Christine Lötscher: Am 24. Juni 2022 hob der Supreme Court der USA das historische Urteil Roe v. Wade auf, mit dem 1973 die Abtreibung als ein verfassungsmäßiges Recht verankert wurde. Neu kann wieder jeder Bundesstaat eigene Abtreibungsgesetze erlassen, ohne nationale Vorgaben – bzw. Abtreibung ganz verbieten. Bereits im Mai dieses Jahres wurde die Absicht des Obersten Gerichts durch ein Leak bekannt und sorgte international für Schock und Entrüstung. Unterdessen wurde viel über die Bedeutung des Urteils geschrieben, wobei sich die meisten Kommentator:innen einig sind, dass es nicht allein um das Recht von Frauen auf körperliche Selbstbestimmung geht, sondern dass viel mehr auf dem Spiel steht. Der Entscheid wird als Ausdruck eines konservativen Backlash gedeutet, der schon länger im Gang sei. LGBTQ-Rechte sind bedroht, und manche sehen sogar ein Verbot von Verhütungsmitteln im Bereich des Möglichen. Elisabeth Bronfen, was ist mit dem Feminismus passiert, der doch heute so populär ist wie noch nie?
Elisabeth Bronfen: Anfang Juli veröffentlichte Susan Faludi in der New York Times einen Essay, in dem sie genau darauf einging und auf eine problematische Entwicklung hinwies. Feminismus sei seit einigen Jahren „cool“ geworden; alle möglichen Celebrities hätten sich die Sache auf die Fahne geschrieben, bis zu Beyoncé, die bei den MTV Video Music Awards 2016 vor dem riesigen Schriftzug „Feminist“ auftrat. Beyoncé mag ja tatsächlich eine Feministin sein, doch worum es Faludi geht, ist, dass celebrity feminism letztlich immer dem Konsum dient, einem Lifestyle. Und das ist ein Problem, denn Feminismus hat mit Lifestyle nichts zu tun. Faludis Analyse erinnert daran, dass Feminismus, wenn er politisch und kulturell sinnvoll sein soll, aus einer Gemeinsamkeit, einer Gemeinschaftlichkeit heraus entstehen muss, damit er wirkmächtig werden kann. In der zweiten Welle der Frauenbewegung war das auch so, was die aktuelle TV-Serie Mrs. America (Idee: Dahvi Waller, USA 2020) sehr schön herausarbeitet.

Filmplakat, Quelle: moviemeter.nl
loe: Mrs. America erzählt vom Kampf der US-Frauenbewegung für die Ratifizierung des Equal Rights Amendment (ERA) in den späten 1970er Jahren – dem Verfassungszusatz, der Frauen in den USA gleiche Rechte zusichern soll – und endet mit der Wahl Reagans 1980. Die Serie lässt die zentralen Figuren der Frauenbewegung auftreten – Gloria Steinem, Betty Friedan, Bella Abzug oder Shirley Chisholm. Die eigentliche Protagonistin ist aber die Antagonistin, nämlich Phyllis Schlafly, eine Republikanerin aus Illinois, die Hausfrauen und Ultrareligiöse organisiert, um das ERA zu bekämpfen – mit Erfolg. Was für ein Bild des Feminismus wird den Zuschauer:innen hier vermittelt?
EB: Die Serie setzt zwar auf einzelne Figuren, die einen gewissen Glamour haben; vor allem Gloria Steinem als sehr attraktive Frau, die als Mitbegründerin von Ms Magazine durchaus eine Pop-Ikone war – was sich in der Serie darin zeigt, dass lauter Steinem-Lookalikes unterwegs sind. Eine andere wichtige Figur ist Shirley Chisholm, die erste weibliche afroamerikanische Abgeordnete in Repräsentantenhaus, die, als erste Schwarze Person überhaupt, parteiintern als Präsidentschaftskandidatin antrat, aber in der Vorwahl George McGovern unterlag. Eine besonders interessante Figur ist Jill Ruckelshaus, eine weiße republikanische Mutter von fünf Kindern, von der es in der Serie heißt, sie sei „as american as apple pie“. Entscheidend ist, dass diese Aktivistinnen alle Teil einer Bewegung waren. In der TV-Serie läuft die Handlung auf die National Women’s Conference hinaus, die 1977 in Houston, Texas stattfand. Dort fiel die Entscheidung, dass alle Feministinnen an einem Strang ziehen wollen. Nach langen Auseinandersetzungen nehmen sie die Anliegen der lesbischen Aktivistinnen und den Kampf für die Legalisierung von Abtreibung in ihre Agenda auf. Es entsteht ein Kompromiss, der ein gemeinsames Einstehen für das ERA möglich macht. Solche gemeinschaftlichen Aushandlungsprozesse meint Faludi, und das ist auch mir wichtig, wenn man Roe v. Wade und den Kampf für gleiche Rechte zusammendenken will: Wenn Feminismus nicht von einer ausgehandelten, von Differenzen ausgehenden Gemeinschaft ausgeht, hat Feminismus keinen Sinn. Lifestyle-Feminismus, individualistischer Feminismus, Selbstkuratierung ist für eine politische Frauenbewegung nicht brauchbar.

Rose Byrne als Gloria Steinem, Quelle: justjared.com
loe: Heißt das, dass wir Feminist:innen trotz Gender Studies, #metoo-Bewegung und Popularisierung des Feminismus die eigentlichen politischen Entwicklungen verschlafen haben?
EB: Wir müssen jetzt einfach ganz ehrlich zugeben, was eine Freundin in New York auf den Punkt gebracht hat: „we were lazy, we stopped doing the work“. Genau das ist es. Die Republikaner:innen haben in den letzten zwanzig Jahren mit unglaublicher Präzision, Hartnäckigkeit und Disziplin ihre Richter:innen an den verschiedensten Orten eingesetzt und langsam, aber sicher vorbereitet, was wir heute sehen, nämlich einen Supreme Court mit drei sehr konservativen und zwei konservativen Richter:innen. Das Problem ist, dass sich die andere Seite in den letzten fünfzehn Jahren zurückgelehnt hat; sie war sich ihrer Sache zu sicher. Feministische Aktivist:innen haben vergessen, dass es eine gemeinsame Bewegung braucht und haben sich derart in Partikularitäten verstrickt, die man zwar verstehen kann, die man sich aber schon damals nicht hätte leisten dürfen.
loe: Was ich an der Serie so spannend finde, ist das Pathos, das an der Konferenz in Houston zum Ausdruck kommt. Dieses Gefühl, dass Frauen* bei aller Vielfalt, allen Unterschieden, gemeinsam an eine andere Zukunft glauben, wird überwältigend, als alle miteinander „We Shall Overcome“ singen – das jagt mir als Zuschauerin Tränen in die Augen.

Archivfoto der Bühne der Nationalen Frauenkonferenz von 1977 über einem Still von Mrs. America. Quelle: slate.com
EB: Die Serie hat ja zwei Enden. Das erste ist die Konferenz in Houston, wo Frauen aus allen Bereichen des Lebens zusammenkommen – Schwarze, weiße, lesbische, heterosexuelle Frauen, Mütter mit Kindern, Frauen aus der Arbeiterklasse, Mittelschicht etc. Gemeinsam singen sie „We Shall Overcome“, und das ist wirklich sehr bewegend. Und dann gibt es aber noch ein zweites Ende – und das ist der Punkt, wo ich in Tränen ausbreche. Wir sehen eine Montage aus found footage, in der dokumentarisches Material von der Konferenz in Houston, aber auch von anderen Ereignissen zusammengeschnitten ist, zusammen mit Informationen darüber, was eigentlich aus der ERA geworden ist. 1980 wird Reagan gewählt; der erste Präsident, mit dem auch die religiöse Rechte und die Neokonservativen an die Macht kommen. Denn was ganz entscheidend ist und was die Serie auch zeigt, ist, dass der Präsident, der sich am meisten für den ERA einsetzte, nicht etwa Jimmy Carter war, sondern Gerald Ford, weil seine Frau Betty eine glühende Anhängerin des Verfassungsartikels war. Worauf ich hinauswill: Es war eine überparteiliche Geschichte, beide Parteien wollten den ERA. Erst ab 1980 entstand der Graben zwischen dem republikanischen und dem demokratischen Lager. Der ERA wurde von da an benutzt, um diesen wachsenden Graben zwischen dem, was heute Red America und Blue America genannt wird, zu befördern. Die Ratifizierung der ERA in den letzten drei Staaten geschah seit 2017; seit 2020 hängt der ERA im Senat, und auch die Biden/Harris-Administration konnte den Prozess nicht zum Abschluss bringen. Was die Serie mit den beiden Enden also sagen will, ist: Wir können gemeinsam etwas in Bewegung bringen, doch andererseits passiert absolut nichts, wenn es nicht gelingt, die Ziele in der Verfassung zu verankern. Auch Grundsatzentscheide wie Roe v. Wade können wieder umgestoßen werden.
loe: Wenn der ERA in der Verfassung verankert gewesen wäre, hätte Wade v. Roe gar nicht umgestoßen werden können?
EB: Auf der Basis eines in der Verfassung verankerten ERA lässt sich ganz anders argumentieren. Denn es geht beim Recht auf Abtreibung ja darum, ob Frauen über ihren Körper entscheiden können oder ob andere Leute darüber verfügen dürfen – das kann Gott sein, ein Priester, der Ehemann etc. Die Serie zeigt sowohl den Optimismus in Hinblick auf gleiche Rechte, aber auch, wie fragil dieser Optimismus ist.
loe: Das Verstörende an der Serie ist auch, dass die konservative Phyllis Schlafly, die sich für das Vollzeit-Hausfrauen-Modell einsetzt, eine Vollzeit-Politikerin ist, die nebenbei Familie und Personal managt. Performativ ist sie selbst eine Feministin, eine rechte Vertreterin des neoliberalen, radikal unsolidarischen Top Girl-Feminismus, der wie ihn etwa Angela McRobbie beschreibt und kritisiert.

Cate Blanchet als Phyllis Schlafly, Quelle: imdb.com
EB: Wir müssen einfach umdenken. Denn wir gehen immer davon aus, dass Revolution toll ist, dass sie von Links kommt und die Welt besser macht. Im Moment sehen wir aber, dass Revolution auch von Rechts kommen und die Welt nicht in unserem Sinne verändern kann. Es ist wichtig zu verstehen, dass Phyllis Schlafly sich tatsächlich als feministische Aktivistin begreift. Wir denken immer, dass der Begriff dem linken Flügel der Frauenbewegung gehört. Doch die Rechten haben sich den Aktivismus ebenso angeeignet, und das zeigt die Serie sehr schön. Interessant an der Geschichte, die Mrs. America erzählt, ist auch, dass sich Schlafly eigentlich gar nicht für Abtreibung und Frauenrechte interessierte. Sie war eine Kalte Kriegerin, kannte sich mit Sicherheitspolitik und Nuklearwaffen aus und wollte als Frau in diesem Feld ernstgenommen werden. Sie wurde aber nicht ernstgenommen. Kate Blanchett spielt das großartig, und es ist kein Zufall, dass Schlaflys Rolle an einen Star von ihrem Format vergeben wurde. Die Persönlichkeit, die Blanchett bei Schlafly herausarbeitet, schreibt sich ein in eine ganze Reihe konservativer Politikerinnen wie Margaret Thatcher oder auch Angela Merkel. Sie machen die Erfahrung, dass sie sich in der Männerliga nicht durchsetzen können und finden deshalb ein Projekt, mit dem sie sich profilieren können. Schlafly hat erkannt, dass sie ihre Bewegung durch Frauenthemen lancieren kann. Aber erst, nachdem ihr klar gemacht wurde, wie wenig sie innerhalb des Patriarchats tun kann. Also sucht sie sich die Nische, in der sie mächtig sein und etwas bewirken kann. Dafür ist sie – zynisch wie Trump – bereit, sich mit den extremsten religiösen Fanatiker:innen zu verbünden. Der Unterschied zwischen Schlafly und Trump ist aber, dass Trump, wie sich in den Hearings zum Angriff auf das Kapitol gerade gezeigt hat, geistig umnachtet ist, während Schlafly bis zum Schluss als knallharte Ideologin agierte. Schlafly geht es niemals nur um ihre eigene Position, sondern immer um Ideologie.
loe: Beim Bild der konservativen Politikerin, das Du ansprichst, handelt es sich um eine populärkulturelle Figur, die auch etwas Faszinierendes hat. Was macht diesen Figurentyp aus?
EB: In der Inszenierung von Schlafly wird immer wieder Bezug genommen auf andere Filme über mächtige Frauen – etwa Elizabeth (1998), ein Historienfilm über Elisabeth I., die ebenfalls von Kate Blanchett gespielt wurde; aber auch auf die Inszenierung von Margaret Thatcher in The Iron Lady (2011), oder in der vierten Staffel der Serie The Crown (2020). Hier wird ein konservatives weibliches Politikerinnenbild aufgerufen, das mit Unnahbarkeit, mit Panzerung und Rüstung, aber auch mit einer aristokratisch anmutenden Überlegenheit verbunden ist. Gefolgschaft wird erwartet, Konflikte werden unterdrückt. Das ist ein Fantasiebild, dem das lebendige Aushandeln von Konflikten unter den Feministinnen gegenübersteht.
loe: Erfolgreiche konservative Frauen wie Schlafly kämpfen, wenn sie gegen Gleichstellung antreten, also nicht nur für patriarchale und religiöse Werte, sondern auch um die eigenen Position.
EB: Hinter Schlaflys Aktivismus steht die Angst, dass ihre amerikanischen Werte durch eine Emanzipation der Frauen zerstört werden könnten. Es gibt nämlich noch ein drittes Ende der Serie, das ebenso bewegend ist wie die ersten beiden. Der frischgewählte Ronald Reagan ruft bei Phillys Schlafly an, um ihr für ihr Engagement zu danken. Sie hatte aber gehofft, in sein Kabinett berufen zu werden. In der republikanischen Partei wollen 1980 aber noch so viele Frauen, anders als Reagan, die Ratifizierung des ERA, dass es sich Reagan nicht leisten konnte, eine Gegnerin als Ministerin einzusetzen. Die Situation um 1980 ist, wie dieses Beispiel zeigt, sehr viel komplexer und ambivalenter, als man heute denkt. Die Serienmacherinnen arbeiten heraus, dass die Stimmung bei den Feministinnen, die in Houston alle zusammenfinden, zwar sehr viel gemeinschaftlicher und optimistischer ist – die Siegerin allerdings ist die Gegnerin, die am Ende, nach dem enttäuschenden Telefonat mit Reagan, allein in der Küche steht und Apple Pie bäckt. Doch sie ist hartnäckig und geduldig und wird über dreißig Jahre lang dranbleiben. Phyllis Schlafly hat kurz vor ihrem Tod 2016 noch ein Buch über Trump geschrieben und heute muss man sagen: wenn man den Roe v. Wade-Entscheid ansieht, dann hat Schlafly gegenüber den Frauen, die das ERA durchsetzen wollen, gewonnen.
loe: Das ist eine bittere Erkenntnis. Gerade für eine Serie, die den Gegensatz zwischen den starren, die konservative Regulierung des weiblichen Körpers bis ins Detail von Kleidung und Haltung reproduzierenden Eagles, wie sich Schlaflys Gruppierung konservativer Frauen nennt, und den transgressiv, offen und lebendig inszenierten linken Feministinnen so konsequent durchdekliniert.

Margo Martindale als Bella Abzug führt die Frauen zur Konferenz, Quelle: vulture.com
EB: Die Serie ist ganz klar auf der Seite der ERA, was durch die Inszenierung der Pathosformel von Gemeinschaft und Solidarität auch auf die Zuschauer:innen übergreift. Sie zeigt, dass politische Haltung nicht einfach eine Frage von Links und Rechts ist oder von Klasse und Privilegien. Menschen können auch von besseren Argumenten überzeugt werden, was am Beispiel von Schlaflys engster Freundin durchgespielt wird. Diese Freundin lebt in großer Angst, dass Hausfrauen ihrer Privilegien beraubt werden könnten – bis sie in Houston in Kontakt mit Gloria Steinem kommt und erkennt, welche Möglichkeiten die Emanzipation für Frauen eröffnet. 2022 wäre ein solcher Meinungsumschwung nicht mehr möglich – die Fronten sind zu hart. In diesem Sinne ist die Serie nostalgisch. Aber auch utopisch, denn sie sagt: da müssen wir wieder hin. Deshalb ist die Serie nicht zynisch; sie ist traurig.
loe: Und welche Schlussfolgerungen ziehst Du daraus?
EB: Es ist wichtig, dass die jungen Frauen heute den älteren und ganz alten Frauen zuhören. Denn was wir mit dem Entscheid des Supreme Court gerade gesehen haben, rührt an etwas, von dem junge Amerikanerinnen dachten, es sei unumstößlich. Sie gingen fest davon aus, dass sie die Möglichkeit haben würden, ihr Leben auch dann zu leben, ihre Ausbildung auch dann abschließen zu können, wenn sie etwa als Teenager ungewollt schwanger werden. Jetzt können wir wieder von vorne anfangen. Und genau hier setzt das Interesse der jungen Serien-Macherinnen von Mrs. America an: Es ist wichtig, sich die Geschichten der Frauen, die in der zweiten Frauenbewegung dabei waren, anzuhören. Denn die Errungenschaften, die man sicher zu haben glaubt, sind vulnerabel. Es ist gefährlich, sich in Sicherheit zu wiegen. Die älteren Generationen von Frauen sind Trägerinnen von unglaublichem Wissen, auf das man heute zurückgreifen kann. Sie können sich an die Kämpfe von damals erinnern und kennen die Strategien, die man einsetzen kann, ganz zu schweigen von den Argumenten, was die ganzen Ambivalenzen und Widersprüche und Komplikationen von politischen Bewegungen betrifft. Im besten Fall ist die Aufhebung des Roe v. Wade-Urteils ein Weckruf im doppelten Sinne: Das eine ist die Erkenntnis, dass nichts an der Emanzipation sicher ist, es kann alles zurückgenommen werden. Und, das ist der zweite Punkt, wir müssen die Verbindungslinien zwischen den Generationen festigen und daran festhalten – denn nur daraus kann die Gemeinschaftlichkeit entstehen, die es für eine wirkmächtige politische Bewegung braucht.
Die Gleichsetzung von Angela Merkel mit Frau Thatcher ist völlig unzutreffend. Sie erklärt sich wohl aus der USA-Zentriertheit dieses Artikels.