Im Dezember letzten Jahres musste an der Universität Oxford eine Konferenz zum Thema Kolonialismus hinter verschlossenen Türen stattfinden. Zu gross erschien dem Veranstalter Nigel Biggar, Professor für Moral- und Pastoraltheologie, der auf seiner Website als Hobbies Kartenspielen und Pilgerfahrten zu Militärfriedhöfen angibt, die Gefahr einer Störung durch Aktivisten. Ziel der Konferenz, zu der nur eine Gruppe handverlesener Historiker, Ökonomen und Ethiker Zutritt hatte, war ein vorgeblich unvoreingenommener Rückblick auf den Kolonialismus anlässlich des umstrittenen Artikels „The Case for Colonialism“, den der amerikanische Politologe Bruce Gilley im Third World Quarterly im Jahr zuvor publiziert hatte. Leider ist der Artikel inzwischen von der Website des Journals entfernt worden, findet sich aber an anderer Stelle, sodass seine schlechte wissenschaftliche Qualität, seine haltlosen Behauptungen und ideologischen Kurzschlüsse leicht überprüft werden können. In Interviews stilisiert sich der Autor, Professor an der Portland State University, wenig überraschend als missverstanden und zu Unrecht angegriffen.
Der gute Kolonialismus
Gilley behauptet, dass die Kolonialzeit, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, die erfolgreichste Periode der kolonisierten Länder gewesen sei, etwa im Hinblick auf Lebenserwartung, Nahrungsmittelproduktion, Bevölkerungswachstum, Bildung, Einkommenssteigerungen, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Das lässt sich einerseits kaum überprüfen, denn die vorkolonialen Gesellschaften besassen keine statistischen Ämter, und ist andererseits blosser Zynismus: Da etwa die gewaltsame Unterwerfung des afrikanischen Kontinents mit ihren extrem brutalen Kriegen nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend abgeschlossen war, kann tatsächlich ein Zuwachs im Bereich Menschenrechte verzeichnet werden. Und selbst wenn sich eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion gegenüber der frühen Kolonialzeit feststellen liesse, ist damit noch nichts über die Gründe und Konsequenzen gesagt – fallen doch etwa Kakao- und Kaffeeplantagen und andere für den Export angelegte Monokulturen in diese Statistiken. Der Aufbau vieler Infrastrukturprojekte, etwa von Krankenhäusern, Staudämmen und Bildungseinrichtungen, fand zudem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg statt, also bereits in der beginnenden Dekolonisierungsphase.
Nun könnte man den Fall ad acta legen, wenn nicht die Frage nach den guten Seiten des Kolonialismus zunehmend ihren Widerhall in der Presse und der Politik fände. Vor nicht allzu langer Zeit etwa machte der Afrikabeauftragte der deutschen Bundesregierung, Günter Nooke, mit der flotten Einschätzung von sich reden, der Kalte Krieg habe Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit, und der Kolonialismus habe geholfen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen. Die Welt titelte „Gut und Böse: Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus“. Schon zehn Jahre vorher behauptete der Spiegel „Der Kolonialismus hatte auch gute Seiten“. Letztes Jahr mahnte auch die Die Zeit „Kolonialismus: Nicht nur Opfer der Geschichte“, und auch die NZZ wusste „Kolonialismus ist keine Schwarz-Weiss-Geschichte“.
Drei Verschiebungen
Der Anspruch, nun einmal ganz unvoreingenommen die Epoche des Kolonialismus zu betrachten, die guten und schlechten Seiten ‚unideologisch‘ gegeneinander abzuwiegen, gerät auf drei Ebenen in eine Schieflage.

Zwangsarbeiter reparieren eine Eisenbahnstrecke, Indonesien 1905; Quelle: cambridge.org
Zunächst die Ebene der Wertungen und des Vergleichs: Wie soll etwa der gute Eisenbahnbau gegen die schlechte Zwangsarbeit aufgewogen werden? Zumal selbst die so positiv hervorgehobenen Infrastrukturmassnahmen häufig auf Zwangsarbeit beruhten. Welches sind die Prämissen für den Vergleich? Ist eine an die wenig fruchtbaren Böden angepasste Landwirtschaft deshalb unterentwickelt, weil sie keine Exportüberschüsse produziert? Die zweite Ebene betrifft die Verwechslung von kolonialer Alltagspraxis mit der strukturellen Ebene der Kolonialherrschaft, also von individuellem Handeln und dem Herrschaftssystem insgesamt. Was ändert ein guter Kolonialbeamter am System, was soll menschliches Verhalten in einem Unrechtskontext über den Kontext aussagen? Die Argumentationsfigur benutzt auch der eingangs erwähnte Veranstalter der Konferenz, Nigal Biggar, wenn er zur Verteidigung des Kolonialpolitikers und Minenmagnaten Cecil Rhodes auf dessen gutes Verhältnis zu „ungebildeten Zulu“ und einzelnen Kolonisierten hinweist: „Not your stereotypical racist, then.“ Rhodes sei also kein stereotypischer Rassist gewesen, dabei ist es geradezu stereotyp, dass jeder Kolonialherr seinen Lieblingsafrikaner hatte. Und selbst wenn Rhodes kein Rassist gewesen wäre, was auf Grundlage seiner Schriften und seiner Politik zu bezweifeln ist, ändert das nichts daran, dass er sich als Angehöriger einer „überlegenen Rasse“ verstand, die soziale Frage Grossbritanniens durch imperiale Projekte lösen wollte, und ihre afrikanischen Gegner für Kinder hielt
Das dritte Problem bei der Aufrechnung der guten und der schlechten Seiten des Kolonialismus betrifft den besonderen Charakter dieser Herrschaftsform und ihre Konsequenzen. Denn der Kolonialismus brachte gerade keine „Modernisierung“ alter Verhältnisse, sondern herrschte auf der Grundlage einer ethnisch und tribalistisch basierten Politik, die er mit Hilfe erfundener Traditionen und einem vermeintlichen Gewohnheitsrecht absicherte. Es war gerade nicht die völlige Entrechtung der afrikanischen Bevölkerung das Problem, sondern die Art und Weise ihrer Integration in den Kolonialstaat. Der Historiker Mahmood Mamdani spricht in seiner Studie Citizen and Subject von einem „bifurkalen Staat“, der auf dem rassischen Ausschluss der Kolonisierten bei gleichzeitiger Inklusion auf ethnischer Basis funktionierte. Den „weissen“ citizens, für die als Individuen auch die von Gilley angesprochene Rechtsgleichheit galt, standen die kolonisierten subjects gegenüber, die nur als Kollektiv Rechte und politische Vertretungsansprüche gegenüber dem Kolonialstaat besassen und sich daher auch zwingend Kollektiven zuordnen mussten. Diese Erbschaft des Kolonialismus wiegt laut Mamdani bis heute schwer. Der Kolonialstaat war eben kein moderner Staat, der nach der Unabhängigkeit von Clans und korrupten Politikern ruiniert wurde, sondern eine spezifische Form des Despotismus, die individuelle Teilhabe, Emanzipation und demokratische Formen der Vergemeinschaftung verhinderte, und zu deren Herrschaftstechniken gerade die Förderung von mächtigen „Stammesoberhäuptern“ gehörte.
Die gute alte Zeit
Kolonialismus bedeutet also nicht „schlecht“, sondern bezeichnet eine historische Epoche und ein Herrschaftssystem, und daher kann auch der gern zitierte gute Beamte oder die gute Tat des barmherzigen Mediziners nichts „aufwiegen“. Hier liegt die bereits erwähnte Verwechslung von Struktur und Alltag vor – selbst wenn alle Kolonialbeamten und -militärs sehr nett gewesen wären, was sie nicht waren, ändert das nichts daran, dass die europäischen Mächte danach strebten, einen Kontinent unter sich aufzuteilen und den erwartbaren Widerstand in brutalster Weise mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung niederschlugen, der häufig eine Politik der verbrannten Erde folgte.
Warum erinnern sich dann heute offenbar so viele, in Zeitungsartikeln zitierte afrikanische Menschen positiv an die Kolonialherren? Auch hier liegt eine argumentative Verdrehung bzw. eine Verschiebung der Ebenen vor. Was ändert es an der Bewertung von Despotien oder Diktaturen, wenn einzelne Menschen gute Erfahrungen machen, wenn sie auf ein gelungenes Leben zurückblicken können und sich an glückliche Zeiten erinnern? Zudem tendieren ältere Menschen dazu, ihre Kindheit und Jugend in einem milden Licht zu sehen. Wer um 1950 geboren wurde, war zur Zeit der Dekolonisierung ein Teenager. Und wenn sich während des Erwachsenwerdens die Hoffnungen auf ein gutes Leben nicht erfüllen, erscheint die Vergangenheit noch goldener. Die mit O-Tönen garnierten Zeitungsartikel, in denen sich der alte Bauer oder die alte Fischerin die Engländer zurückwünschen, erscheinen ein wenig so, als müsse der Kolonialismus erst einmal gründlich erforscht werden, als müsse man sich erst einmal vor Ort einen Reim darauf machen, was denn eigentlich los ist mit Afrika und warum da alles schiefgeht. Da kommen dann Vorstellungen vorkolonialer Stammeskonflikte und einer grundsätzlichen Unfähigkeit zur Entwicklung zum Tragen, die eher Karl May als der modernen Afrika-Forschung geschuldet sind.
Die Völker ohne Geschichten
Die Vorstellung eines dynamischen Europas, das während der Kolonialzeit den Kontinent aus archaischen Strukturen befreite, um noch einmal Nooke zu zitieren, hat der Anthropologe Eric Wolf schon in den 1950er Jahren, also vor der Dekolonisierung Afrikas, kritisch analysiert. Seine umfangreiche Forschung mündete in sein Hauptwerk Die Völker ohne Geschichte von 1982. Er zeigt, dass Bauerngemeinden ebenso wie Einzelpersonen und Haushalte nicht statische „Tradition“ repräsentieren, sondern er verstand sie als Schnittstellen zwischen lokalen Verhältnissen und übergreifenden Zusammenhängen bis hin zum kapitalistischen Weltmarkt. Die zentrale Aussage lautet: „Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar“, gleichsam ein einziges komplexes Ökosystem, in dem wir im Verlauf der Geschichte „auf Schritt und Tritt auf … Zusammenhänge stoßen“. Wolf platziert unterschiedliche menschliche Gemeinschaften nicht auf einer Zeitachse aufeianderfolgender Entwicklungsstufen, sondern geht von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Gesellschaftsverhältnisse aus.
Insofern zwingt gerade die sogenannte Globalisierung dazu, den Blick von den Metropolen auf die Peripherie zu richten bzw. Geschichte zu de-zentrieren. Wolfe zeigt eine zunehmende Vernetzung der Welt seit 1400, zu der alle Kontinente wesentlich beitragen und bei der Europa nicht der einzige souveräne Akteur ist. Anstatt also auf ein vermeintliches Wissen über archaische Clan-Strukturen zurückzugreifen, könnte gefragt werden, was lehrt uns die Geschichte afrikanischer Königreiche und Stadtstaaten, was zeigen die afrikanischen Fernhandelsrouten, welche Formen vorkolonialer Landwirtschaft können heutige ökologische Probleme lösen helfen?
Europa rückt heute faktisch aus dem Zentrum der Weltwirtschaft und befindet sich mit der EU in einer inneren Krise, weil der europäische Einigungsprozess stillsteht oder sogar rückläufig ist. Hier mag der Gedanke an die koloniale Kraft Europas trösten, zumindest aber war der Kolonialismus eine Epoche, in der Europa sich bei aller nationalen Konkurrenz auch als gemeinsamer, weltgeschichtlicher Akteur definiert hat. Selbst die Anti-Sklavereibewegungen und sogar die nationalen Befreiungsbewegungen der kolonisierten Länder waren Teil dieses „Projektes“, sie bezogen sich, wenn auch kritisch, auf ein wie auch immer definiertes reales oder erträumtes Europa.
Die scheinbar objektive und unemotionale (vermeintlich unideologische) Rückschau auf den Kolonialismus ignoriert nicht nur fachwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden und ist ein Rückfall in den Kolonialrevisionismus, sondern ist auch deshalb traurig, weil sie gerade denjenigen Aspekt der europäischen Geschichte verteidigt, dessen Überwindung den Weg für eine gemeinsame Geschichte bereitet hat. Dass die afrikanischen Intellektuellen an europäischen und amerikanischen Universitäten studiert haben, sich in europäischen Metropolen trafen, bestätigt nicht „den Kolonialismus“, sondern ist Ausdruck seiner inneren Widersprüche, denen nachzugehen sich lohnt.
Die Kolonialnostalgie hängt vielleicht mit dem endgültigen Verlust der (post-)kolonialen Hegemonie in Afrika, mit der wirtschaftlichen und politischen Machtablösung durch China zusammen. Beispielhaft sind das China-Afrika-Forum und der letztjährige Besuch von Militärs aus 49 afrikanischen Staaten in Peking. Nun jedoch ausgerechnet die Kolonialzeit zu verklären, wenn es gilt, das europäische Projekt zu verteidigen, ist politisch ein Fehler.