In der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie, dem Feuilleton und seit Sibylle Lewitscharoff sogar in der Literatur ist Hans Blumenberg eine Prominenz. Er ist so etwas wie der Walter Benjamin der Konservativen – und seine Schriften sind erhellend dafür, was „konservativ“ heißen kann. Das zeigt keines seiner Bücher so gut wie die Studie Lebenszeit und Weltzeit von 1986.
Sie beginnt damit, die Geschichte der Moderne als ein „Auseinanderfallen“ der Zeit, eine „Öffnung der Zeitschere“, zu beschreiben. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Epoche, die wir die „Frühe Neuzeit“ nennen, die Kant’sche Wende der Philosophie – sie alle bezeichnen, so Blumenberg, Paradigmenwechsel im Zeitverständnis des Menschen. Bei Kant ist die Zeit ein „Apriori der Erkenntnis“, etwas, das vom Menschen an die Sachen herangetragen wird, um sie zu erkennen. Sie prägt jedes Ding zum „Ding für uns“: als ein erkennbares Ding.

Alt geworden: Mick Jagger und Keith Richards; Quelle: t-online.de
Blumenberg dagegen will zeigen, wie die Zeit sich am Menschen „rächt“. Es ist laut Blumenberg die „empörendste Zumutung“ und „bitterste aller Entdeckungen“: Als Kind noch hat man das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Dann merke man, dass die Welt alle Zeit hat und der Mensch nur eine Lebensspanne: Er ist ganz grundsätzlich zu kurz gekommen. Die Welt zeigt dem Menschen seine Endlichkeit nicht nur auf, sie „prahlt vor dem Leben mit der Zeit“. In Anbetracht der Unendlichkeit seiner Wünsche ist das Leben zu kurz und der Gedanke an die zwangsläufig „versäumte[n] Lebensmöglichkeiten“ quälend. Noch quälender ist einzig der Gedanke, dass das, was einem von der Welt vorenthalten wird, einem anderen zufallen könnte.
Die Zu-kurz-Gekommenen
Blumenberg beschreibt die Gekränktheit des Menschen durch die Zeit einerseits als eine anthropologische Konstante und existentielle Grunderfahrung des menschlichen Lebens, andererseits scheint die existentielle Kategorie aber auch selbst der Zeit unterworfen zu sein: Denn in der Moderne, so diagnostiziert Blumenberg, erfährt das Missverhältnis von Lebenszeit und Weltzeit eine unheimliche Steigerung. Es gehe von der „Phase des unbestimmten Unbehagens“ über in eine „Pathologie des Zeitbezugs“. Als Beispiel dieses pathologischen Zeitbezugs führt Blumenberg den politischen Fanatismus und seine äusserste Form, den Faschismus, an.
Blumenbergs Studie arbeitet einige paradigmatische, psychologische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Krise der Zeit heraus: konservative Rettungsversuche oder progressive Lösungsversuche, in denen der Lesende trotz der überzeitlichen Anlage sowohl das Deutschland der 1980er als auch seine jetzige Zeit wiedererkennen kann.
In einer ersten Strategie schrumpft der Mensch die Welt auf die Größe seiner nächsten Umgebung zusammen. Blumenberg beschreibt diese Strategie als Rückzug in eine „archaische Heimatlichkeit“, in welcher „Sicherheit und Weltbehagen“ herrschen. Aus der Idylle wird jeder Konflikt, jede mögliche Störung ausgeschlossen. Entscheidungen und Urteile werden in eine fiktive Vorzeit verlegt, der Einzelne schließt sich den Vor-Urteilen an und spart die Zeit der Auseinandersetzung. Die geschlossene Gemeinschaft und homogene Gruppe hat für ihn den Anschein des Natürlichen und Immer-Schon-Da-Gewesenen. Die Identifikation mit der Tradition, dem Alltag und seinen Routinen gibt dem Einzelnen das Gefühl, dass die Welt um ihn sich „nur langfristig wandelt“ und dass der, der von ihr überlebt wird, um nichts Wesentliches betrogen wird.
Unbehagen in der Kultur
Die Politik, die auf diesem Konzept aufbaut und es befördert, ist die Identitätspolitik. Sie funktioniert über Abgrenzung, über den Ausschluss des Fremden, das die Idylle erst konstituiert und sie – einmal vorausgesetzt – zugleich bedroht. Das Konzept der Reduktion der Welt auf das Eigene und der Beschränkung auf das Heimische ist immer schon brüchig. Die Idylle ist im Sturmauge der Zeit angelegt, in Zeiten der Krise und des sichtbaren Wandels steht sie ungeschützt. „Extreme Verbitterung eines Versagensgefühls“, schreibt Blumenberg, stellt sich ein, wenn ihre Prämissen hinterfragbar werden. Noch extremer wird die Verbitterung, wenn angesichts des Wandels die Annahme hinzutritt, dass die eigenen Vorfahren besser gelebt haben oder die eigenen Nachfahren besser leben könnten.
Der Neid spaltet die Gruppe dann von ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft. Ressentiment entsteht bei dem Gedanken, dass die Zeit, in die man gefallen ist, größeren Verzicht fordert und die Zugeständnisse, die man an die Gesellschaft macht, sich nicht wirklich auszahlen. Und bei dem Gedanken, dass andere mit weniger Entsagung mehr bekommen. Der Zeitneid führt zu einem Furor des Argwohns, der dem anderen auflauert und darauf zielt, ihn in die – eigenen – Schranken zu weisen. Dieses Bilanzieren des Lebens der anderen ist feindselig, so Blumenberg, es nimmt das Verhalten des Fanatikers, das Denunzieren und Verfolgen von Mitmenschen, vorweg. Das Unbehagen in der Zeit, das die Idylle nicht erfolgreich bewältigen kann, wird zu einem Unbehagen in der Kultur.

Anti-Aging-Werbung; Quelle: youtube.com
Eine andere Strategie, die Kränkung zu mildern, zielt laut Blumenberg darauf, mehr „Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben“. Dabei wird alles getan, die eigene Lebenszeit möglichst zu verlängern und gegen die Grenze der Zeit anzurennen. Der Nachteil dieser Spekulation auf mehr Lebenszeit ist, dass man, selbst wenn man jeden Tag joggt, Bio-Produkte isst und Teil der quantified-self-Bewegung wird, vielleicht gar nicht länger lebt. Denn die magische Bestechung der Weltzeit kann fehlschlagen. Der „Zeitpreis“, der in den „gesundheitlichen Mußzeiten zur Erwerbung von Kannzeit“ bezahlt wird, kann, wie Blumenberg einigermaßen neurotisch formuliert, genau so gut umsonst bezahlt worden sein.
Die Vertiefung in die eigene Lebenszeit führt dazu, dass, mit Blumenberg gesprochen, die „klassischen Plagen durch neuartige Torturen“ ersetzt werden. Die Arbeit am biologisch verstandenen Selbst wirkt, schon in den unterkühlten Ausführungen Blumenbergs, auffallend narzisstisch. Gesellschaftlich relevant wird die Fetischisierung des reinen Lebens in dem, was Foucault als „Biopolitik“ beschrieben hat. Die Verwaltung und Regulierung des Selbst schlägt dort um in eine gesellschaftliche Kontrollphantasie.
„Dionysische Spießer“
Eine weitere Strategie, die Blumenberg in diesem Zusammenhang skizziert, besteht darin, sich in der Lebenszeit, die einem beschieden ist, maximal zu bereichern. In einem seltsam neurotischen Hedonismus werde so versucht, das Leben maximal auszuschöpfen; die größtmögliche Akkumulation von Spaß erinnert dann an das, was Ernst Bloch den „dionysischen Spießer“ nannte. Der Konsum verspricht eine „höhere Weltsättigung“ und eine gesteigerte Lebensintensität. Dabei nimmt man sich nicht nur alles, was man kriegen kann, es steht einem auch alles zu, was da ist: Der Habitus des Kolonialherren ist die Revanche für die Grenzen, die einem die Welt setzt.
Neben der künstlichen Dehnung der Zeit und ihrer optimalen Ausbeute ist die Beschleunigung eine weitere Möglichkeit, mehr von der Welt zu haben. Die Technisierung ist nach Blumenberg nichts anderes als dieser „Traum von der Effizienz“. Optimieren, Synchronisieren und effektiveres Organisieren entlasten von unnötigem Zeitverbrauch. Solche Vereinfachungen des Lebens sind für Blumenberg jedoch keine Freiheiten, sondern „Vorurteile“. Das bestätigt sich etwa dann, wenn man vom Algorithmus einer Dating-Plattform mit genau dem gepaart wird, was man sowieso schon ist. Das „global village“ als Gegenstück zur „rural world“ der Idylle enthält einem dann mittels desselben Bannfluchs der Identität genau das vor, was es verspricht: die Welt.
Die Idee der Beschleunigung sei an den „quälenden Gedanken der Verspätung der Zukunft gebunden“, schreibt Blumenberg. In dem Fortschrittsoptimismus der Akzellerationisten steckt die Angst, das Beste zu verpassen und nicht zu den Privilegierten der Zeit zu gehören. Im Forcieren der Zukunft ist nach Blumenberg daher die Möglichkeit des Terrors gegen all diejenigen angelegt, die als Verzögerer der Geschichte auftreten könnten: diejenigen, denen am Widerstand mehr gelegen ist als am Vorwärtskommen.
Der faschistische Hass

Turner werfen Medizinbälle in die Höhhe, Deutschland, 1930er Jahre; Quelle: fluter.de
Wenn die Eskalation der Zeit nicht nur ersehnt, sondern aktiv betrieben wird, ist dies, so Blumenberg, eine faschistische Figur. In zwei kurzen Kapiteln mit den Titeln „Paradies und Apokalypse“ und „Die Kongruenz von Lebenszeit und Weltzeit als Wahn“ analysiert er den Faschismus als einen wahnhaften Zeitbezug und eine äusserste Form des Zeitneids. Die „Lebenszeit“ und nicht etwa der „Lebensraum“, ist der Begriff, in dem sich der Hass der Faschisten nach Blumenberg sammelt und zu einem totalitären Denksystem organisiert. Der Faschismus ist ein zeitlicher Imperialismus, ein brutaler Eroberungsfeldzug, der gegen die Weltzeit gerichtet und fanatisch darauf aus ist, sie in die eigene Lebenszeit hinein zu zwingen.
Ego sum, pereat mundus: „Bei eigener Hinfälligkeit und Endlichkeit“, so Blumenberg, „solle doch gefällig auch alles andere hinfällig und endlich sein.“ Die gewaltsame Reduktion der Weltzeit auf die Lebenszeit und die Sucht nach der Endzeit seien die äußersten Formen, der Kränkung durch die Zeit zu entkommen. Um sie zu beschreiben, entlehnt der Phänomenologe Blumenberg die Begriffe der Psychoanalyse: Der pathologische Zeitbezug des Faschisten sei eine Paranoia, ein „absoluter Narzissmus“, der die Welt entwertet und das gekränkte Subjekt zum Mass aller Dinge macht. Die schmerzlich empfundene Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Menschen, der darauf folgende „Sinnentzug“ und die Kränkung, von anderen überlebt zu werden, schüren einen Hass auf alles, was außerhalb des narzisstischen Ich und seiner Gruppe steht.
Die Begrenztheit konservativer Kulturkritik
Blumenbergs Studie, das kann man ihr zugutehalten, stellt dem Hass die Reflexion entgegen. Seine Philosophie geht, wie jede gute Philosophie, über in eine Theorie der Bildung; sein Aufruf, „die Position der Unreife zu verlassen“, ist ein Aufruf zum philosophischen Erwachsenwerden und gegen die faschistische Versuchung. Die philosophische Schule, von der Blumenberg glaubt, dass sie allein die Kränkung durch die Zeit überwinden kann, und die er rehabilitiert wissen möchte, ist die Phänomenologie. Diese sei eigentlich antifaschistisch, und so lässt sich – wenigstens in der deutschen Philosophie – ganz bruchlos an die frühen 1930er anschließen. Der Ausgang des Menschen aus dem Narzissmus, den Blumenberg der faschistischen Versuchung entgegensetzt, ist so fast gänzlich vom Individuum her gedacht, d.h. wird strikt als bürgerlicher und psychologisch-anthropologisch gefasster Individualismus konzipiert.
Nur an einer Stelle spricht seine Studie explizit aus, dass die Strategien im Umgang mit der Zeit sich zu gesellschaftlichen Formationen ausgestalten können. Blumenberg entwickelt dort die Vorstellung eines „Miteinanders“, die zeigt, dass der Horizont seiner Studie sowohl weiter gedacht als auch immer noch begrenzt ist. Lebenszeit und Weltzeit enthält eine latente Theorie der Gemeinschaft. Zunächst in der Form der Intersubjektivität, die Blumenberg ganz pragmatisch als eine Form der „Selbsterhaltung auf Gegenseitigkeit“ bestimmt. Die gesellschaftliche und politische Dimension des Lebens und vor allem die Frage der Macht bleiben dabei jedoch völlig ausgespart. Blumenbergs implizite Gesellschaft geht über die Tautologie, dass der Mensch des Menschen Mensch sei, nicht hinaus. Der Fokus auf die existentiellen Bedingungen lässt die vom Menschen gemachten unerwähnt. Hinter der These von der Kränkung durch die „Indifferenz“ der Welt verschwindet das Leiden an der konkreten und strukturellen Ungerechtigkeit. Es ist die spezifische Indifferenz des Philosophen, nicht die der Zeit, die in der Studie lesbar wird. Blumenbergs Existentialismus wirkt nicht nur kleinlich, das anthropologisch gefasste „Weltmissbefinden“ in seiner Ausformulierung kommt auch auffallend bürgerlich daher – und die individualistische Faschismusanalyse ist schlicht problematisch.
Die Studie Lebenszeit und Weltzeit ist so von einer auffallenden Spaltung durchzogen: In dem Maß, in dem sie ihrem Leser Selbstkritik abverlangt, stellt sie sich selbst still und blockiert die Reflexion und Kritik ihrer eignen Prämissen. Ihren ethischen Höhepunkt findet die Studie in der ebenso unvermittelten wie unterbestimmten Forderung des „humanen Insistierens“. Was auch immer das heißen mag – weiter geht Blumenberg, der den Narzissmus des Einzelnen gleichzeitig dekonstruiert und bedient, nicht. Diese Kombination aus ungebrochenem philosophischem Anspruch, die Welt zu erklären, und Beschwichtigung des Denkens macht verständlich, warum Blumenberg zur ungebrochenen Identifikationsfigur der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie wie der bundesrepublikanischen Konservativen geworden ist.