Man muss nicht Verfassungspatriotin sein, um festzustellen, dass man eine Integrationsdebatte nicht mit einer ethnisierten Vorstellung von Kultur führen kann. Wenn man z.B. Integration ausschließlich kulturell denkt, dann kann es passieren, dass man, wie gerade die Schweizer Boulevardzeitung Blick, einen Integrationsvertrag für AusländerInnen entwirft, der die Einhaltung der Bundesverfassung mit der angeblich gesamtschweizerischen „Norm“, sich bei der Begrüßung die Hände zu schütteln, auf eine Stufe stellt. So schrieb der Blick: „Man reicht einander bei der Begrüßung und zum Abschied die Hand“. Ganz ähnlich liest sich auch Thomas de Maizières deutscher Leitkulturkatalog. Auch dort werden bunt „Sitten“ oder „Rituale“ mit vereinfachten Sätzen aus dem Grundgesetz vermengt. „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“. Blick und de Maizière interpretieren so die demokratischen Grundlagen von Bundesverfassung oder Grundgesetz als Schweizer oder deutsche Kultur und ethnisieren damit das politische System.

Politik oder Kultur? Der fehlende Handschlag. Quelle: spiegel.de
Würde die Debatte um Integration politisch geführt, dann richtete sie sich automatisch an alle Bürger, die die Regeln der Demokratie und die Gesetze des Rechtsstaates nicht einhalten, die andere beispielsweise wegen ihres Geschlechtes, ihrer ‚Rasse‘, ihrer Religion usw. diskriminieren oder benachteiligen. Wenn – politisch gedacht – jemand einen „Integrationsvertrag“ benötigt, dann sind das z.B. Rassisten – unabhängig von ihrer Nationalität.
Die Entwürfe von Blick und de Maizière sind von allen Seiten verspottet, kritisiert und parodiert worden. Jürgen Habermas meldete sich mit Bemerkungen zum Verfassungspatriotismus, über den schon in den 80er Jahren – aus anderen Gründen (Teilung Deutschlands) – diskutiert wurde. Jacob Augstein fand genau das peinlich und falsch, denn das Grundgesetz habe in Deutschland nicht verhindert, dass bis 1997 Vergewaltigung in der Ehe laut Strafgesetzbuch nicht strafbar war, bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe gestellt wurden. Recht hat er.
Aber muss Augstein aus seiner Kritik an der Umsetzung der Verfassung unbedingt den Schluss ziehen, dass die Verfassung als Leitkultur nichts taugt? Er hätte ja auch die Umsetzung der Verfassung in der demokratischen Realität fordern können, so wie es jahrelang die Bürgerrechtsbewegungen Osteuropas zur Zeit der Parteidiktaturen gemacht haben. Und muss man – Habermas folgend – den Kulturbegriff gleich ganz ad acta legen, weil das Grundgesetz bereits genau das sei, was eine „allen zumutbare“ politische Kultur, eine Willens-Kultur, ausmacht? Wenn man diesen Vereinfachungen folgt, übersieht man, dass die Debatte an vielen Punkten schief läuft. Besonders explosiv wird es, wenn ein ethnisiertes Verständnis von Kultur zu einer Kulturalisierung des Politischen führt.
Kulturalisierung des Politischen
Dass die Kulturalisierung des Politischen immer stärker voranschreitet, besonders in den Integrationsdebatten, ist politisch gewollt. Zum Beispiel dann, wenn politische Parteien oder Regierungen versuchen, „Leitkultur“ in das Grundgesetz hineinzuschreiben. Ein typisches Beispiel dafür ist die Schweiz, in der das politische System durch Volksinitiativen – anders als etwa in Deutschland – einen unmittelbaren Zugang von Politikern und Bürgern zur Verfassung ermöglicht. Wie der Staatsrechtler Oliver Diggelmann vor kurzem auf dieser Plattform darlegte, ist die Verfassung in der Schweiz „nicht einfach nur der Politikrahmen“, sondern sie ist „zum Instrument der Alltagspolitik“ geworden. In die Schweizer Bundesverfassung wird auch vermeintlich ‚Leitkulturelles‘ hineingeschrieben, etwa 1908, dass in der Schweiz Absinth verboten sei, oder 2009, dass keine Minarette gebaut werden dürfen. Ähnliches gilt für die Idee, das Burkaverbot oder Verhüllungsverbot durch Volksentscheid zu fordern.
In anderen Ländern – Ungarn oder Russland – wird durch Verfassungsänderungen oder Gesetze dafür gesorgt, dass Kritik an der Politik als Kritik an der Kultur wahrgenommen wird. Orbáns Regierung hat z.B. die Meinungsfreiheit zum Schutze der „Würde der ungarischen Nation“ eingeschränkt. Die russische Regierung hat durch ein Gesetz ermöglicht, dass alle, die das politische System kritisieren, als russophob verurteilt werden können. Der Staatspropagandasender Sputniknews hat sogar eine Seite gegen Russophobie eingerichtet.
Kritik am autoritären politischen System bzw. an einer politischen autoritären Strategie wird so als Kritik an einer Kultur verstanden, mit dem Ziel, die politische Opposition ebenfalls als Feind der ‚eigenen‘ Kultur diffamieren und verfolgen zu können.

Politik oder Kultur? Dmitrij Wrubel, Kuss zwischen Breschnew und Honecker (1990), Berliner Mauer, Quelle: wikipedia
Dass es dabei allerdings um den Unterschied von Demokratie und Autokratie geht, wird durch das Kulturparadigma bewusst unsichtbar gemacht. Wie erfolgreich diese rhetorische Strategie ist, zeigt auch das Ergebnis der türkischen Wahlen in Deutschland. Dass 63% der Deutsch-Türken in Deutschland für ein Präsidialsystem gestimmt haben, das die Autokratie noch weiter verschärfen kann, ist schockierend. Man kann es aber mit der erfolgreichen Kulturalisierung des Politischen durchaus erklären. Denn Erdoğan hat es wie kein anderer geschafft, ‚sein‘ politisches System als ‚Kultur‘, als das ‚Türkische‘ zu verkaufen, während der Westen und mit ihm das politische System der Demokratie als feindliche Kultur verachtet werden. Wer also nicht für die Diktatur bzw. für Erdoğan ist, ist gegen die türkische Kultur, Diktatur hin oder her, und Diktatur wird dabei als das kleinere Übel in Kauf genommen.
Postethnizität der Kultur?
Dass Politik gerade von zeitgenössischen Autokraten und populistisch-nationalistischen Parteien ‚kulturalisiert‘ wird, ist kein Zufall. Sie verwenden allesamt eine Vorstellung von Kultur, die durch und durch ethnisch bestimmt ist. Die ethnische Definition von Kultur ermöglicht geradezu die Kulturalisierung des Politischen.
Zwar gibt es in den Kulturwissenschaften inzwischen vielfach Debatten um einen postethnischen Begriff von Kultur, dieser dringt aber – gerade in der Leitkulturdebatte – nicht bis zu deren Wortführern durch. Und dazu haben auch die Kulturwissenschaften mit ihren Begriffsvorlagen wie dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘, der Multi-, Inter-, Trans- oder Plurikulturalität ordentlich beigetragen. Die Begriffe wurden entwickelt, um multiethnische Kulturen, u.a. zunächst in den USA, adäquat beschreiben zu können. Sie wurden entwickelt, um die realen Effekte der Produktion von kulturellen Unterschieden zu untersuchen, nicht um überall ‚kulturelle‘ Unterschiede zu finden. Passiert Letzteres wird ein ethnisch bestimmter Begriff von Kultur zementiert, da Hybridität oder Transkulturalität nicht gleichzeitig auf politische oder soziale Unterschiede, die Gesellschaften ebenso prägen, angewendet werden. Selbst von einem Konzept wie dem der Hybridität, das Michail Bachtin einst ‚politisch‘ dachte, um zu zeigen, dass jede Kultur von Beginn an hybrid und dialogisch ist, oder das Homi Bhaba als Widerstandsmöglichkeit gegen die koloniale Herrschaft verstand, ist in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem die ‚ethnische‘ Durchmischung übriggeblieben.
Postethnische Denker versuchen nun seit geraumer Zeit, multiethnische Kulturen anders zu lesen. So schreibt der Journalist Mark Terkessidis 2010 in seinem Buch Interkultur, in dem er sich wiederum auf das schon 2005 erschienene Buch des US-amerikanischen Historikers David Holliger Postethnic America: Beyond Multiculturalism bezieht, explizit nicht von Interkulturalität oder Interkulturen, sondern von Interkultur – im Singular. Ähnlich auch Susanne Stemmler mit ihrem Buch zur Multikultur 2.0. Der Singular soll auch hier den Istzustand beschreiben und Differenz nicht allein an Ethnizität orientieren. Dies würde vor allem den Fakt verstellen, dass Einwanderung nie in eine harmonische und homogene Kultur erfolge, sondern in eine ohnehin vielstimmige und politisch agonistische.
Aber: Der Gegenstand dieser und ähnlicher Bücher bleibt Migration und das Leben in Einwanderungsgesellschaften. Dabei würde es sich lohnen, die Begriffe der Interkultur und Multikultur auch auf die inhomogene Mehrheitsgesellschaft, auf politische und soziale Kategorien anzuwenden, um dem Istzustand noch näher zu kommen.
Die falschen Unterschiede
Die Ethnisierung von Kultur führt zur Konstruktion von Unterschieden, die für die Demokratie irrelevant sind. Das müsste spätestens jetzt, da die tatsächliche Gefahr für die Demokratie wieder aus der ‚eigenen‘ heterogenen politischen Mehrheitskultur kommt, klargeworden sein. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Die USA haben ja derzeit kein Demokratieproblem aufgrund der ‚kulturellen‘ Unterschiedlichkeit ihrer Bevölkerung, sondern wegen des Erfolgs einer Politik, die die ‚kulturelle‘ Unterschiedlichkeit als Rechtfertigung antidemokratischer Praktiken missbraucht. Dass diese Gefährdung der Demokratie demokratisch herbeigeführt wird, macht es nicht besser, sondern zeigt eher, dass es nicht reicht zu glauben, ‚demokratisch‘ meine, man könne, seine Stimme für bzw. gegen etwas abgeben. Denn diejenigen, die Trump gewählt haben, sind auch diejenigen, deren Vorstellung von Politik durch ‚Kultur‘ bestimmt wird. Mit anderen Worten: Die irreführenden Leitkulturdebatten sollten endlich durch Demokratiedebatten abgelöst werden, um die Kulturalisierung des Politischen als eigentliche Gefahr zu verdeutlichen. Denn das Andere der Demokratie ist nicht der Ausländer oder der Migrant, sondern der Rassist oder der Autokrat. Der Ausländer ist nur das Andere der Leitkultur.