Wenn Widerstand nicht als solcher anerkannt wird, um das etablierte Bild vom Nationalsozialismus nicht korrigieren zu müssen, läuft etwas schief in der historischen Forschung. Das ist der Fall, wenn es um die Proteste in der Rosentrasse geht.

  • Nathan Stoltzfus

    Nathan Stoltzfus ist Professor für Holocaust-Studies am History Department der Florida State University. Sein Buch "Resistance of the Heart: Intermarriage and the Rosenstrasse Protest in Nazi Germany" (1996) wurde mit dem Fraenkel-Preis für Zeitgeschichte ausgezeichnet.

Stellen Sie sich eine Gruppe russi­scher Frauen vor, die sich Tag für Tag in der Nähe des Roten Platzes versam­meln und die Rück­kehr ihrer Ehemänner und Söhne aus dem Krieg gegen die Ukraine fordern. Ausge­hend von diesem Szenario können wir uns den Geist der Rosen­strasse besser vorstellen: Das laut­starke Aufbe­gehren, mit dem nicht-jüdische Frauen Ende Februar, Anfang März 1943 eine Woche lang in der Rosen­strasse 2-4 vor der Tür des zum Gefängnis umfunk­tio­nierten Gebäudes der ehema­ligen Behörde für Wohl­fahrts­wesen und Jugend­für­sorge der Jüdi­schen Gemeinde Berlins protes­tierten und die Frei­las­sung ihrer jüdi­schen Ehemänner forderten.

Bis zum gegen­wärtig acht­zigsten Jahrestag dieses einzig­ar­tigen Protests haben die Deut­schen in der Bewäl­ti­gung der NS-Vergangenheit Fort­schritte gemacht, die man nur als vorbild­lich bezeichnen kann. Dennoch bleibt noch einiges zu tun: Deut­sche Jüdinnen und Juden über­lebten, weil ihre „arischen“ Partner:innen sich weigerten, sich von ihnen scheiden zu lassen – sie zu kennen, ihrer zu gedenken und sie zu ehren. Dies erfor­dert aber, dass wir unser Verständnis der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vergan­gen­heit überdenken.

„Misch­ehen“ als Überlebensnischen

Unser heutiges Bild der NS-Herrschaft wurde über Jahr­zehnte ausge­bildet, ohne dass man dazu diese bemer­kens­werte Geschichte und ihren Hinter­grund näher in Betracht gezogen hätte. Dieser Hinter­grund ist beacht­lich: Von Beginn des Hitler-Regimes an weigerte sich die über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Deut­schen, die in „Misch­ehen“ lebten, die Jüdinnen und Juden ihrer Familie im Stich zu lassen. Im Gegenzug machte das Regime eine Reihe von Zuge­ständ­nissen an Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“, so dass am Ende fast alle von ihnen nicht etwa im Verbor­genen, sondern offen in diesen „gemischten“ Ehen über­lebten. An der Seite ihrer Partner:innen brauchten diese Jüdinnen und Juden nicht unter­zu­tau­chen – sie erhielten sogar Lebens­mit­tel­marken. Mit anderen Worten, in dieser kleinen Nische der „gemischten“ Ehen lernte eine kleine Gruppe von Menschen täglich dem Druck des Regimes zu wider­stehen, während andere, die nicht durch ein jüdi­sches Fami­li­en­mit­glied dazu moti­viert wurden, sich – sei es mit Unbe­hagen, sei es mit Begeis­te­rung – Hitler und der von ihm domi­nierten Gesell­schaft anpassten.

An dieser kleinen Gruppe verhei­ra­teter Paare am Rande der Gesell­schaft lassen sich wich­tige Merk­male der NS-Herrschaft aufzeigen, die anderswo nicht so leicht erkennbar sind. Hier offen­bart sich ein stra­te­gisch vorge­hender Hitler, der zwar seine Ziele nie aus den Augen verlor, aber dennoch bereit war, vorüber­ge­hend Zuge­ständ­nisse zu machen, um schneller voran­zu­kommen. An den Anpas­sungen, die er für Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“ vornahm, lässt sich aufzeigen, wie wichtig es dem faschis­ti­schen Diktator war, den Schein zu wahren – sei es den Schein des schein­baren Konsenses einer breiten Unter­stüt­zung für den „Führer“,  sei es den des Fehlens von Wider­stand. Warum wartete das Regime mit der Depor­ta­tion von verhei­ra­teten Jüdinnen und Juden, also gerade jener verab­scheu­ungs­wür­digen „Krimi­nellen“, die sich der „Rassen­schande“ schuldig gemacht hatten, bis ihre arischen Partner:innen einwil­ligten, sie im Stich zu lassen? Warum machte man über­haupt Zuge­ständ­nisse an verhei­ra­tete Jüdinnen und Juden und liess nach dem Rosenstrassen-Protest auch noch Juden frei? Warum teilte Hitler die Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“ nach der bitteren Reichs­kris­tall­nacht in zwei Kate­go­rien ein, und warum machte seine Entschei­dung, die einen zu „privi­le­gieren“ und die anderen nicht, für die Über­le­bens­raten der einzelnen Gruppen kaum einen Unterschied?

Die Fragen sind nicht leicht zu beant­worten. Klar ist jeden­falls: Über seine eigene „Rasse“ herrschte Hitler nicht nur mit roher Gewalt und Charisma, sondern auch mit Anreizen und manchmal Kompro­missen, um seinen Ruf als gerechter „Führer“ aufrecht­zu­er­halten. Das Über­leben von Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“ stellt daher vor allem die verbrei­tete Vorstel­lung eines Regimes in Frage, das im Takt der Ideo­logie marschierte und alles, was sich ihm entge­gen­stellte, wie Unge­ziefer zerquetschte.

Geschichts­wis­sen­schaft­li­cher Dissens

Historiker:innen, die Nicht­juden in Misch­ehen als Retter:innen ihrer Partner:innen verstanden, ernteten nicht immer nur Wider­spruch. Ausge­hend von den Quellen kamen die ange­se­hensten Histo­riker der Nach­kriegs­zeit zu dem Schluss, man müsste, um die Ereig­nisse zu verstehen, die Proteste in der Rosen­strasse als Akt der Rettung betrachten. Hier­über waren sie sich einig, darunter deut­sche Histo­riker wie Wolf­gang Scheffler (1960) und Wolf­gang Wipperman (1982). 1988 hingegen schrieb der Histo­riker Wolf­gang Benz, dass Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“ im Unter­grund über­lebt haben. Einer seiner Studie­renden argu­men­tierte, die Gestapo habe während des Rosenstrassen-Protests keinen einzigen „Misch­lings­juden“ depor­tieren wollen – gegen­tei­lige Ansichten seien Erfin­dungen der Nach­kriegs­zeit. Benz schrieb daraufhin in der Süddeut­schen Zeitung, sein Student habe entgegen früherer Studien „die wirk­liche Geschichte der Rosen­straße rekon­stru­iert“. Er verkün­dete, der Spiegel habe diese neue Wahr­heit akzep­tiert, die seine (eigent­lich) diffe­ren­zier­tere und über­zeu­gen­dere Inter­pre­ta­tion des Rosenstrassen-Protests von 1993 ins Gegen­teil verkehrte. Offenbar war es wichtig, die öffent­liche Meinung zu beein­flussen und es wurde schnell klar, dass von Seiten der Vertreter dieser neuen Lesart der Ereig­nisse kein Inter­esse an weiteren wissen­schaft­li­chen Debatten bestand.

Die Belege für diese Neuin­ter­pre­ta­tion waren jedoch denkbar dünn. Doku­mente, die die Selek­tion von Arbei­tern aus dem behelfs­mäs­sigen Gefängnis an der Rosen­strasse belegen, werden als „Plan“ gehan­delt, der einen wirkungs­vollen Protest von vorn­herein verun­mög­licht hätte. Dabei exis­tieren Hinweise darauf, dass die Auswahl dieser Arbeiter als Reak­tion auf den Protest impro­vi­siert wurde. Doch die Verfechter der neuen Posi­tion beriefen sich auf einen Erlass aus Frank­furt (Oder), der angeb­lich beweisen sollte, dass die in der Rosen­strasse gefan­genen Juden nur regis­triert werden sollten. Allein, das ist wenig über­zeu­gend: Kein Teil der Bevöl­ke­rung wurde so akri­bisch regis­triert wie die Juden. Man denke nur an die zahl­rei­chen Erfas­sungen, die durch­ge­führt wurden, bevor die Gestapo am 27. Februar 1943 im Hinblick auf die „Entju­dung des Reichs­ge­bietes “ mit den Verhaf­tungen begann. Im Zuge dieser dann nach dem Krieg „Fabrik­ak­tion“ genannten Verhaf­tungs­welle wurde jeder aufge­griffen, der den gelben Stern trug, sei es auf der Strasse, zu Hause oder am Arbeits­platz, darunter auch Juden aus „nicht­pri­vi­le­gierten Mischehen“.

Das revi­sio­nis­ti­sche Argu­ment beruft sich auf ein Wort („Erfas­sung“) in dem Erlass aus Frank­furt (Oder) vom 25. Februar 1943. Im Jahr 1999 schrieb Beate Meyer, dieser Erlass habe fest­ge­legt, dass Juden aus „Misch­ehen“ „nur [zur] Regis­trie­rung“ in der Berliner Rosen­strasse inhaf­tiert worden seien. Noch 2018 bestritt der Spiegel den Einfluss des Protests in Berlin mit dem Argu­ment, der Erlass habe nicht die Abschie­bung, der Erlass habe für die Juden aus „Misch­ehen“ nicht die Abschie­bung, sondern nur die „Entfer­nung aus den Betrieben vorge­sehen, um sie zu ‘erfassen’“.

Den Schein wahren

Unge­achtet dessen, wie „Erfas­sung“ hier verstanden werden kann, zeigt dieser Erlass, wie die Berliner Zentrale die Gestapo-Beamten im ganzen Reich damit beauf­tragte, ihre Befehle an die Gege­ben­heiten vor Ort anzu­passen. Die Anwei­sungen zur Depor­ta­tion der deut­schen Jüdinnen und Juden waren mit Euphe­mismen und Lügen gespickt und erlaubten es den örtli­chen Beamten, den Umständen entspre­chend zu impro­vi­sieren – insbe­son­dere, wenn es sich um die letzten deut­schen Juden handelte. So rich­tete sich der Erlass aus Frank­furt (Oder) gegen alle Jüdinnen und Juden, die noch in den Fabriken arbei­teten, und nicht nur gegen jene aus „Misch­ehen“. Und selbst wenn es 1943 in den Frank­furter Fabriken keine Juden mehr gegeben haben sollte, die nicht in „Misch­ehen“ lebten, so arbei­teten in den Berliner Fabriken immer noch mehrere Tausend von ihnen.

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Anfang März 1943 erwar­teten die Fabriken in Ausch­witz zudem eine bestimmte Anzahl jüdi­scher Arbeiter aus Berlin, welche ohne die Juden aus „Misch­ehen“ nicht hätte erreicht werden können. Der Erlass aus Frank­furt (Oder) spie­gelt mithin das reichs­weite Bestreben wider, in „Misch­ehen“ lebende deut­sche Jüdinnen und Juden zu depor­tieren, ohne Ausschrei­tungen zu provo­zieren. Sie sollten in Konzen­tra­ti­ons­lager depor­tiert werden, falls sie sich „frech“ verhielten – aber nur, wenn dies „unauf­fällig“ geschehen konnte, um sowohl „störende Menschen­mengen“ als auch den „Eindruck“ zu vermeiden, dass alle mit Arier:innen verhei­ra­teten Jüdinnen und Juden verhaftet würden. Die faschis­ti­sche Regie­rung wollte den Schein um jeden Preis wahren.

Noch wich­tiger ist jedoch, dass dieser Befehl aus dem Hinter­land – eben Frank­furt (Oder) – für Berlin nicht bindend war. Reichs­mi­nister Joseph Goeb­bels war der Gauleiter von Berlin, und er erhielt die Anwei­sungen bezüg­lich der Berliner Juden direkt von Hitler. Goeb­bels dachte daher offen über seine Entschei­dung nach, verhei­ra­tete Juden frei­zu­lassen, weil es zu „unlieb­samen Szenen“ kam, wenn sich Menschen auf der Strasse versam­melten, um für die Juden einzu­treten. In einer Passage, die von denje­nigen abgetan wird, die Goeb­bels nur dann und zudem selektiv zitieren, wenn es ihnen passt, wettert er gegen die Beamten, die blind Befehle ausführten, ohne die sich verän­dernden Umstände zu berücksichtigen:

Es haben sich da leider etwas unlieb­same Szenen vor einem jüdi­schen Alters­heim abge­spielt, wo die Bevöl­ke­rung sich in größerer Menge ansam­melte und zum Teil sogar für die Juden etwas Partei ergriff. Ich gebe dem SD Auftrag, die Juden­eva­ku­ie­rung nicht ausge­rechnet in einer so kriti­schen Zeit fort­zu­setzen. Wir wollen uns das lieber noch einige Wochen aufsparen; dann können wir es umso gründ­li­cher durch­führen. Man muß überall eingreifen, um Schäden zu verhüten. Gewisse Stellen sind in ihren Maßnahmen poli­tisch so unklug, daß man sie nicht zehn Minuten allein laufen lassen kann. Das Grund­übel unserer Führung und vor allem unserer Verwal­tung besteht darin, daß alles nach Schema F gemacht wird. Man hat manchmal den Eindruck, daß die Leute, die diese oder jene Maßnahme durch­führen, über­haupt nicht persön­lich darüber nach­dächten, sondern sich nur an ein geschrie­benes Wort anklam­mern, bei dem sie den Haupt­wert darauf legen, daß sie nach oben gedeckt wird.

Flexible Macht­aus­übung

Historiker:innen, die die Wirk­sam­keit des Protests in der Rosen­strasse nicht aner­kennen möchten, betrachten das NS-Regime als starr und unfähig, zur Wahrung seines Images zu impro­vi­sieren. Doch das tat es damals, und dies aus ähnli­chen Gründen wie 1935, als Hitler die „Misch­linge“ in zwei Kate­go­rien einteilen liess, oder 1938, als auch die verhei­ra­teten Juden in zwei Kate­go­rien einge­teilt wurden. Die Rassen­ideo­logie war an sich klar: Jeder Tropfen jüdi­schen Blutes musste ausge­merzt werden. Allein, Jüdinnen und Juden mit „arischen“ Fami­li­en­mit­glie­dern verwischten die sonst deut­li­chen Grenzen der Verfol­gung zwischen Juden und Nicht­juden. Ihre Kinder brachten die Büro­kraten offenbar zum „Nach­denken“: Einige vertraten die Meinung, der kost­bare „arische“ Anteil ihres Blutes müsse gerettet werden, während andere befanden, diese Mischung sei die schlimmste aller „Erschei­nungen“. Bei der Auftei­lung der „Misch­ehen“ versuchte Hitler, vorsichtig vorzu­gehen, Schritt für Schritt, eine Gruppe nach der anderen. Die „psycho­lo­gi­sche“ Kluft zwischen öffent­li­cher Meinung und Politik sollte durch Hitlers Image als gerechtem Führer über­brückt werden. Hitler stützte seine Macht zwar in dem Masse auf Terror, wie er diesen für die wirk­samste Taktik hielt; mit Blick und in Rück­sicht auf das „Volk“ jedoch war ihm die Bedeu­tung von über­lie­ferten Normen, Werten und Gesetzen durchaus bewusst.

Daher ist die inner­halb des Reichs von Region zu Region vari­ie­rende Behand­lung der Jüdinnen und Juden in „Misch­ehen“ wohl darauf zurück­zu­führen, dass eben keine starre Struktur exis­tierte, die Befehle von oben ausführte. Lieber impro­vi­sierte man an Ort und Stelle den Umständen entspre­chende Lösungen, als unter unvor­her­seh­baren Gege­ben­heiten strikt an einem Plan fest­zu­halten. Das geschah auch in der Rosen­strasse: Die Proteste der nicht-jüdischen Frauen verei­telten die an sich geplante Depor­ta­tion der Berliner Juden in Gruppen von 2.000 Personen, die Goeb­bels am 18. Februar 1943 beschlossen hatte, um die Reichs­haupt­stadt bis Ende März „juden­frei“ zu machen.

Dass aller­dings so wenige Belege für den Protest über­lie­fert sind, ist zum Teil auf die Bemü­hungen der Nazis zurück­zu­führen, ihr Image zu kontrol­lieren. Über­dies sollten Formu­lie­rungen der offi­zi­ellen Depor­ta­ti­ons­be­fehle dazu verleiten, der offi­zi­ellen Behaup­tung zu glauben, die Juden würden ,nur‘ in Arbeits­lager geschickt.

Historiker:innen, die in Gestapo-Befehlen nach endgül­tigen Belegen suchen, welche dann dazu verwendet werden, die Debatte zu beenden, verstehen das Regime als zuver­lässig funk­tio­nie­rendes System und gehen davon aus, dass Berlin allen Gestapo-Stellen denselben Befehl erteilte, der dann punkt­genau ausge­führt wurde. Unge­achtet der riva­li­sie­renden Macht­zen­tren und Akteure wird das Regime dabei als Mono­lith darge­stellt, das heisst als eine geschlos­sene Front koope­rie­render, um Hitler versam­melter Satrapen, die stets mit Terror operierten.

Geleug­nete Augenzeugenberichte

Bedau­er­li­cher­weise führt der Fakt, dass die Orga­ni­sa­tion des NS-Regimes als uner­schüt­ter­lich ange­sehen wird, dazu, dass Augen­zeu­gen­be­richte, die den Rosenstrassen-Protest als wirksam bezeichnen, geleugnet werden. Diese Berichte werden einer nach dem andern – wenn auch nie als Ganzes, im Verhältnis zuein­ander oder im Verhältnis zu anderen Quellen – schlicht unter den Tisch gekehrt, um den Demons­tran­tinnen jegliche Hand­lungs­macht abzu­spre­chen. Details aus ihren Augen­zeu­gen­be­richten über den Protest werden als unplau­sibel abgetan, so z.B. Drohungen bewaff­neter Wachen, die Strassen räumen zu lassen oder die Demons­tran­tinnen zu erschiessen; diese in „Misch­ehen“ lebenden Nicht­jü­dinnen, die in dieser schreck­li­chen Zeit durch ihr Handeln ihre Inte­grität bewiesen, werden als über­heb­liche Besser­wisser verun­glimpft, und dies nur, weil ein Gestapo-Dokument angeb­lich die Wahr­heit verkündet. Einfach igno­riert oder als wenig glaub­würdig abgetan werden auch Beweise wie jener ameri­ka­ni­sche Geheim­dienst­be­richt aus einer „vertrau­ens­wür­digen“ Quelle vom März 1943, wonach „das Vorgehen der Gestapo gegen jüdi­sche Ehefrauen und Ehemänner […] wegen der Proteste, die solche Aktionen hervor­riefen, einge­stellt werden musste“.

Erschre­ckend ist auch, dass Gestapo-Ergüsse verwendet werden, um die jahr­zehn­te­lange gewis­sen­hafte Arbeit jener Historiker:innen zu diskre­di­tieren und zu verwerfen, welche befanden, dass es am plau­si­belsten und vernünf­tigsten sei, den Protest als wirksam anzu­er­kennen. Schluss­fol­ge­rungen von hoch­ka­rä­tigen Historiker:innen aus West- und Ostdeutsch­land, aus dem Verei­nigten König­reich und den USA, darunter Helmut Esch­wege, H.G. Adler, Raul Hilberg und Sybil Milton, werden schlichtweg bestritten. Dabei berufen diese sich nicht bloss auf ein einzelnes Doku­ment, sondern urteilen ausge­hend von ihrem Wissen darum, wie das Regime unter ähnli­chen Umständen Entschei­dungen traf. Es ist daher kaum anzu­nehmen, dass sie einfach auf Grund einer erneuten Forde­rung nach einem Schluss­strich ihre Meinung ändern würden oder sich auf die Suche nach unwi­der­leg­baren Belegen in Gestapo-Akten machen würden. Und dennoch folgte auf den Ruf nach einer smoking gun, die alle Fragen zu den Auswir­kungen des Protests zum Verstummen bringen sollte, von Seiten einer geeinten Front aus offi­zi­ellen Gedenk­stätten und Historiker:innen, von denen viele viel­leicht einfach nur unbe­hel­ligt weiter­ar­beiten wollten, schlicht die Weige­rung, die Debatte fortzuführen.

Gegen den Strom schwimmen

An Hand eines einzelnen Doku­ments lassen sich keine Aussagen über den Rosenstrassen-Protest treffen, ebenso wenig, wie man auf diese Weise Hitlers Verant­wort­lich­keit für den Holo­caust belegen kann. Was auf dem Spiel steht, ist die Arbeits­weise profes­sio­neller Historiker:innen. Da wir nicht sicher sein könnten, was passiert sei, müssten wir uns auf den Konsens verlassen, dass die Rosen­strasse keinerlei Auswir­kungen hatte, schrieb vor Kurzem ein Histo­riker. Doch Historiker:innen müssen oft gegen den Strom schwimmen und sollten, wenn sie ihren Berufs­stand erhalten wollen, ihre eigenen Methoden anwenden.

Zudem sollte sich die Gesell­schaft ein Beispiel an jenen uner­schro­ckenen deut­schen Frauen nehmen, die gezeigt haben, dass Juden nur retten konnte, wer gegen die Norm verstiess und sein eigenes Leben aufs Spiel setzte. Die „Tyrannei der öffent­li­chen Meinung“, schrieb John Stuart Mill, „macht aus Exzen­tri­zität einen Vorwurf [… . Doch] das Ausmaß der Exzen­tri­zität in einer Gesell­schaft [war] im Allge­meinen propor­tional zu dem Ausmaß an Genia­lität, geis­tiger Kraft und mora­li­schem Mut […], das sie enthielt“.

Über­set­zung aus dem Ameri­ka­ni­schen: Anne Krier und Philipp Sarasin