Man muss den Kampf gegen den Antisemitismus ernst nehmen. Aber diese Aufgabe darf die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel nicht verdecken. Ein Kommentar.

  • Alon Confino

    Alon Confino ist Professor für Geschichte und Jüdische Studien sowie Direktor des Instituts für Holocaust-, Genozid- und Erinnerungsstudien an der University of Massachusetts, Amherst. Er forscht zur neueren deutschen und europäischen Geschichte, zum Holocaust und Genozid, zum Zionismus und zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Seine letzte Monografie war: „A World Without Jews: The Nazi Imagination from Persecution to Genocide” (2014).

Dieser Text ist die über­ar­bei­tete und leicht gekürzte Fassung eines Vortrags über Anti­se­mi­tismus, der am 12. Januar im italie­ni­schen Senat in Rom im Rahmen einer Veran­stal­tung gehalten wurde, die dem Bericht der Sonder­be­richt­erstat­terin der Vereinten Nationen für Menschen­rechte in den besetzten paläs­ti­nen­si­schen Gebieten, Fran­cesca Alba­nese, gewidmet war. Ihr Bericht war im September 2022 vorge­legt worden. Der Beitrag erschien ursprüng­lich in engli­scher Fassung im 972-Magazine.

Anti­ju­da­ismus ist alt. Der Begriff des „Anti­se­mi­tismus“ ist hingegen vergleichs­weise neu. Er wurde im letzten Drittel des 19. Jahr­hun­derts geprägt und erst­mals 1879 durch den radi­kalen, deut­schen Jour­na­list und Anti­se­miten Wilhelm Marr verwendet – und das mit großem poli­ti­schen und kultu­rellen Erfolg. Der Begriff markierte einen Wende­punkt in der Geschichte des Hasses auf jüdi­sche Menschen, indem er eine – wenn­gleich nie ganz verfes­tigte, sich immer wieder auch über­schnei­dende – Unter­schei­dung markierte: die Unter­schei­dung zwischen der christ­lich geprägten Juden­feind­schaft einer­seits und moder­neren, poli­tisch verwur­zelten, rassis­ti­schen Einstel­lungen gegen Juden andererseits.

Das Aufkommen und die Popu­la­rität des Begriffs erklärten sich aus der neuge­won­nenen Gleich­be­rech­ti­gung von Jüdinnen und Juden in Deutsch­land und anderen euro­päi­schen Ländern. Anti­se­mi­tismus war ein Schlachtruf gegen ihre Eman­zi­pa­tion. Entspre­chend war auch die Bewe­gung gegen den Anti­se­mi­tismus eine Bewe­gung für die Minder­hei­ten­rechte. Bei aller Komple­xität des Begriffs – die Weisen, wie er sich in Politik, Gesell­schaft und Kultur mani­fes­tierte – bestand sowohl unter Jüdinnen und Juden als auch unter denen, die sie hassten, weit­ge­hend Einig­keit über die Bedeu­tung des Begriffs: Anti­se­mi­tismus meinte die Verwei­ge­rung von Rechten für die jüdi­sche Minder­heit – Rechte vor dem Gesetz oder gar das Recht, am Leben zu sein. Dieser Konsens verhär­tete sich infolge des Holo­caust vehement.

Anti­se­mi­tismus: eine umstrit­tene Definition

Wie also konnte sich der Begriff des Anti­se­mi­tismus in jüngster Zeit zu einem so umstrit­tenen Begriff entwi­ckeln, insbe­son­dere unter Jüdinnen und Juden? Tatsäch­lich gibt es wohl kaum einen Begriff, dessen Defi­ni­tion jüdi­sche Commu­ni­ties heute so sehr spaltet wie dieser. Gleich­zeitig hat sich, gerade seitens euro­päi­scher und US-amerikanischer Nicht-Juden, in letzter Zeit ein Reflex heraus­ge­bildet, jedwede Kritik der Politik der israe­li­schen Regie­rung – im Grunde egal, welcher – gegen­über Palästinenser:innen vorschnell als anti­se­mi­tisch zu kenn­zeichnen. Der eins­tige Konsens darüber, was Anti­se­mi­tismus bedeutet, hat sich damit verflüchtigt.

Keine Frage: Anti­se­mi­tismus muss vorbe­haltlos bekämpft werden. Dies sollte selbst­ver­ständ­lich sein. Mit Anti­se­mi­tismus meine ich Angriffe auf die Rechte jüdi­scher Minder­heiten und auch die Über­tra­gung von Stereo­typen, durch die ihre Rechte torpe­diert werden, auf Israel. Letz­teres wird etwa dann sichtbar, wenn Israel als histo­ri­scher Teufel darge­stellt wird oder israe­li­sche Juden essen­zia­li­siert oder pauschal verall­ge­mei­nert darge­stellt werden – als wohnten ihnen eine bestimmte Charak­ter­ei­gen­schaft inne.

Der Grund, warum wir heut­zu­tage so viel über Anti­se­mi­tismus spre­chen, ist letzt­lich weniger dem Umstand geschuldet, dass die Zahl anti­se­mi­ti­scher Vorfälle in die Höhe geschnellt wäre – Belege hierfür sind wider­sprüch­lich und unein­deutig –, sondern weil wir uns über die Defi­ni­tion so uneinig sind. Das Thema Anti­se­mi­tismus ist heute untrennbar mit Israel-Palästina verwoben. Um falsche Verall­ge­mei­ne­rungen zu vermeiden, halte ich es für unsere Aufgabe, Wege zu finden, zwischen anti­se­mi­ti­schen Äuße­rungen und legi­timer Kritik an Israel zu unter­scheiden – so hart und schmerz­haft diese Kritik auch sein mag.

Anti­se­mi­tismus: Eine komplexe Begriffsgeschichte

Mehrere Jahr­zehnte nach dem Holo­caust und verstärkt seit den 1980er und 90er Jahren begannen insbe­son­dere euro­päi­sche Länder und die USA, den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus sehr ernst zu nehmen. Des Anti­se­mi­tismus beschul­digt zu werden, stellt in den Augen der meisten Menschen (Anti­se­miten ausge­nommen) ein scharfes Wert­ur­teil dar, das ein unbe­streit­bares mora­li­sches Versagen der so gekenn­zeich­neten Person offen­bart und in der Regel beruf­liche Konse­quenzen nach sich zieht. So sollte es auch sein.

Aber in jüngerer Zeit wurde dieses Wert­ur­teil immer wieder auch gegen Kritiker:innen zionis­ti­scher und israe­li­scher Politik gegen­über Palästinenser:innen in Anschlag gebracht. Derart instru­men­ta­li­siert trifft der Vorwurf des Anti­se­mi­tismus etwa Akademiker:innen, Journalist:innen und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen, die es wagen, sich für die poli­ti­sche, recht­liche und bürger­liche Gleich­stel­lung von Palästinenser:innen einzu­setzen.  Dieses Muster zeigte sich, um hier nur zwei Beispiele zu nennen, etwa an den Reak­tionen auf den im Februar 2022 veröf­fent­lichten Bericht von Amnesty Inter­na­tional, der Israels Politik gegen­über den Palästinenser:innen als Apart­heid brand­markte. Oder in den Reak­tionen auf Fran­cesca Alba­neses Bericht an die Vereinten Nationen im September 2022 – sowie auf ihre Tätig­keit als Sonder­be­richt­erstat­terin zur Lage der Menschen­rechte in den besetzten Gebieten.

Anti­se­mi­tis­mus­vor­würfe sind so zum festen Bestand­teil einer poli­ti­schen Ablen­kungs­stra­tegie geworden. Das Ziel: uns in nicht endende Diskus­sionen darüber zu verwi­ckeln, ob spezi­fi­sche Wörter oder Ausdrucks­formen anti­se­mi­tisch sind, bezie­hungs­weise ob sie in anti­se­mi­ti­scher Absicht formu­liert wurden, um dadurch eine grund­le­gende Diskus­sion zu vermeiden, was vor Ort, in Israel-Palästina, tagtäg­lich geschieht. Anstatt darüber zu spre­chen, wie Israel die Rechte von Palästinenser:innen einschränkt.

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Eine Funk­tion der Ablenkung

Mich erin­nert diese Art der Ablen­kung letzt­lich an die Art, wie Toni Morri­sons über Rassismus nach­dachte:  „Die Funk­tion, die sehr ernste Funk­tion des Rassismus ist die Ablen­kung. Es hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Es lässt dich immer wieder erklären, warum du so bist. […] Aber nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.“

Israels Kritiker:innen als Anti­se­miten zu beschul­digen, ist solch ein Ablen­kungs­ma­növer im Morrison’schen Sinn: Es hält aufrich­tige Menschen schlichtweg davon ab, ihre Arbeit zu tun, um gleiche Rechte für alle Bewohner:innen des Landes zwischen dem Jordan und dem Mittel­meer zu gewähr­leisten. Es bedrängt sie statt­dessen, sich immer wieder einem wähnenden Grund­ver­dacht von Anti­se­mi­tismus gegen­über zu erklären. Wer auch immer Beweise vorlegt, dass Israel Palästinenser:innen gleiche Rechte verwehrt, wird mit weiteren Anti­se­mi­tis­mus­vor­würfen konfron­tiert. Man sollte sich in Erin­ne­rung rufen: Jüdinnen und Juden bilden in Israel keine Minder­heit: Sie sind die Mehr­heits­be­völ­ke­rung in einem Staat, der paläs­ti­nen­si­sche Bürger:innen inner­halb Israels aner­kannter Grenzen struk­tu­rell diskri­mi­niert – und Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten als entrech­tetes Volks­gruppe verwaltet. Wir sollten für den Schutz jüdi­scher Minder­heiten außer­halb Israels kämpfen. Aber wir dürfen den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus nicht für die Inter­essen israe­li­scher Besat­zungs­po­litik instrumentalisieren.

Aus dem Holo­caust die falschen Lehren ziehen

In Rom – wo ich diese Rede ursprüng­lich hielt –, in der Via Portico d’Otavia, der Via del Tempio und in den angren­zenden Ghet­to­gassen, wurden vor 75 Jahren, am 16. Oktober 1943, Jüdinnen und Juden von Deut­schen in la razzia di Roma zusam­men­ge­trieben. Es regnete an jenem Tag. Die Deut­schen verhaf­teten 1.030 von ihnen, darunter circa 200 Kinder, und schickten sie zwei Tage später über den Bahnhof Tibur­tina ins Konzen­tra­ti­ons­lager Ausch­witz. Nur 15 von ihnen über­lebten den Krieg. Nur eine einzige Frau über­lebte. Manche Italiener:innen halfen ihren jüdi­schen Mitmen­schen, andere halfen den Deutschen.

Elsa Morante hat diese Szenen für immer in ihrem Meis­ter­werk La Storia (1974) verewigt. Die Protagonist:innen des Romans, Ida und ihr Sohn Useppe, errei­chen am 18. Oktober 1943 den Bahnhof von Tibur­tina. Die Leserin wird durch die Beschrei­bung von Sinnes­ein­drü­cken in jene hölli­sche Szenerie geführt. Ida hört ein undeut­li­ches Geräusch: „In Rich­tung der schrägen Straße, die zu den Gleisen führt, nimmt die Laut­stärke zu. Es war nicht, wie Ida sich einge­redet hatte, das Geschrei von Tieren, die in Vieh­wag­gons gepfercht waren […]. Es war ein Geräusch von Stimmen, einer mensch­li­chen Stimme […]. Am Ende der Rampe. Auf einem geraden, toten Gleis stand ein Zug […]. Die Stimmen kamen aus seinem Inneren.“

Welche Lehren können wir im Beson­deren aus der Verfol­gung der Jüdinnen und Juden in Rom und aus dem Holo­caust im Allge­meinen ziehen? Ich ziehe zwei Lehren daraus. Die erste betrifft eine obli­ga­to­ri­sche Verpflich­tung Italiens und anderer euro­päi­scher Länder, dem Holo­caust zu gedenken, mit einem aufrich­tigen Gefühl von histo­ri­scher Verant­wor­tung. Dies beinhaltet, Anti­se­mi­tismus mit allen zur Verfü­gung stehenden Mitteln zu bekämpfen und die vollen Rechte – poli­ti­sche und andere Rechte – jüdi­scher Minder­heiten zu schützen, egal wo. Im italie­ni­schen Kontext gehört dazu auch eine gewis­sen­hafte Aufar­bei­tung der faschis­ti­schen Vergan­gen­heit sowie der Verfol­gung der italie­ni­schen Jüdinnen und Juden.

Die zweite Lektion besteht darin, die Heraus­for­de­rung zu bewäl­tigen, die spezi­fi­sche Erin­ne­rung an den Holo­caust zu bewahren und Anti­se­mi­tismus entge­gen­zu­treten – und gleich­zeitig den univer­sellen Wert aufrecht­zu­er­halten, der sich aus dem Holo­caust ableiten lässt. Nämlich, dass gleiche Rechte für ein Leben frei von Diskri­mi­nie­rung für alle Menschen grund­le­gend sind; Rechte, welche Israel den Palästinenser:innen dieser Tage verweigert.

Philo­se­mi­tismus: Eine falsche Form von Anbetung

Den Vorwurf des Anti­se­mi­tismus zu akzep­tieren, wo er fälsch­li­cher­weise und instru­men­tell gegen Personen vorge­bracht wird, die Beweise für die Verlet­zung paläs­ti­nen­si­scher Rechte liefern, die exis­tie­rende Apart­heid beim Namen nennen und poli­ti­sche Rechen­schaft einfor­dern, beruht auf einem fehl­ge­lei­teten Axiom: dass eine Lehre des Holo­caust darin bestünde, dass israe­li­sche Juden immer Recht haben. Doch eine ganze Menschen­gruppe als sakro­sankt anzu­sehen, als völlig frei von mora­li­schen Fehl­tritten und histo­ri­scher Verant­wor­tung, kommt einer Form von Anbe­tung gleich, die wir vermeiden sollten.

Aus dem Holo­caust die Lehre zu ziehen, dass alle Menschen ein Leben in Würde, inklu­sive entspre­chender Rechten, verdienen – mit Ausnahme derer, deren Rechte von israe­li­schen Juden verwei­gert wurden: Das ist eine Form mora­li­scher Travestie. Ich bin ein in den USA lebender israe­li­scher Jude. Ich hüte mich tunlichst vor Philo­se­miten, die meinen, Israel könne per se nichts falsch machen. Ebenso wie ich mich vor Anti­se­miten hüte, die meinen, jüdi­sche Menschen seien auf ewig an allem schuld. Ich meide Personen, die mich heilig spre­chen – genauso wie dieje­nigen, die mich entmensch­li­chen wollen.

Wie alle anderen Menschen sollten wir israe­li­schen Juden nach unserem Handeln beur­teilt und gege­be­nen­falls zur Rechen­schaft gezogen werden sollten. Als israe­li­sche Juden bean­spru­chen wir die Erin­ne­rung an die Opfer des Holo­causts für uns. Dennoch haben viele von uns heute Schuld auf sich geladen, was den Umgang mit den Palästinenser:innen betrifft. Opfer und Täter zu sein, schließt sich nicht wech­sel­seitig aus. Als Status kann er in ein und derselben Person, auch derselben Gruppe, zu verschie­denen histo­ri­schen Zeiten neben­ein­ander bestehen.

Wir täten gut daran, tatsäch­liche Anti­se­miten, die ihren Hass auf Israel richten, als solche zu entlarven und zu bekämpfen. Amnesty Inter­na­tional, Fran­cesca Alba­nese und viele andere gehören nicht dazu. Wer den Vorwurf des Anti­se­mi­tismus ihnen gegen­über akzep­tiert und wieder­holt, verkennt, dass zwischen dem Jordan und dem Mittel­meer zwei Volks­gruppen – circa 6,8 Millionen jüdi­sche Israelis und 6,8 Millionen Palästinenser:innen – exis­tieren. Nur eine von ihnen besitzt alle Rechte, die sie der anderen auf verschie­dene Weisen verwei­gert. Dazu gehören syste­ma­ti­scher Rassismus gegen­über paläs­ti­nen­si­schen Mitbürger:innen Israels, die mili­tä­ri­sche Besat­zung und drohende Anne­xion des West­jor­dan­landes sowie die Bela­ge­rung des Gaza­strei­fens, der heute einem riesigen Gefängnis gleichkommt.

Im Namen der Demo­kratie hält Israel so seit über 55 Jahren ein poli­ti­sches System der gewalt­samen Unter­drü­ckung von Millionen von Menschen aufrecht. Die meisten unter Besat­zung lebenden Palästinenser:innen kennen keine andere Realität. Es gibt derzeit keine Anzei­chen dafür, dass Israel die Absicht hat, die Besat­zung zu beenden – ganz im Gegen­teil: es gibt mehr Anzei­chen denn je, dass die Besat­zung dauer­haft ist. Israel geriert sich in diesem Kontext als Opfer und spricht im Namen der Frei­heit des jüdi­schen Volkes. Eine Frei­heit, die für Israel die Frei­heit bedeutet, zu verwüsten, zu demü­tigen und zu ernied­rigen. Die einzige Frei­heit, die Palästinenser:innen in diesem Kontext bleibt, ist still­schwei­gend ihrem eigenen Nieder­gang entge­gen­zu­sehen. Dies zu doku­men­tieren, ist nicht antisemitisch.

Hoff­nung gegen Hoffnung

Rom und Italien liegen mir sehr am Herzen. Meine Groß­el­tern, Enzo und Ada Sereni, wurden zu Beginn des vergan­genen Jahr­hun­derts in Rom geboren. Sie wanderten 1927 als erste italie­ni­sche Zionist:innen nach Paläs­tina aus. Damals waren sie jeweils 22 Jahre alt. Enzo wuchs zu einem leuch­tenden Muster­bei­spiel der damals noch jungen, zionis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung heran.

Zwischen 1943 und 1944 grün­deten die briti­sche Armee und die Führung der zionis­ti­schen Gemeinde in Paläs­tina eine Fall­schirm­sprin­ger­ein­heit, die aus jüdi­schen Soldaten bestand. Ihre Aufgabe war es, in Europa hinter feind­li­chen Linien abzu­springen, um briti­schen Streit­kräften sowie Jüdinnen und Juden in den von den Nazis besetzten Gebieten zu helfen. Die Mission war für junge Soldaten gedacht. Doch Enzo, damals 39, mit Familie und drei Kindern, meldete sich frei­willig. Alle – von Ada bis zum dama­ligen Anführer der zionis­ti­schen Bewe­gung, David Ben Gurion – waren gegen seine Entschei­dung. Im Mai 1944 sprang er nahe Florenz ab, wurde von den Nazis gefan­gen­ge­nommen und im November desselben Jahres im Konzen­tra­ti­ons­lager Dachau ermordet.

Wenige Jahre zuvor, als Enzo in Paläs­tina ange­kommen war, hatte er fest­ge­stellt, dass dort bereits ein anderes Volk lebte, das andere poli­ti­sche Ziele verfolgte als er. Ein Satz, den er 1936 aufschrieb, ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Für die fort­schritt­li­chen, zionis­ti­schen Kräfte, schrieb er, gebe es nur einen Ausweg aus der gegen­wär­tigen poli­ti­schen Sack­gasse – „die Schaf­fung einer Staats­macht, die die Inter­essen beider Völker in Einklang bringt und jedem der beiden Völker völlige Auto­nomie über die eigene Innen­po­litik garan­tiert“. Juden und Araber, so schluss­fol­gerte er, sollten „ein gemein­sames Vater­land und einen gemein­samen Staat entwi­ckeln“. Nicht die konkrete poli­ti­sche Ausge­stal­tung sei entschei­dend, sondern eine Vision von Gleich­heit und Menschlichkeit.

Diese Vision erscheint heute wie ein fernes Hirn­ge­spinst. Man müsste an mangelndem Reali­täts­sinn leiden, um zu glauben, dass gleiche Rechte für alle Israelis und Palästinenser:innen in der jetzigen Situa­tion ein reali­sier­bares, poli­ti­sches Unter­fangen seien. Aber ich erin­nere mich auch gern an einen anderen Satz, den Enzo 1927 an seinen Bruder Emilio Sereni schrieb. Emilio war Marxist, Enzo Zionist. Emilio wurde später einer der Anführer der Italie­ni­schen Kommu­nis­ti­schen Partei der Nach­kriegs­jahre. Er beschrieb Enzo in Briefen den damals unauf­haltsam wirkenden Lauf der Geschichte hin zur marxis­ti­schen Utopie. Enzo antwor­tete ihm mit den wunder­baren Worten: „Ist die Geschichte womög­lich bereits geschrieben worden und liegt es nur noch an uns, sie zu vollenden?”

Wir wissen, wie wichtig Werte und Worte sind, wie wichtig die Wahr­heit ist. Der Kampf gegen Anti­se­mi­tismus als Teil eines Kampfes für univer­selle Menschen­rechte und anti­ras­sis­ti­sche Grund­sätze zu verstehen – und gemeinsam für volle Gleich­be­rech­ti­gung aller Bewohner des Heiligen Landes sowie für ein Ende von Unter­drü­ckung und Diskri­mi­nie­rung zu kämpfen –, scheint mir ein würdiges Vermächtnis und ein Akti­ons­plan für die Gegen­wart zu sein. Lasst uns hoffen, wenn­gleich gegen jede Hoffnung.

Aus dem Engli­schen von Hanno Hauenstein