Iryna Herasimovich: Die Leser:innen im deutschsprachigen Raum kennen dich vor allem als Autor des 2006 bei Suhrkamp erschienenen Buches „Minsk. Sonnenstadt der Träume“, in dem du den Raum Minsk auslegst und begehbar machst. Dein neuestes Buch „Acht Tage Revolution“, im Herbst 2021 ebenso bei Suhrkamp erschienen, sehe ich als Fortsetzung des Minsk-Buches. Wieder versuchst du, Belarus zu erklären, machst Mut, hinter die gängigen Bilder zu schauen…
Artur Klinaŭ: Die beiden Bücher sind schon durch den Handlungsort verbunden: Es ist Minsk, nur eben mit circa 15-20 Jahren zeitlicher Distanz. Aber auch durch den Zeitpunkt ihrer Entstehung: Das erste Buch ist nach dem ersten Versuch einer belarussischen Revolution 2006 entstanden und das neueste Buch ist eine Reaktion auf die Revolution 2020.
Iryna Herasimovich: Du bezeichnest diese Ereignisse als Revolutionen. Es wird viel diskutiert, ob diese Bezeichnung angemessen ist…
Artur Klinaŭ: Die Proteste nach den Wahlen 2006 und 2010 habe ich immer schon Revolutionen genannt, aber eher metaphorisch. 2020 ist es aber eine ganz klassische soziale Revolution.

Fotoprojekt: Minsk. Sonnenstadt der Träume: Die Schatten der Lenin-Straße, © Artur Klinaŭ
Iryna Herasimovich: Was macht dieses Ereignis zu einer klassischen sozialen Revolution?
Artur Klinaŭ: Die offensichtliche Krise des sozialen Systems. Ganz im Sinne des Revolutionsklassikers Lenin, laut dem es zu einer Revolution kommt, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können. Genau das erleben wir in Belarus: Das Machtsystem bremst die Entwicklung der Gesellschaft ab, es kann nicht mehr auf die alte Weise funktionieren. Andererseits will die Gesellschaft auch nicht mehr auf die alte Weise leben. Die Gesellschaft hat sich verändert, sie ist aus der bestehenden Ordnung herausgewachsen und fordert entsprechend Veränderungen im Staatssystem.
Iryna Herasimovich: So werden die Gesellschaft und das Staats- bzw. Machtsystem auch in deinem Buch dargestellt: als Gegenpole. Was gab dir Anstoß, die Arbeit an diesem Buch anzufangen?
Artur Klinaŭ: Das Gefühl der Katastrophe, von dem ich am 9. August und danach ergriffen war. Das größte Schreckensszenario war für mich die russische Annexion von Belarus. Dies ist ja eine bewährte Methode des Kremls: Die Destabilisierung der Machtsituation in einem Land zu benutzen, um auf irgendeine Weise einzugreifen. Man darf nicht vergessen, dass auch bei den Wahlen in Belarus die Rolle des Kremls nicht unerheblich war. Ich beobachtete, wie sich die Ereignisse vor und nach den Wahlen entwickelten und fühlte nicht im Geringsten, dass ich diese Situation irgendwie beeinflussen kann, ich fühlte mich ganz ohnmächtig. Was mir in dieser Ohnmacht übrig blieb, war nur als Schriftsteller festzuhalten, was aus meiner Sicht geschieht und wie es mir dabei geht. Ich wollte ein Chronist sein, auch wenn meine Chronik die einer Katastrophe sein wird. Ich wollte an Europa vermitteln, was passiert, dabei war mir ganz wichtig, mich dabei meiner ganz eigenen Optik zu bedienen. Nicht die blossen Tatsachen sollten in diese Chronik eingehen, sondern meine Wahrnehmung der Ereignisse.
Iryna Herasimovich: In dem Bild, das du dir von den Ereignissen machst, ist der Kreml ein wichtiger Player. Könntest du bitte genauer ausführen, wie dieses Kreml-Spiel verlief?

Fotoprojekt: Minsk. Sonnenstadt der Träume: Die Türme im Regen, © Artur Klinaŭ
Artur Klinaŭ: Noch in der Vorwahlzeit sah ich, dass viele von den „Wahlprojekten“, die ins Rennen kamen, ihren Ursprung in kremlnahen Kreisen haben. Dabei bestand ihre Aufgabe nicht darin, an die Macht zu kommen, sondern die Situation zu destabilisieren und die heutige belarussische Macht in die Ecke, das heißt in die alternativlose Abhängigkeit vom Kreml zu treiben. Das Szenario von 2010, nur radikaler. Nach einiger Zeit verstand ich allerdings, dass dies nur einer von den drei Faktoren der belarussischen Revolution war. Allein unter Einfluss des Kremls hätten die Ereignisse nie dieses Ausmaß erreicht. Das Zusammenkommen von drei Faktoren führte aber zu einer kumulativen Wirkung, zum großen Knall. Das ist das, was man als einen perfekten Sturm bezeichnen kann.
Iryna Herasimovich: Welches sind die beiden weiteren Faktoren neben dem Kreml-Einfluss?
Artur Klinaŭ: Der nächste wichtige Faktor war das Corona-Virus. Das Regime machte einen fatalen Fehler, indem es der Gesellschaft unmissverständlich zeigte, dass es sich um die Gesellschaft gar nicht schert. Alles, was die Regierung in der Corona-Situation machte, war falsch, machte den Eindruck von Hohn und Spott. Menschen, die früher keine Gedanken an einen Aufstand hegten, fühlten sich gekränkt, sie verstanden, dass die Regierung sich um sie nicht im Geringsten kümmert.
Iryna Herasimovich: Was auch früher der Fall war, aber eher im Verborgenen, wurde unübersehbar…
Artur Klinaŭ: Ganz genau. Was früher noch außerhalb des Aufmerksamkeitsfeldes bleiben konnte, stach unerbittlich ins Auge und bereitete den Boden für die große Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Die „Kreml-Projekte“ wirkten im Frühjahr wie Kerosin auf den von Funken durchzogenen Boden. Den dritten Faktor bildeten die Fehler der Macht: Statt nach Möglichkeiten zu suchen, die Spannung zu lockern, das Feuer zu löschen, blies sie dieses Feuer immer mehr auf und machte auch weiterhin unlogische, fatale, absurde Fehler, einen nach dem anderen. Der letzte Fehler in dieser Reihe war die Brutalität, die am Wahltag und in den ersten Tagen danach zutage trat. Was danach kam, war die Revolution der Würde, und die war nicht mehr zu halten, die konnte niemand mehr lenken, weder der Kreml noch die belarussische Macht.
Aber bei der Betrachtung jeder belarussischen Situation ist es wichtig, drei Player in die Analyse mit einzubeziehen: die Macht, die Gesellschaft und den Kreml.
Iryna Herasimovich: Sind sich viele dieser Rolle des Kremls bewusst?
Artur Klinaŭ: Auf jeden Fall die Vertreter der alten Opposition. Ihre Stimme war vor den Wahlen aber nicht wirklich hörbar, unter anderem weil die Medien vor allem der neuen Opposition den Raum gaben. Die neue Opposition hatte aber noch nicht die Erfahrungen, war sich vieler Gefahren nicht bewusst.
Iryna Herasimovich: Ich erinnere mich gut daran, wie skeptisch du vor den Wahlen warst. Und das vor dem Hintergrund der Euphorie, der gefühlten Einigkeit im Wunsch nach dem Wandel. Die Stimmen, die sich kritisch über die neue Opposition äußerten, wollten die meisten gar nicht wahrnehmen, nicht mal ganz praktische Fragen danach, wie genau denn der Wandel vollzogen werden kann…
Artur Klinaŭ: Ich hatte gar keine Euphorie, weil ich verstand, welches Ende das alles höchstwahrscheinlich nehmen wird. Die Euphorie umfasste den Teil der Gesellschaft, der nicht so viele bzw. keine Erfahrungen im politischen Leben in den vergangenen Jahren hatte. Dieser Teil der Gesellschaft hat die Herausforderung unterschätzt. Sie wollten sich auch nicht mit den Risiken der Situation, mit der Komplexität beschäftigen.

Fotoprojekt: Minsk. Sonnenstadt der Träume: Die Götter der Sonnenstadt: Bäuerin , © Artur Klinaŭ
Iryna Herasimovich: Wie würdest du die heutige Etappe beschreiben?
Artur Klinaŭ: Das ist eine typische Konterrevolution, wiederum eine ganz klassische Etappe jeder gescheiterten Revolution. Die belarussische Revolution war breit und für die Macht völlig unerwartet, deswegen ist auch die Konterrevolution entsprechend besonders hart und lang. Ohne den Kreml hätte weder die Revolution noch die Konterrevolution dieses Ausmaß erreicht. Und der ist gerade dieser sprichwörtliche Dritte, der sich freut, wenn die zwei sich streiten. Die Macht ist in die Hysterie verfallen, ist gar nicht imstande, den Schock von den Protesten zu verarbeiten. Die Gesellschaft ist in einer Depression, ist schwer traumatisiert. Eine Sackgasse: Keine der beiden Seiten hat gesiegt, keine hat genug Kraft, um zu siegen. Die belarussische Gesellschaft zu besiegen, ist unmöglich, weil der Wandel von einer absoluten Mehrheit, mindestens von zwei Dritteln unterstützt wird. Man kann die Stimme dieser Mehrheit unterdrücken, aber sie aus der Welt zu schaffen, das geht nicht. Diese friedliche Mehrheit hat aber auch keine Mittel, wie sie gegen die brutale Macht vorgehen könnte. Keine der beiden Seiten kennt den Ausweg, es ist eine Pattsituation.
Iryna Herasimovich: In dieser Situation hast du die Verantwortung auf dich genommen, ganz subjektiv von den Ereignissen zu berichten. An wen wendet sich dein Bericht?
Artur Klinaŭ: Vor allem an die europäischen Leser:innen. Die meisten Menschen in Belarus verstehen die Komplexität dieser Situation, anders die Menschen in Europa, für die Belarus ein fernes Land bleibt und sich aus ganz simplen schwarz-weißen Bildern zusammensetzt, die sehr schematisch sind und die komplexe Palette der Zusammenhänge und Entwicklungen nicht mal andeuten. Zu oft haben wir es im Fall Belarus mit rein journalistischen Floskeln zu tun, die in endlosen Schleifen wiederholt werden, wie „die letzte Diktatur Europas“, als es noch gar keine Diktatur war, sondern ein ganz gewöhnliches autoritäres Regime, von denen es viele im postsowjetischen Raum gibt.
Die Wahrheit ist aber immer komplex und passt nie in ein schwarz-weißes Raster. Die Nuancen aufzugreifen, die Komplexität darzustellen − dazu braucht es ernsthafte intellektuelle Bemühungen…
Iryna Herasimovich: Und auch Mut…
Artur Klinaŭ: Unbedingt auch Mut, wenn man es wagt, das Territorium der allgemein akzeptierten Wahrheit zu verlassen.
Iryna Herasimovich: In deinem Buch zerstörst du das schwarz-weiße Raster ja wörtlich, in dem du ganz viele Farbmetaphern benutzt, um die Situation zu beschreiben, wie „der gelbe Fluss“ oder „das braune Gemälde Stabilität“. Auch ist die Erzählstimme die eines Künstlers. Ist die Position des Künstlers eine, von der aus man eine nonkonforme Wahrheit aussprechen kann?
Artur Klinaŭ: Das ist seit eh und je schon so. Ein Narr durfte selbst dem König die Wahrheit ins Gesicht sagen, ohne seinen Kopf zu verlieren. Der heutige Künstler ist im gewissen Sinne der Narr von damals.
Iryna Herasimovich: Dein Buch heißt „Acht Tage Revolution“ und umfasst die Tage vom 9. August bis zum 16. August, an denen so vieles, was jahrzehntelang unter der Oberfläche schwelte, brodelte, schwoll, sichtbar wurde.
Artur Klinaŭ: Die Tage ergaben einen dramaturgischen Zirkel vom Blutvergießen am 9. August bis zum optimistischen Höhepunkt am 16. August. Ich beschreibe aber die Ereignisse nicht nur, sondern nutze sie als Anstoß, um auszulegen, wie ich das Land in den letzten Jahrzehnten erlebte, welche Entwicklungen zu diesen Ereignissen führten.
Iryna Herasimovich: Die Ereignisse wirken in deinem Buch viel mehr als ins Wasser geworfene Steinchen, von denen breitere Kreise der Reflexionen ausgehen…
Artur Klinaŭ: Genau das war meine Absicht: von den Ereignissen ausgehend in verschiedene Richtungen zu schauen, zum Beispiel, in die Entstehungsgeschichte eines Problems.
Iryna Herasimovich: Wenn du dich mit so einem Buch an den europäischen Leser wendest, erkenne ich da einen großen Wunsch, dass die Sicht von Europa auf Belarus sich verändert…
Artur Klinaŭ: Belarus bleibt in Europa ein unbekanntes Land, weil Europa nach wie vor mit einem verengten einseitigen Blick auf Belarus schaut, zu vieles gerät gar nicht ins Blickfeld. Ich möchte, dass Europa für sich Belarus endlich wirklich entdeckt, als einen komplizierten Raum, voll von Widersprüchen und Dramatik. Selbst den belarussischen Machthaber würde ich nicht nur eindeutig schwarz-weiß zeichnen, er ist auch eine widersprüchliche Figur…

Fotoprojekt: Minsk. Sonnenstadt der Träume: Niamiha unter dem Schnee, © Artur Klinaŭ
Iryna Herasimovich: Eine letzte Frage: Was kann Europa in der jetzigen Situation konkret tun?
Artur Klinaŭ: Das Erste und Offensichtliche: den Menschen helfen, die Belarus verlassen mussten, es sind sehr viele. Im Fall der Sanktionen wäre Vorsicht geboten. Wie die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, erreichen die Sanktionen meist ihren Zweck nicht. Und im Fall von Belarus vertiefen sie noch die Abhängigkeit vom Kreml. Man kann zwar mit Sanktionen auf eine Situation reagieren, aber wozu führt das? Europa reagierte auf die gezwungene Landung der Ryanair-Maschine mit Sanktionen, aber jetzt sind die Belarussen noch viel mehr von Europa abgeschnitten, sie müssen den Umweg über Istanbul oder Moskau nehmen, um nach Europa zu gelangen. Ob das für das Regime wirklich spürbar ist, bezweifle ich sehr.
Effizienter wäre, miteinander zu sprechen, mehr und mehr Leute aus dem System in ein Gespräch zu involvieren und das System dadurch zu fragmentieren, seinen Monolith nach und nach zu zerstören. Dasselbe gilt auch für die Menschen innerhalb des Landes. Wenn es einen Ausweg gibt, dann nur im Gespräch, auch wenn das schwer mit den eigenen Überzeugungen kompatibel ist, auch wenn man dafür wird eigene Berührungsängste überwinden muss. Die Erfahrungen aus allen bewaffneten Konflikten des letzten Jahrhunderts zeigen, wie zum Beispiel die Situation auf dem Balkan, dass die Hoffnung nur im Dialog liegen kann, wie fadenscheinig der am Anfang auch sein mag. Ich bin mir dessen bewusst, dass es auf beiden Seiten Menschen gibt, die gar nicht gesprächsbereit und nicht gesprächsfähig sind, aber es gibt auch andere, und die sollten sich aufeinander zubewegen.
Das wünsche ich auch von Europa: Dass es sich nicht in den immer gleichen Mustern verschließt, sondern bereit ist, Unterschiedliches, auch Widersprüchliches wahrzunehmen und neue Wege einzuschlagen.