Zu einer Stadtführung gehört stets der Besuch von Statuen einheimischer Helden. Doch es ist nichts los am 12. Oktober, dem Kolumbustag, am großen Colombo-Denkmal an der Piazza Acquaverde in Genua. Am Fuß des Monuments liegt nur ein ausgebleichter Kranz der Stadt, aus der Cristoforo Colombo, der berühmte Sohn Genuas, aufbrach, um die kürzeste Route nach Indien zu finden und Amerika (bekanntlich nicht als erster) „entdeckte“.

Das Kolumbus-Denkmal auf der Piazza Acquaverde in Genua; Quelle: wikipedia.org
Das 1863 eingeweihte Monument steht palmenumsäumt vor dem Bahnhof Principe, wo Pendler aus den nördlichen Vororten der Hafenstadt ankommen. Während der „Columbus Day“ in den USA 1892 auf Drängen namentlich von Italo-Amerikanern, die sich als katholische Immigranten verachtet fühlten, zum schulfreien Nationalfeiertag erklärt worden ist, laufen Einheimische hier meist achtlos an den zahlreichen Columbus-Monumenten und -Häusern vorbei.
Doch von einigen wird der Seefahrer wieder so frenetisch als Nationalheld gefeiert wie in der Ära der Bildung der italienischen Nation um 1860, vor allem von der italienischen Rechten: Lega-Chef Matteo Salvini und Giorgia Meloni von den neofaschistischen „Fratelli d’Italia“ erheben Colombo zum Symbol der italianità, auch wenn er gar kein Italiener war – es gab damals kein „Italien“ –, sondern ein Genovese im Auftrag der spanischen Krone, deren Expeditionen nach Amerika sich wesentlich dem Geld und der Navigationskunst dieser ligurischen Seemacht verdankten. Überhaupt scheint das Problembewusstsein in Italien gering zu sein: Während Kolumbus heute rund um den Globus als Erzkolonialist eingeschätzt wird, sind am Colombo-Monument keine Spuren einer Graffiti-Attacke oder dergleichen zu sehen. Kolumbus wird hier als christusgleicher Heilsbringer dargestellt, der den Gelehrten seiner Zeit die Welt erklärt und gutwilligen Heiden die christliche Zivilisation überbringt. Woher kommt diese antizyklische Retrofiktion in Italien?
Das Monument
Das von dem Bildhauer Lorenzo Bartolini entworfene Monument trägt auf der zur Straße weisenden Seite die vaterländische Widmung „A Cristoforo Colombo | La Patria“; am Sockel wurden 1892 zwei Bronzekränze angebracht, zwischen denen bei festlichen Gelegenheiten Blumengestecke niedergelegt wurden. Auf der rechten Seite ist die Inschrift MDCCCLXII DEDICATO IL MONUMENTO („Das Denkmal wurde 1862 gewidmet“) zu lesen, auf der Rückseite der Lobpreis DIVINATO UN MONDO/ LO AVVINSE DI PERENNI BENEFIZI ALL‘ ANTICO (sinngemäß: Kolumbus hat eine [neue] Welt entdeckt zum ewigen Nutzen der alten). Das Fundament verjüngt sich zu einem quadratischen Sockel, an dessen vier Enden sitzende Statuen die Kolumbus zugeschriebenen Tugenden der Frömmigkeit, Wissenschaft, Beständigkeit und Klugheit verkörpern. Auf den Seiten zeigen vier Reliefs markante Szenen aus Kolumbus‘ Leben, bei denen seine Person jeweils im Zentrum steht.

Kolumbus-Denkmal in Genua, Detailansicht; Quelle: ricognizioni.it
Darüber erhebt sich eine Säule mit einer Statue des aufrechtstehenden Kolumbus und einer indigenen Frau zu seinen Füßen. Kolumbus ist in einen spanischen Wappenrock und einen weiten Umhang gekleidet, die langen, fließenden Haare verleihen ihm einen jugendlichen Ausdruck. Die linke Hand stützt sich auf einen Anker, die rechte weist auf die Frau, in deren rechter Hand ein nicht mehr vorhandener Gegenstand steckte, vermutlich ein Kruzifix.
Es läge nahe, dieses Monument kritisch als geradezu idealtypische Manifestation der „zivilisatorischen Mission“ zu analysieren, die sich die Europäer seit dem 15. Jahrhundert gegeben und in der Ära des Hochimperialismus noch einmal gesteigert haben. Italien war, genau wie Deutschland, eine „verspätete Nation“, die eine stolze Selbstzuschreibung als Erbe des antiken Rom und Zentrum der (katholischen) Christenheit zu Ende des 19. Jahrhunderts auch in den Anspruch überführte, am Wettbewerb um koloniale Besitzungen teilzuhaben. Die Seerepubliken Genua und Venedig waren dazu willkommene Referenzen, entsprechende Expeditionen erfolgten nach 1880 in Richtung Ostafrika (Libyen, Äthiopien, Somalia). Der weltweit als großer Entdecker verehrte Kolumbus war die ideale Symbolfigur, die in einen nationalen und lokalen Rahmen gepresst wurde. Dieses Monument ist das größte unter wenigstens einem Dutzend weiterer Kolumbus-Statuen und -Reliefs im Stadtgebiet von Genua. Es ist seit seiner Eröffnung auf zahllosen Fotografien und Postkarten abgebildet und verbreitet worden, mit Vintage-Remakes, Fototapeten und dergleichen ist es bis heute in der populären Kultur präsent. Touristik-Plattformen nutzen die Statue zur Bewerbung von Hotels, Bars und Restaurants in der näheren und weiteren Umgebung, von denen ebenfalls viele den Namen des Kolumbus tragen. Die Wirkung des Kolumbus-Mythos in der italienischen Kultur scheint ungebrochen.
Verehrer und Dissidenten
Als ich mich am 12. Oktober 2020 in Genua aufhielt, gab es weder große Feierlichkeiten an dem seit 2004 auch in Italien offiziellen Kolumbustag noch Ausdruck von Protest. Nur einzelne Kolumbus-Freunde hatten kleinere Memorabilien ausgestellt; zum Beispiel waren das Gemälde des Seefahrers von Ridolfo del Ghirlandaio für einige Tage im Palazzo Nicolosio Lomellino ausgestellt und Besucher zum #selfieconColombo! eingeladen. In Savona reanimierte eine Handelskette den „Admiral Columbus“ als Zeichentrickfigur, um in den sozialen Medien für ihre Produkte zu werben.

Giovani Battista Carlone: »Colombo pianta la Croce nel Nuovo Mondo«, 1655; Quelle: cristoforocolombo.com
Im Schifffahrtsmuseum am renovierten Porto Antico lag das Original des „Buchs der Privilegien“ aus; in der Kapelle des Palazzo Ducale, dem Sitz des Dogen, hing wie seit Jahrzehnten schon das berühmte Wandgemälde »Colombo pianta la Croce nel Nuovo Mondo« von Giovani Battista Carlone von 1655, das die Landung von Kolumbus auf Guanahaní zeigt. Gemalt wurde es lange vor der Gründung der italienischen Nation, die sich den spanischschreibenden Entdecker der „Neuen Welt“ zum romantischen Helden erkoren hat und nun wieder neu als solchen belebt, auch in der Stadt, die als Ort blutig niedergeschlagener Proteste von Kritikern der kapitalistischen Globalisierung während des G8-Gipfels 2001 im kollektiven Gedächtnis geblieben ist. Dass der „Entdecker der neuen Welt“ in Columbus/Ohio von Polizisten geschützt werden muss, löste in Italien in Zeiten großer Verunsicherung eher Trotzrektionen aus; die Proteste und Attacken gegen Kolumbus-Statuen in den USA setzte Matteo Salvini gar mit Terrorattacken des Islamischen Staates gleich.
Zu berichten ist auf der anderen Seite von einer Zufallsbegegnung mit drei Studierenden von der naheliegenden Uni, die zu Füßen der Statue Panini verzehrten und sich über den umstrittenen Seefahrer unterhielten. Dabei lagen sie auf der postkolonialen Linie des Columbian Exchange im weiteren Sinne: Enrico lastete ihm an, er habe Sklaven auf seinen Schiffen mitgeführt, Krankheiten eingeschleppt und den Völkermord an den Indigenen in beiden Amerikas ausgelöst. Livia ergänzte, mit ihm habe der transatlantische Sklavenhandel begonnen. An Proteste, als rund um den Globus Kolumbus-Statuen gestürzt wurden, konnte sich Francesco nicht erinnern, und er hielt solche auch für unangebracht, weil man Kolumbus im historischen Kontext bewerten müsse und ein eventueller Denkmalssturz keine peinliche Vergangenheit aus dem Weg schaffen könne.

Quelle: twitter.com
Andernorts war genau ein solcher Ikonoklasmus inszeniert worden. Proteste der Black Lives Matter-Bewegung, die Monumente von Sklavenhaltern und der Confederacy attackierten, reanimierten den schon älteren antikolonialen Protest von Indigenen in beiden Amerikas. Der Statue im Bostoner Christopher Columbus Waterfront Park wurde im Frühsommer der Kopf abgeschlagen, in Richmond/Virginia wurde eine Statue im dortigen Byrd Park in einem Teich versenkt. Viele weitere Monumente stehen auf Listen, Kolumbus‘ Schriften sind in diversen US-Universitäten aus dem Lektürekanon entfernt worden, für rund ein Drittel der US-Amerikaner ist Umfragen zufolge der Amerikafahrer persona non grata. In der hispanischen Welt, wo der 12. Oktober einst zum „Día de la Raza“ (Tag der [neuen] Rasse), d.h. als Ausdruck einer hybriden Hispanidad erklärt worden war, ist man, angesichts der fortdauernden weißen Dominanz und unter dem Druck bolivarischer Neu-Interpretationen, zur Würdigung der Indigenen und der Anerkennung ihrer lange ignorierten Leidensgeschichte übergegangen und hat den 12. Oktober zum „Tag der Trauer“ erklärt.
Italienische Ausnahme
Wie kann man angesichts dieser Welle der Kritik an Kolumbus die gewissermaßen antizyklische Retrofiktion in Italien einordnen, die zwischen überwiegender Nichtbeachtung und Kolumbus-Verherrlichung durch die extreme Rechte schwankt? Nur diese glorifiziert Kolumbus noch unkritisch als Heilsbringer der christlich-abendländischen Zivilisation oder als Initiator einer durchgängig gelungenen Globalisierung, während die weit überwiegende Mehrheit der Italienerinnen und Italiener Kolumbus gleichgültig bis kritisch gegenüber steht. Die Kehrseiten der Globalisierung, geschweige denn der christlich-abendländischen Zivilisationsmission sind, so scheint es, seit Jahrzehnten hinlänglich bekannt; im Übrigen sind sie ja bereits von Zeitgenossen des Kolumbus kritisiert wurden.
Der Nationalismus der extremen Rechten rekurriert daher eher auf die aktuelle Malaise der italienischen Nation, die sich vom Rest Europas geringgeschätzt und im Stich gelassen fühlt, die als G8-Nation weit zurückgefallen ist und deren strukturelle Defizite zuletzt in der Pandemiekrise sichtbar geworden sind. Doch diese antizyklische Retrofiktion der extremen Rechten scheint nicht mehr wirklich zu überzeugen. Im Verlauf der Corona-Krise hat der aggressive und xenophobe Nationalismus in Italien überraschend Anhänger verloren; die Generalstimmung ist eher die trotzige Anstrengung, nicht in Resignation zu verfallen. Auch bei meinen Gesprächspartnern hatte ich bald das Gefühl, dass sie Wichtigeres zu besprechen hätten als die Bewertung eines Kolumbus.
Denkmalsturz und Debatte
Wie also soll man sich, auch über das italienische Beispiel hinaus, mit so umstrittenen Figuren wie Kolumbus und seinen Denkmälern auseinandersetzen? Die Debatte darüber ist in vollem Gange. Klar scheint zu sein, dass es zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit dem zeithistorischen Hintergrund des frühen Kolonialismus braucht, ebenso die kritische Reflexion der Umstände, Absichten und Zielsetzungen der in Nationalstaaten gestifteten Denkmäler. Zum anderen aber führt eine oftmals unterkomplexe und ahistorische Infragestellung und Dämonisierung der auf Denkmälern gefeierten Figuren nicht weiter. Weil zum Beispiel Kolumbus-Ikonen zu allen Zeiten ein Ausdruck selbstbezogener Narrative waren, um die „eigene“ Gemeinschaft zu stärken, ist man gegen die Einengung des Blicks nicht gefeit, wenn nun (ganz zu Recht) weniger solche Helden als vielmehr deren Opfer ins Zentrum der historischen Erinnerung gerückt werden und diese zum Ausgangspunkt einer postkolonialen Identitätspolitik erhoben werden.
Historische Monumente sind nicht sakrosankt, genau wie sie errichtet worden sind, können sie auch beseitigt werden, wobei solche politischen Akte vor allem aus der Perspektive nicht-weißer Menschen absolut nachvollziehbar und völlig legitim sind. Aber eine tiefergreifende und nachhaltige geschichtspolitische Revision kann nicht einseitig durch ein fait accompli gesetzt werden, wie es ein Denkmalsturz darstellt. Im Fall des Genueser Colombo erschiene es mir sinnvoll, dort gar nicht umstrittene Monumente zu kontextualisieren, um ihre Instrumentalisierung für jeweils recht gegenwärtige Zwecke überhaupt erst ins Bewusstsein zu heben. Und im Übrigen scheint mir auch klar zu sein, dass aktionistischer Ikonoklasmus nicht automatisch die verweigerte Anerkennung, Gleichstellung und Entschädigung von Gruppen und Personen erbringt, in deren Namen Akte politischer Hygiene vollzogen wurden. Dass sie oft eher flüchtige Ersatzhandlungen an Stelle eines strukturellen und nachhaltigen Wandels sind, kann man in Genua und an vielen anderen Orten Italiens besichtigen, an dessen Küsten Flüchtlinge abgewiesen, interniert und ausgewiesen und Helfer kriminalisiert werden.