschlossen).

Diesen histo­ri­schen Prozess, der sich in verschie­denen west­li­chen Gesell­schaften beob­achten ließ, versuchte die soge­nannte „Moder­ni­sie­rungs­theorie“ im mitt­leren Drittel des 20. Jahr­hun­derts als unum­kehr­bare Trans­for­ma­tion von „tradi­tio­nalen“ Gesell­schaften in solche mit entfal­teter Markt­wirt­schaft, ratio­naler Büro­kratie, Demo­kratie und libe­ralem Rechts­staat zu beschreiben. Doch abge­sehen davon, dass dabei „Moder­ni­sie­rung“ am „Vorbild“ der USA gemessen wurde und inso­fern als eine gleichsam stra­te­gi­sche Veren­gung des Konzepts der Moderne auf einen Legi­ti­ma­ti­ons­dis­kurs des ameri­ka­ni­schen Gesell­schafts­mo­dells fungierte: Die dekon­struk­tive Bewe­gung der „Frei­heit“ in der Moderne und der Kritik von allem, was tradi­tio­nelle Geltung bean­spruchte, war nicht nur eine Einla­dung zum Gutsein. Die moderne Idee, die Welt ganz neu gestalten zu können und sich nicht länger in den Bahnen des geschicht­lich Vorge­fun­denen zu bewegen – und damit auch die moderne Idee der Revo­lu­tion –, erzeugte bekannt­lich auch mani­fest Unvernünftiges.

Ales­sandro Bruschetti, Sintesi Fascista, Perugia 1935; Quelle: guggenheim.org

„Modern“ zu sein, hieß im 20. Jh. zum Beispiel, einen mäch­tigen Staat zu errichten, der den „Neuen Menschen“ schaffen sollte, von dem Faschisten wie Kommu­nisten träumten. Nur als Moderner konnte man glauben, die klas­sen­lose Gesell­schaft ließe sich errichten, wenn man ihre „Feinde“ konse­quent vernichte. Und auch die Idee, die Gesell­schaft nach dem Prinzip der „reinen Rasse“ zu ordnen und all jene in den Tod zu stoßen, die als Bedro­hung eines als „ursprüng­lich“ fanta­sierten, de facto aber neu zu schaf­fenden „Volks­kör­pers“ markiert wurden, war genuin modern – auch wenn sie mit der aufklä­re­ri­schen Konzep­tion der Auto­nomie des Indi­vi­duums kolli­dierte. Wider­spruchs­frei war die Moderne nie.

Die Moderne war deshalb auch nicht frei von Mythen, die sie selbst schuf. Der Begriff des „Volkes“ als dem Legi­ti­ma­ti­ons­grund des Poli­ti­schen ist ein solcher Mythos, aber auch der Begriff der „Natur“, der in der Moderne auffal­lend oft viru­lent wurde, trotz ihrer grund­sätz­li­chen Eman­zi­pa­tion von jeder „Natür­lich­keit“. Denn die modernen Dekon­struk­ti­ons­be­we­gungen aller Wahrheits- und Vernunft­an­sprüche schien für Viele offen­sicht­lich nur den Schluss zuzu­lassen, dass in einer Welt ohne Absi­che­rungen ein neuer Boden allein in einem neu begrün­deten Begriff von „Natur“ zu finden sei. Das war gewis­ser­maßen nur konse­quent: Wenn alle meta­phy­si­schen Sinn­be­züge entfallen, bieten sich das „Leben“, die „Natur“ und der Körper als Groß­me­ta­phern an, um die Gesell­schaft zu ordnen. „Gesund­heit“ wird dann zum obersten Wert, und der Sex, wie Michel Foucault argu­men­tierte, zum Zentrum aller modernen Obses­sionen. Und es ist schließ­lich auch kein Zufall, dass die Vorstel­lung, von aller staat­li­chen Kontrolle befreite Markt­kräfte würden „natur­gemäß“ für das Wohl Aller sorgen, seit ihrem Aufkommen im späten 18. Jahr­hun­dert von „Natur“- und (Über-)Lebensmythen durch­zogen ist.

Kinder und Enkel der Moderne

Die „Haltung“, sich immer ans Neuste zu halten und sich selbst „auszu­ar­beiten“, gibt es heute noch – viel­leicht mehr denn je. Aber sie lässt sich nicht mehr mit dem empha­ti­schen Begriff einer Moderne in Verbin­dung bringen, die durch die Art und Weise, wie das Neue reali­siert werden sollte, ihre Unschuld längst verloren hat. „Neu sein“ ist zwar faszi­nie­rend, aber kein Wert an sich. Inso­fern stecken wir schon seit den 1970er Jahren, als man begann, rück­bli­ckend von „der Moderne“ zu spre­chen, in der Post­mo­derne – in einem diffusen Zustand nach der Moderne. Wir sind zwar alle­samt Kinder und Enkel der Moderne, aber ohne den Glauben, dass die Welt sich wie auf einem weißen Blatt Papier neu gestalten lasse. Und obwohl uns gerade eine tech­ni­sche Revo­lu­tion fort­reißt, die wir verstehen müssten, erleben gleich­zeitig die Mythen des Volkes, der Natur und des Marktes ein revival, das einen zwingt, den Glauben an die Aufklä­rung nicht aufzugeben.