I. Ausgangslage

Geplanter Erweiterungsbau Kurzstrafen- und Aussschaffungsgefängnis Basel, 2015. Bild: JSD BS
Am 28. November 2010 wurde die sog. Ausschaffungsinitiative von Volk und Ständen angenommen. Das Charakteristikum der neuen Verfassungsnorm ist der Automatismus der Landesverweisung bei Erfüllung bestimmter Straftatbestände. Das bedeutet, dass die Verhältnismässigkeit der Landesverweisung prinzipiell nicht mehr überprüft würde. Weil das im Widerspruch zur Bundesverfassung steht, welche die Prüfung der Verhältnismässigkeit für jegliches Verwaltungshandeln vorschreibt, aber auch zur EMRK und zum UNO-Pakt II, sieht die Ausführungsgesetzgebung eine Härtefallklausel vor. Diese Relativierung des Automatismus ist der SVP ein Dorn im Auge. Denn damit sieht sie ihre erfolgreiche Ausschaffungsinitiative in deren Kern bedroht. Um Diskussionen über den Grundsatz der Verhältnismässigkeit bzw. die Härtefallklausel aus dem Wege zu gehen, verzichtete die SVP auf die Ergreifung des Referendums, und legte stattdessen die sog. Durchsetzungsinitiative nach. Die Durchsetzungsinitiative ist ein Monstrum sowohl in formeller wie inhaltlicher Hinsicht. Während die Ausschaffungsinitiative (Art. 121 Abs. 3-6 BV) in der Verfassung stehen bleibt, soll das, was in die Ausführungs- bzw. Umsetzungsgesetzgebung gehörte, ebenfalls Verfassungsinhalt werden. Gleichzeitig liegt aber nach unbenützt abgelaufener Referendumsfrist die Ausführungsgesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative vor. Zwischen dieser und der Durchsetzungsinitiative bestehen Widersprüche. Es dürfte sich auch um eine Premiere handeln, dass ein neuer Straftatbestand, der sog. Sozialmissbrauch, in der Bundesverfassung normiert wird. Über diese mehr formellen Mängel könnte noch hinweg gesehen werden. Das Gefährliche der Initiative ist die Aushebelung elementarer Rechtsgrundsätze, die Schwächung der dritten Gewalt und die präjudizielle Wirkung hinsichtlich der sog. Selbstbestimmungsinitiative.
II. Differenzen zur Ausschaffungsinitiative (Art. 121 Abs. 3–6 BV)
1. Erweiterung der Landesverweisungstatbestände
Die Ausschaffungsinitiative umschreibt die Tatbestände relativ allgemein: Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, eines andern Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts sowie wegen missbräuchlichen Bezugs von Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe (Art. 121 Abs. 3 BV) und überlässt die nähere Umschreibung der Tatbestände oder deren Ergänzung dem Gesetz (Art. 121 Abs. 4 BV). Ausgewiesene sind mit einem Einreiseverbot von 5 – 15 Jahren zu belegen, im Wiederholungsfall mit einem Verbot von 20 Jahren (Art. 121 Abs. 5 BV). Inzwischen ist Art. 121 Abs. 3-6 BV gesetzlich umgesetzt worden. Auf Details des sehr umfangreichen Tatbestands- katalogs (Art. 66a Abs. 1 StGB) ist hier nicht näher einzugehen.
Der Katalog der Landesverweisungstatbestände gemäss Durchsetzungsinitiative entspricht in grossen Teilen jenem der umgesetzten Ausschaffungsinitiative (Art. 197 Ziff. 9.1), wobei allerdings mehrere Straftatbestände neu hinzugekommen sind: So etwa Gewalt oder Drohung gegen Behörden und Beamte, falsche Anschuldigung, falsches Gutachten, falsche Übersetzung.
In einem wichtigen Punkt geht die Durchsetzungsinitiative allerdings wesentlich weiter: Wer z.B. wegen einfacher Körperverletzung, Raufhandels, Angriffs, Hausfriedensbruchs in Verbindung mit Sachbeschädigung oder Diebstahl – an sich keine obligatorischen Ausschaffungstatbestände – verurteilt wird, wird dennoch obligatorisch des Landes verwiesen, wenn er in den letzten 10 Jahren zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt wurde (Art. 197 Ziff. 9.2). Diese „Two-strike“-Norm hat namentlich (noch nicht eingebürgerte) Secondos, aber auch Expats im Auge.
Beispiele: Ein junger Erwachsener, der wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand bestraft worden ist und neun Jahre später in eine Schlägerei gerät, müsste des Landes verwiesen werden. Ein junger Erwachsener, der wegen Haltens einer Haschischpflanze auf dem Balkon bestraft wurde und Jahre später eine einfache Körperverletzung begeht, müsste ebenfalls des Landes verwiesen werden.
Noch einen weiteren Umstand gilt es zu bedenken: 2014 heirateten rund 23% in der Schweiz geborene Schweizer Staatsangehörige ausländische Staatsangehörige. Es ist voraussehbar, dass bei einer Annahme der Initiative Schweizer Familien auseinandergerissen würden mit der Konsequenz, dass die schweizerische Gattin und ihre Kinder fürsorgeabhängig würden.
2. Sozialmissbrauch als obligatorischer Landesverweisungsgrund
Gemäss der die Ausschaffungsinitiative umsetzenden Gesetzesnovelle wird mit Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft, wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass er oder ein anderer Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem anderen nicht zustehen. In leichten Fällen ist die Strafe Busse (Art. 148a StGB). Gemildert wird der Ausschaffungstatbestand durch die Härtefallklausel der Gesetzesnovelle, die zwar Secondos schützen könnte, Expats jedoch eher nicht.
Die Durchsetzungsinitiative umschreibt den Straftatbestand im Wesentlichen gleich (Art. 197 Ziff. 9/V), enthält aber zwei wesentliche Verschärfungen. Zum einen wird auch der Versuch unter Strafe gestellt und zum andern wird der Strafrahmen von 1 auf 5 Jahre erhöht (Art. 197 Ziff. 9, V/1). Im Vergleich dazu werden mit einer Maximalstrafe von 5 Jahren bestraft: Diebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB), Verleitung oder Beihilfe zum Suizid (Art. 115 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), Veruntreuung (Art. 138 StGB).
Beispiel: Ein Expat, der gegenüber der Familienausgleichskasse den Ausbildungsunterbruch seines Sohnes nicht deklariert, macht sich gemäss der Durchsetzungsinitiative (auch wenn der Versuch erfolglos blieb) strafbar und wird automatisch ausgeschafft, selbst wenn der Fall als leicht eingestuft und auf eine Busse erkannt wird.
3. Automatismus und keine Härtefallregelung
Das Parlament hat den in der Ausschaffungsinititiative vorgesehenen Automatismus entschärft mit einer Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB). Nach dieser kann der Richter „ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.“ Damit wird dem Verhältnismässigkeitsgebot und insbesondere der Situation von „Secondos“ Rechnung getragen, die ins Herkunftsland und damit unter Umständen in ein ihnen völlig fremdes Land ausgewiesen würden, deren Sprache sie nicht kennen und wo sie weder verwandtschaftliche noch sonstige soziale Beziehungen haben.
Die Durchsetzunginitiative richtet sich genau gegen diese Klausel. Sie beharrt auf dem Automatismus, der – im Verhältnis zur Ausschaffungsinitiative – noch verstärkt wird durch die „Two-strike“- Bestimmung, wonach die Landesverweisung selbst für nicht schwerwiegende Delikte obligatorisch ist, wenn jemand vorbestraft ist – und das auf 10 Jahre zurück. Die prinzipielle Weigerung, die Verhältnismässigkeit einer Landesverweisung zu prüfen, bedeutet eine beispiellose Missachtung der Menschenrechte. Darin liegt aber auch eine gravierende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Denn wenn die einschneidenste Sanktion einer Straftat, die Landesverweisung, keiner Prüfung unterliegt, wird die betroffene Person dazu auch nicht angehört.
Im Kontrast dazu steht, dass man neuerdings auf den für Raser vorgesehenen Sanktionsautomatismus zurückkommen will mit der Begründung, es gehe lediglich darum, die Verhältnismässigkeit bei der Bestrafung von Temposündern wieder herzustellen (so Nationalrat Regazzi mit Support von Ständerat Reimann laut Tages-Anzeiger vom 18. Dezember 2015, S. 5).
III. Verhältnis zum Völkerrecht
Eingedenk dessen, dass sowohl die Bundesverfassung als auch das Völkerrecht, konkret die EMRK und der UNO-Pakt II, bei schwerwiegenden Eingriffen in Grundrechte die Prüfung der Verhältnismässigkeit gebieten, hat das Parlament bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative für die Aufnahme einer Härtefallklausel gesorgt. Um das „unbequeme“ Völkerrecht vom Tisch zu haben, sieht die Durchsetzungsinitiative vor, dass seine Bestimmungen dem nicht zwingenden Völkerrecht vorgehen.
IV. Durchsetzungsinitiative – ein Papiertiger?
1. Pacta sunt servanda
Vertraglich zustande gekommenes Völkerrecht wie namentlich die EMRK und der UNO-Pakt II ist verbindlich: Pacta sunt servanda. Insoweit geht Völkerrecht dem Landesrecht zwingend vor. Dabei spielt keine Rolle, auf welcher Stufe davon abweichendes Landesrecht steht. Das Bundesgericht müsste daher der direkt anwendbaren Norm (so die Marginalie von Art. 197 Ziff. 9 der Durchsetzungsinitiative) die Gefolgschaft verweigern, d.h. der neuen Norm zum Trotz die Verhältnismässigkeit einer Ausschaffung prüfen und der betroffenen Person das rechtliche Gehör gewähren. Insoweit zeitigte die Durchsetzungsinitiative keine Wirkung. Das führte allerdings zum von der sog. Selbstbestimmungsinitiative heraufbeschworenen Widerspruch zwischen Landes- und Völkerrecht (so diese Initiative Erfolg haben sollte) und damit zwingend zur Kündigung der EMRK.
2. Das Gesetz geht der Verfassung vor
Die Referendumsfrist gegen die die Ausschaffungsinitiative umsetzende Gesetzesnovelle ist am 9. Juli 2015 unbenützt abgelaufen. Die vom Bundesrat noch nicht in Kraft gesetzte Gesetzesnovelle schreibt die Härtefallprüfung vor. Bundesgesetze sind gemäss Art. 190 BV für die Gerichte verbindlich. Dass die Verfassung hierarchisch über dem Gesetz steht, spielt im Kontext von Art. 190 BV gerade keine Rolle. Das Verbindlichkeitsgebot bedeutet gemäss Lehre und konstanter Rechtsprechung, dass die Gerichte den Gesetzen nicht unter Berufung auf deren Verfassungswidrigkeit die Gefolgschaft verweigern dürfen. Damit bliebe das Gebot der Härtefallprüfung auch nach einer Annahme der Durchsetzungsinitiative bestehen.
Die SVP würde wohl zu argumentieren versuchen, dass die Durchsetzungsinitiative als spätere Spezialbestimmung dem allgemeinen Verbindlichkeitsgebot von Art. 190 BV vorgehe. Dem wäre aber zu widersprechen. Denn bei für das schweizerische Rechtsverständnis derart zentralen Fragen (Tragweite von Art.190 BV; Gebot der Verhältnismässigkeit; Gewährung des rechtlichen Gehörs) besteht kein Raum für formalistisches Argumentieren. Die Durchsetzungsinitiative statuiert keine ausdrücklichen Ausnahmen, weder vom Verhältnismässigkeitsgebot (Art. 5 BV) noch von der Verbindlichkeit der Gesetze (Art. 190 BV), noch vom Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Im Übrigen hätte sich für die Gegner der Verhältnismässigkeitsprüfung bzw. der Härtefallklausel die Ergreifung des Referendums geradezu aufgedrängt. So aber bliebe es selbst bei Annahme der Durchsetzungsinitiative bei der gesetzlich vorgeschriebenen Härtefallprüfung. Denkbar ist, dass Druck auf den Bundesrat ausgeübt würde, die Gesetzesnovelle und mit dieser die Härtefallklausel gar nicht erst in Kraft zu setzen. Das Nicht-in-Kraft-setzen eines vom Volk durch Verzicht auf das Referendum angenommenen Gesetzes wäre allerdings ein unerhörter Vorgang.
3. Kündigung völkerrechtlicher Verträge als Lösung im Sinne der SVP?
Gemäss Art. 190 BV sind nicht nur die Gesetze, sondern auch das Völkerrecht massgebend, d.h. verbindlich. Während die EMRK kündbar ist, ist es der vom Parlament 1991 genehmigte und dem Referendum unterstellte UNO-Pakt II nicht. Dessen Normen, die wie die EMRK die Prüfung der Verhältnismässigkeit bei schweren Eingriffen in Grundrechte verlangen, blieben trotz Kündigung der EMRK bestehen bzw. für die Schweiz verbindlich. Daran vermögen einseitige Willenserklärungen nichts zu ändern. Im Übrigen verstiesse der vollständige Ausschluss der Prüfung der Verhältnismässigkeit bei schwerwiegenden Eingriffen in die Grundrechte ohnehin gegen zwingendes Völkerrecht, welches selbst die Durchsetzungsinitiative vorbehält
V. Aussichten
Alles halb so schlimm? Nein. Denn mit der Überhöhung des sogenannten Volkswillens und dem damit einhergehenden Versuch, die dritte Gewalt auszuschalten, auf was der Sanktionsautomatismus letztlich abzielt, würde sich die plebiszitäre Demokratie in Richtung autoritärer Staat bewegen. Putin lässt grüssen: Allerdings hat er, propagandistisch beschlagen, auf eine Kündigung der EMRK verzichtet, seine Probleme aber durch Erlass eines Gesetzes gelöst, wonach Urteile des EGMR nur noch umgesetzt werden, wenn diese nicht gegen die russische Verfassung verstossen (so NZZ vom 16. Dezember 2015, S. 5).
Im November 2015 schreckte die Meldung auf, dass laut Umfrage 66% der Befragten die Durchsetzungsinitiative befürworten würden. An der Zuverlässigkeit der Umfrage mag man zweifeln. Dennoch darf die Meldung nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Es ist zwar anzunehmen, dass die Befragten kaum detaillierte Kenntnisse hinsichtlich der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative durch das Parlament und der am 28. Februar 2016 zur Abstimmung gelangenden Durchsetzungsinitiative hatten. Bessere Kenntnisse dürften sie allerdings auch bei der Abstimmung nicht haben. Aufklärung tut daher Not.