Als Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre zerfiel, wurde die Unabhängigkeit seiner Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina international zügig anerkannt. Das galt nicht für Makedonien, das sich nach einer Volksabstimmung am 8. September 1991 ebenfalls unabhängig erklärte und nach dem Urteil einer Kommission zur Prüfung der Anerkennungswürdigkeit, bestehend aus den Präsident:innen der Verfassungsgerichte mehrerer europäischer Staaten („Badinter-Kommission“), alle Voraussetzungen erfüllte – im Gegensatz etwa zu Kroatien, dessen Minderheitenschutz mangelhaft war.
Die Aussetzung der Anerkennung durch die Länder der Europäischen Gemeinschaft (EG) geschah auf Intervention Griechenlands, das damit durchsetzen wollte, dass der neue Staat seinen Namen änderte – das Wort „Makedonien“ durfte in der Bezeichnung nicht vorkommen. Die im Dezember 1991 laufenden Verhandlungen, die zum entscheidenden Ausbau der EG zur Europäischen Union führten (Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992), gaben Griechenland ein starkes Druckmittel an die Hand, um seiner Position in Bezug auf Makedonien Gewicht zu verleihen.
Griechische Intervention im Namen der Antike
Von Beginn an räumte die griechische Politik dieser Frage eine Priorität ein, die weder Makedonien noch die übrige Welt erwartet hatten. Ein Politiker erklärte im Januar 1992 sogar, der Gebrauch des Namens „Makedonien“ sei ein casus belli, und forderte „eine aktive Vernichtungspolitik gegen diesen Zwergstaat“. Millionen von Griech:innen protestierten insbesondere in Thessaloniki gegen den Nachbarn im Norden. Erst im April 1993 wurde dieser schließlich unter der Bezeichnung „Ehemalige jugoslawische Republik Makedonien“ in die UNO aufgenommen.

Statue von Alexander dem Grossen in Thessaloniki; Quelle: estestiftung.org

Statue von Alexander dem Grossen in Skopie: Quelle: gamintraveler.com
Griechenland vertrat und vertritt den Standpunkt, dass das antike Königreich der Makedonen zum hellenischen Erbe gehöre und die Republik Makedonien, die mehrheitlich von später eingewanderten Slav:innen bewohnt ist, kein Recht auf diese Bezeichnung habe. Ob die Bevölkerung des antiken Makedoniens hellenisch war, ist allerdings keineswegs geklärt, man weiß sehr wenig über ihre sprachliche und ethnische Zugehörigkeit. Dass Bezeichnungen für Regionen bleiben, auch wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerung ändert, ist hingegen ein bekanntes Phänomen und gilt keineswegs nur für Makedonien. In der Schweiz etwa lebt die keltische Bevölkerung, die längst von anderen Ethnien abgelöst worden ist, im offiziellen lateinischen Staatsnamen „Confoederatio helvetica“ weiter, der unter dem Akronym CH auf jedem Auto prangt.
Der Name Makedonien steht nicht nur für das antike Königreich, sondern bezeichnet seit Jahrhunderten eine multiethnische geografische Region auf dem Balkan, die vom ausgehenden 14. Jahrhundert bis 1913 zum Osmanischen Reich gehörte. Dazu zählen Nordgriechenland („Ägäisch-Makedonien“), ein Zipfel Westbulgariens („Pirin-Makedonien“) und der heute unabhängige Staat („Vardar-Makedonien“). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bildete sich unter der slawischen Mehrheitsbevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Staates eine eigenständige makedonische Nation heraus, die sich mit diesem Namen identifiziert.
Makedonische Kompromisse und „Rückbesinnung“ auf die Antike
Gerade wegen der Verteilung der Region auf mehrere Staaten führte Griechenland ins Feld, der unabhängige Nachbarstaat könnte, sollte man ihm den Namen belassen, Gebietsansprüche auf den griechischen Teil Makedoniens erheben. Dieser Argumentation begegnete die Republik Makedonien durch die Änderung der Flagge und einiger Artikel in der Verfassung. Dennoch blieb Griechenland in der Namensfrage hart, was darauf hinweist, dass es nicht um Angst vor diesem neuen „Zwergstaat“ ging, sondern um andere Probleme. Griechenland war zu Beginn der 1990er Jahre zweifelsohne von den politischen und kriegerischen Umwälzungen in seiner Nachbarschaft überfordert und nicht in der Lage, als NATO- und EU-Mitglied eine konstruktive Rolle in der Region zu spielen. Das hatte nicht zuletzt mit den grossen innenpolitischen Konflikten zu tun, mit der Zerrissenheit des politischen Spektrums und schweren wirtschaftlichen Problemen. Mit Härte in der Makedonien-Frage konnten Regierung wie Opposition bei der Bevölkerung punkten und aussenpolitische Erfolge vorweisen.
Während sich mit der Zeit trotz allem enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Staaten entwickelten, blieb die Namensfrage ungelöst. Das griechische Beharren darauf, dass nur das antike Erbe den Namen Makedonien rechtfertige, führte dazu, dass sich Teile der politischen Elite und der Bevölkerung Makedoniens nunmehr auf den Standpunkt stellten, der gegenwärtige Staat sei sehr wohl Erbe des antiken Makedoniens.

Antikisierender Neubau im Stadtzentrum von Skopje; Quelle: colorkinetics.com
In einer Kampagne zur „Hebung der nationalen Würde und des Optimismus“ rekurrierte die rechtsnationale Regierung unter dem Ministerpräsidenten Nikola Gruevski zunehmend auf die Antike. Insbesondere seit 2008, als Griechenland die Aufnahme in die NATO verhinderte, inszenierte die Regierung diese Bezugnahme mit unzähligen Denkmälern und „antikisierenden“, weitreichenden Eingriffen ins Stadtbild der Kapitale Skopje. In kurzer Zeit erbaute bombastische Gebäude, die an antike Tempel erinnern und zugleich das bauliche Erbe der sozialistischen Zeit verdrängen, haben das Zentrum der Hauptstadt völlig verändert.
Der Vertrag von Prespa
Der nicht nachlassende griechische Druck trug schließlich 2019 Früchte, da für Makedonien der Beitritt zur NATO und zur EU ein vorrangiges Ziel war, Ersteres aus sicherheitspolitischen Überlegungen, Letzteres vorrangig aus ökonomischen Erwägungen. Seit 2005 ist das Land Beitrittskandidat der EU, kam aber wegen des griechischen Vetos gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht vom Fleck. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, zeigte sich die neue, von den Sozialdemokraten dominierte Regierung unter Zoran Zaev kompromissbereit und peitschte 2019 im Parlament den sogenannten Vertrag von Prespa mit Griechenland durch. Nebst anderen Konzessionen änderte Makedonien seinen Namen in „Nordmakedonien“ – eine Bezeichnung, die zumindest bei der ethnisch makedonischen Bevölkerung auf keinerlei Akzeptanz stößt und als aufgezwungen betrachtet wird. Die griechische Seite konnte sich mit dem Namen abfinden, weil er aus ihrer Sicht in erster Linie eine geografische Bezeichnung darstellt.
Der Vertag von Prespa betreibt aber auch Geschichtspolitik, denn er regelt die Vergangenheit und den Umgang mit ihr verbindlich: Das antike Makedonien wird darin als hellenisch definiert und der makedonische Staat darf sich in keiner Art und Weise darauf berufen oder dessen Symbole verwenden. Er wurde verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten alle öffentlichen Hinweise auf „hellenische Geschichte und Zivilisation“ zu entfernen. Eine paritätische staatliche Kommission soll außerdem dafür sorgen, dass innerhalb eines Jahres nach Vertragsabschluss in den Schulbüchern der beiden Staaten keine „irredentistischen/revisionistischen Referenzen“ vorkommen.
Bulgarien erhebt Ansprüche
Griechenland legte seit dem Vertragsabschluss kein Veto mehr ein und Makedonien konnte 2020 der NATO beitreten – ein für die innere wie äußere Stabilität des Landes wichtiger Schritt. Kurz darauf zeigte sich jedoch, dass der Weg für Beitrittsverhandlungen mit der EU keineswegs gebahnt war, denn nun macht Bulgarien von seinem Vetorecht Gebrauch. Das war nicht zu erwarten, hatte doch Bulgarien seinerzeit das unabhängige Makedonien sofort und unter diesem Namen anerkannt, allerdings einzig den Staat, aber explizit nicht die makedonische Nation und Sprache. In Bulgarien wird beides als bulgarisch betrachtet und Makedonien als zweiter bulgarischer Staat gesehen.
Auch Bulgarien stand seit dem 14. Jahrhundert unter osmanischer Herrschaft, von der es sich 1878 mit russischer Hilfe befreite, während Makedonien osmanisch blieb. Seit dieser Zeit ist die Angliederung Makedoniens ein wichtiges Ziel auf der nationalen bulgarischen Agenda. Für dieses großbulgarische Projekt zog das Land 1912/13 in zwei Balkankriege und stellte sich in beiden Weltkriegen auf die Seite Deutschlands. Zwar konnte es Makedonien jeweils besetzen, verlor es aber nach den Kriegen wieder. Da Makedonien im Mittelalter kurzzeitig zum Bulgarischen Reich gehörte und da die ethnische und sprachliche Nähe der beiden südslawischen Völker groß ist, wurde und wird auf die Makedonier:innen Anspruch erhoben. Es wird negiert, dass im jugoslawischen Teil Makedoniens (Vardar-Makedonien – das Territorium des heutigen Staates) im Verlauf der letzten hundert Jahre eine Nation entstanden ist, die sich als „makedonisch“ bezeichnet und seit 1944 über eine kodifizierte Schriftsprache verfügt. Die Erkenntnis, dass Nationen moderne Konstrukte sind und es nicht seit dem frühen Mittelalter eine unveränderliche „bulgarische Nation“ gibt, hat sich bisher auch in der bulgarischen Geschichtswissenschaft kaum durchgesetzt.
Die makedonische Karte wird in Bulgarien, wie schon in Griechenland, vor allem in schwierigen Zeiten gespielt, um Risse im Innern zu kitten. Die bulgarische Gesellschaft ist zurzeit gespalten, die Wirtschaftslage schwierig und die Politikerkaste hochkorrupt und unbeliebt (die Zeitung Politico bezeichnete Bulgarien im September 2020 als „Mafiastaat“), aber der Anspruch auf Makedonien eint das Land. Die Führung will die Mitgliedschaft in der EU benutzen, um über Geschichtspolitik die nationale Identität der ethnischen Makedonier:innen zu beeinflussen. Griechenlands Erfolg in der Namensfrage und bei der Interpretation der antiken Geschichte dürfte eine wichtige Lektion gewesen sein: Gemäß dem Abkommen von Prespa muss Makedonien die griechische Sicht auf die Vergangenheit auf seinem Territorium durchsetzen; die dominante Seite definiert, was die historische Wahrheit ist. Bulgarien nutzt seine Stärke ebenfalls, um dem politisch schwachen Nachbarn die eigene Deutung aufzuzwingen, wobei es diesmal um das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert geht. Nach bulgarischer Lesart gab es bis 1944 keine makedonische Nation, vielmehr ist diese eine Erfindung der jugoslawischen Kommunist:innen, genauso wie die makedonische Sprache, weshalb diese in keinem EU-Dokument erwähnt werden dürfe. Da es aus bulgarischer Sicht keine makedonische Nation gibt, „stiehlt“ die Geschichtsschreibung Makedoniens bulgarische Geschichte, wenn sie den Kampf gegen die Osmanen in Makedonien als makedonisch bezeichnet und dessen Helden als Makedonier.
Geschichtspolitik
Anlass zur Unzufriedenheit gibt auch die makedonische Sicht, dass Makedonien im Zweiten Weltkrieg vom mit Deutschland verbündeten faschistischen Bulgarien besetzt wurde, während es nach bulgarischer Lesart „befreit“ wurde. Der Hinweis darauf, dass die bulgarischen Besatzer gemeinsam mit deutschen Stellen mehr als 7000 makedonische Jüd:innen in den Tod nach Treblinka deportierten, wird als „hate speech“ gebrandmarkt.
Unterschiedliche Interpretationen der Vergangenheit sind nichts Außergewöhnliches und werden immer wieder politisch instrumentalisiert, gerade wenn es um Staaten geht, die erstmals unabhängig werden und ein eigenes Geschichtsnarrativ entwickeln. Im Falle Makedoniens nimmt die innenpolitisch motivierte Geschichtspolitik der Nachbarn Griechenland und Bulgarien allerdings bisher nicht gekannte und bedrohliche Dimensionen an. Makedonien ist seit seiner Unabhängigkeit genötigt, einen Kampf zu führen, der nicht zu enden scheint. Die Interventionen der Nachbarstaaten unterminieren die Stabilität des Landes, indem sie die wirtschaftliche Konsolidierung behindern und die politische Elite des Landes vor zusätzliche schwierige, kaum lösbare Probleme stellen. Die Bevölkerung fühlt sich durch die Nachbarn und die internationale Politik gedemütigt und ist im Hinblick auf die Zukunft des Landes desillusioniert; wer kann, verlässt das Land.
Die EU, mit Problemen an allen Ecken und Enden konfrontiert und erweiterungsmüde, lässt Bulgarien gewähren, so wie zuvor Griechenland. Sie vertut die Chance, energisch als stabilisierender Faktor aufzutreten und so ein Signal an den gesamten Balkan auszusenden. Sie stellt sich auf den kleinmütigen Standpunkt, es handle sich um bilaterale Probleme, welche die Länder untereinander lösen sollten. Es waren Tschechien und die Slowakei, unterstützt von Österreich, die sich im Dezember 2020 dagegen zur Wehr setzten, dass die EU die Interpretation der Geschichte zum Aufnahmekriterium machte: „We will not allow the [European] Union to be the judge of our shared history, how we identify ourselves, or the language we use. These issues belong to the parties concerned and we are here to support them“. Am bulgarischen Veto hat das nichts geändert, es wurde am 22. Juni 2021 einmal mehr bekräftigt.