Das Künstlerkollektiv Taring Padi wurde nach dem Sturz des indonesischen Langzeitherrschers Haji Suharto im Jahr 1998 gegründet. Es ist ausgesprochen radikal, antimilitaristisch, antineoliberal, unterstützt die Arbeiter-, Bauern- und Frauenbewegung und setzt sich für Umweltschutz ein. Kurz nach seiner Gründung im Jahr 2002 schuf das Künstlerkollektiv als direkte Antwort auf die Diktatur des Suharto-Regimes sein größtes Gemälde: Es trägt den Titel „People’s Justice“ („Volksjustiz“). Das Bild stellt ein Volksgericht dar – an seiner Spitze befinden sich die Richter, zur Linken die Feinde des Volkes. Darunter erblickt die Betrachterin karikaturistische Figuren, die wiederum für die westlichen Staaten stehen, die Suhartos Regime unterstützten. Über 20 Jahre lang wurde „People’s Justice“ auf internationalen Kunstmessen gezeigt, das erste Mal im südaustralischen Adelaide. Die Kurator:innen der documenta fifteen entschieden sich dafür, das Bild an den prominentesten Platz der Ausstellung zu platzieren, um so das Publikum direkt mit der Thematik der Reparation des (Neo-)Kolonialismus und des Kapitalismus zu konfrontieren. Bis zur documenta im Jahr 2022 scheint die antisemitische Karikatur des orthodoxen Juden inmitten der zahlreichen anderen Figuren auf der überfüllten Leinwand niemandem aufgefallen zu sein. Verständlicherweise jedoch rief das Bild in Deutschland einen Sturm der Entrüstung hervor; es wurde bald abgedeckt und dann entfernt.
Sollten das Gemälde und seine Hängung auf der documenta ursprünglich den Westen für seine Unterstützung des Suharto-Regimes anklagen, fiel es jetzt auf die Künstler:innen, das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das die documenta kuratiert hatte, die Leitung der documenta und die lokalen, regionalen und nationalen deutschen Kulturpolitikerinnen und -politiker zurück. Zahlreiche Journalist:innen und Politiker:innen aus den Reihen der CDU/CSU bis hin zur AfD ergriffen die Gelegenheit, eine Kampagne gegen den von ihnen offenbar erst kürzlich entdeckten Postkolonialismus zu lancieren – und dies, obwohl sich Taring Padi mehr als linksradikale Künstler-Aktivist:innen denn als Teil einer globalen postkolonialen Bewegung verstehen. Den Kritikern diente das Gemälde aber auch dazu, die palästinensischen Künstler:innen an der documenta des Antisemitismus zu bezichtigen – und schließlich, um selbst noch die geringe künstlerische Unabhängigkeit in Frage zu stellen, über welche Kulturinstitutionen in Deutschland verfügen. Es ist sogar die Rede davon, dass der deutsche Kultursektor sich einem „Selbstreinigungsprozess“ unterziehen soll, um sich von seiner vermeintlichen Sympathie für die Menschenrechte von Palästinenserinnen und Palästinensern zu lösen. Dabei findet niemand, man könne die fragliche Figur auf dem Gemälde verteidigen, nicht einmal Taring Padi selbst, die sich entschuldigt und jegliche antisemitische Intention abgestritten haben.
Indonesische Kolonialgeschichte
Auf dem Bild befindet sich noch eine weitere Figur, die antisemitische Züge trägt: ein Schwein in Uniform, das den Staat Israel repräsentiert, was durch die Aufschrift „Mossad“ auf seinem Helm verdeutlicht wird. Das Schwein steht inmitten einer Reihe beinahe identischer Figuren anderer Geheimdienste, darunter jene der Australian Security Organisation (auf dem entsprechenden Helm findet sich das Akronym ASIO). Als Australier verstehe ich sehr gut, warum auf dem Bild auch „unser“ Geheimdienst repräsentiert ist (auch wenn „People’s Justice“ eigentlich den Australian Security Intelligence Service [ASIS] zeigen müsste, zu dessen Aufgaben die internationale Sicherheit gehört). Wie Israel und die Bundesrepublik Deutschland zählte auch Australien zu den treuen Verbündeten von Suhartos mörderischer „Neuer Ordnung“ („Orde Baru“), die in den Jahren 1965-1966 mit der genozidalen „Säuberung“ von 500’000 indonesischen Kommunist:innen begonnen hatte und bis 1998 mit brutaler militärischer Unterdrückung – unter anderem auch der Islamisten – herrschte. In dieser Zeit kam es zwischen 1975 und 1999 auch zu der von manchen als genozidal bezeichneten Besetzung Osttimors. Eine generelle Ablehnung des Westens, darunter des Mossad, gespeist aus der „Enttäuschung, Frustration und Wut politisierter Kunststudenten“, wie Taring Padi den Kontext des Bildes erläutern, vermag daher kaum zu verwundern. Warum jedoch den Mossad mit der antisemitischen Karikatur eines orthodoxen Juden in Verbindung bringen? Trotz mehrerer Interviews mit Taring Padi gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort, und leider ist das Mitglied des Künstlerkollektivs, das die Figur gemalt hat, nicht mehr am Leben.
Der historische Kontext liefert jedoch einige Erklärungsansätze. Antisemitismus ist der indonesischen Kultur nicht fremd, vielmehr reichen seine Wurzeln in der Geschichte des Landes mindestens 100 Jahre zurück. Phantasmatische Vorstellungen über Juden lassen sich bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen, als nur wenige Menschen jüdischen Glaubens in Niederländisch-Ostindien lebten. Sie stammten aus den Niederlanden, Osteuropa, Armenien, dem Irak und China, trieben Handel, trafen sich in Freimaurerlogen und gründeten 1927 eine zionistische Organisation, wie der verstorbene Historiker Jeffrey Hadler von der Universität von Kalifornien, Berkeley, schrieb. Er unterschied 2004 zwischen einem damals in Indonesien populären „Anti-Israelismus“ und etwas, was er als „wirklichen Antisemitismus“ bezeichnet. Letzterer war, so Hadler, durch die niederländische Nazi-Bewegung und nazifizierte ortsansässige Deutsche aus Europa importiert worden. Schon zuvor hatten niederländische Kolonialbeamte chinesische Händler bezichtigt, sich „wie Juden“ zu benehmen und so die antisemitische Saat gesät.
Die Muster der Dekolonisierung führten zu einer weiteren Identifizierung von Juden mit Europäern und anderen Außenseitern. Einerseits wurden sie als „Weiße“ markiert, andererseits jedoch mit der größeren Minderheit, den Chinesen, in Verbindung gebracht. Als die Japaner Niederländisch-Ostindien 1942 eroberten, wurden Jüdinnen und Juden nicht inhaftiert, da sie nicht Bürger feindlicher Staaten waren. Auf die Frage der Gestapo, wer inhaftiert worden sei, erhielt sie die Antwort: „Alle feindlichen Staatsangehörigen, außer die beiden weißen Rassen, die Juden und die Armenier.“ Die Gestapo forderte die Japaner auf, die Juden aus neutralen Ländern zu inhaftieren. Nach dem Krieg, während des Kampfes gegen die indonesischen Nationalisten, bewachten die britischen und die besiegten japanischen Streitkräfte die inhaftierten Juden, was in der antikolonialen Vorstellungswelt zu ihrer Gleichsetzung mit den Gegnern der Unabhängigkeit führte. Zudem beteiligen sich jüdisch-niederländische Soldaten an den niederländischen „Polizeiaktionen“ gegen den indonesischen Unabhängigkeitskampf, unterstützten zugleich aber den entsprechenden zionistischen Kampf in Palästina. Wie (andere) Europäer verließen die meisten Juden das künftige Indonesien und handelten somit entsprechend einem wiederkehrenden Muster, dem gemäß Juden die Gesellschaften im Dekolonisierungsprozess verließen und in die koloniale Metropole zogen, deren Staatsbürgerschaft sie besaßen, oder in andere westliche Länder – oder in den neu gegründeten Staat Israel. Die wenigen niederländischen Jüdinnen und Juden, die nach der indonesischen Unabhängigkeit im Jahr 1949 noch im Land blieben, entschieden sich meist dazu, die niederländische Staatangehörigkeit zu behalten, was wiederum den Eindruck verstärkte, sie seien weiße Europäer, die mit der früheren Kolonialmacht unter einer Decke steckten. Erst Sukarnos Nationalisierungspolitik erzwang nach 1957 eine Entscheidung für die lokale Staatsangehörigkeit. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Indonesien nur noch dreißig jüdische Familien.
Sündenböcke
Diese winzige Gemeinschaft war ein äußerst bequemer Sündenbock, mit dessen Hilfe sich der anti-chinesische Rassismus kanalisieren ließ. Die Chinesen können in zweierlei Hinsicht als Beispiel für die – phantasmatische – Allgegenwärtigkeit der jüdischen Bedrohung dienen: Sie verkörpern vermeintlich „jüdische“ kapitalistische Züge und agieren angeblich als Agenten „der Juden“. Zu großen Teilen ist der Antisemitismus in Indonesien eine Abstraktion, die durch die Chinesen vermittelt wird: Die tatsächliche Gewalt richtet sich gegen Letztere. So wurden zu Beginn der asiatischen Finanzkrise 1998 während Ausschreitungen 1’000 Chines:innen getötet. Der anti-chinesische Rassismus besteht noch heute. Zuvor hatten die Nationalisten während des Unabhängigkeitskampfes in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Chinesen und indonesische Eurasier wegen ihrer vermeintlichen Illoyalität gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung ermordet.
Die Juden wiederum werden regelmäßig mit Israelis gleichgesetzt. Kurze Zeit nach seinem Sturz im Jahr 1998 gab Suharto in einem Interview mit einer islamischen Zeitschrift einer internationalen zionistischen Verschwörung die Schuld an seinem Schicksal. Sein malaysischer Amtskollege, Premierminister Mahatir Mohamad, machte die Juden als „finstere Kräfte“ für die asiatische Finanzkrise von 1998 verantwortlich. Auch Suharto beschwor finstere Kräfte, als er behauptete, eine zionistische Verschwörung habe die Unruhen provoziert, die nach der Finanzkrise ausbrachen. Als er gefragt wurde, ob eine Verschwörung an seinem Sturz schuld sei, antwortete er:
Es war eine zionistische Verschwörung. Die indonesische Regierung ist mit den systematischen und taktischen Machenschaften der Zionisten fahrlässig umgegangen. […] Die Zionisten […] befürchteten, Indonesien könnte zum Zentrum eines erstarkenden Islams werden. Deshalb wurde Indonesiens Wachstum angegriffen, wie die ökonomische und die monetäre Krise gezeigt haben. Es gibt nun einige indonesische Politiker, die sich weigern, ihre eigene Geschichte anzuerkennen und stattdessen nach Westen schauen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass Suharto Israel als auf der Seite der Kolonialmächte, das heißt des Westens stehend identifizierte und damit als Feind der Indonesier – obwohl Israel, wie Joseph Croitoru kürzlich erläuterte, Suhartos autoritäres Regime unterstützt hatte. Solche Behauptungen wurden seit den späten 1980er Jahren in Publikationen der islamistischen Opposition verbreitet, und Suharto erhoffte sich öffentliche Unterstützung, wenn er sich auf sie bezog. Verschwörungstheorien sind seit den 1980er Jahren in Indonesien auf dem Vormarsch. Selbst der Rotary Club, die Marxisten, Coca-Cola und Rupert Murdoch sind für viele Indonesier Teil einer weltweiten Verschwörung, so Adrian Vickers, Indonesienexperte an der Universität Sydney.
Antikolonialismus und Antisemitismus
Mit anderen Worten: Auch wenn Taring Padi Suharto ablehnend gegenübersteht, verwendete der für die Figur verantwortliche Künstler in seinem antikolonialen, antiwestlichen, antikapitalistischen Gestus die gleiche antisemitische Bildsprache wie der ehemalige Diktator. Die antikoloniale Haltung ist ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität der Indonesier:innen; die Präambel der indonesischen Verfassung, die während des erbitterten Unabhängigkeitskampfes gegen die Niederländer nach der japanischen Besatzungszeit geschrieben wurde, beginnt sogar mit der Forderung, dass „jeglicher Kolonialismus in der Welt abgeschafft werden muss, da Kolonialismus nicht im Einklang mit Menschlichkeit und Gerechtigkeit steht“. Es ist daher auch kein Zufall, dass der erste Präsident des Landes, Ahmed Sukarno, 1955 in Bandung der Gastgeber des berühmten Treffens asiatischer und afrikanischer Staats- und Regierungschefs war, die 54% der Weltbevölkerung repräsentierten. Er eröffnete das Treffen mit einer bewegenden Rede, in der er eine postkoloniale Zukunft heraufbeschwor:
Erinnern wir uns daran, dass das Ansehen der gesamten Menschheit geschmälert wird, solange Nationen oder Teile von Nationen noch unfrei sind. Erinnern wir uns daran, dass das höchste Ziel des Menschen die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Angst, den Fesseln der Erniedrigung des Menschen, den Fesseln der Armut ist – die Befreiung des Menschen von den physischen, geistigen und spirituellen Fesseln, die die Entwicklung der Mehrheit der Menschheit zu lange gehemmt haben.
Taring Padis „People’s Justice“ und viele andere ihrer Arbeiten sind ein Ausdruck eben dieser Haltung. Leider bedienten sie sich dabei des altbekannten Bildes vom „Juden“ als fremder Ausbeuter der Völker und als Kriegstreiber: kurz, als internationale Bedrohung. Das war allerdings nicht Teil des ursprünglichen Befreiungskampfs der Indonesier, denn der Gegner damals war allzu konkret: die niederländischen Streitkräfte. In ihrer detaillierten Erörterung von Taring Padi und der indonesischen Kunst stellen die in Australien lebenden Kunsthistoriker:innen Wulan Dirgantoro und Elly Kent dem Kollektiv zu Recht schwierige Fragen zu diesen künstlerischen Entscheidungen und politischen Vorstellungen: „Haben Sie diese Symbolik wirklich verstanden oder haben Sie sie unkritisch aus der Masse der Bilder übernommen, die in einem öffentlichen Diskurs zirkulierten, der Antisemitismus mit Antiimperialismus und Antikapitalismus verband?“
Als er am 6. Juli 2022 vor dem Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags über den documenta-Skandal aussagte, gab Ade Darmawan von ruangrupa zur Herkunft der inkriminierten Figur eine ausweichende Antwort, die das Protokoll des Bundestages folgendermaßen wiedergibt: „Die im Bild gelesene antisemitische Bildsprache sei bereits im 18. Jahrhundert von den niederländischen Kolonialherren nach Indonesien gebracht worden und dort vor allem auf die chinesische Bevölkerungsminderheit übertragen worden. Die indonesische Bildsprache sei von völlig anderen historischen Erfahrungen geprägt als in Deutschland.“ Das mag sein. Dennoch setzt die hier verwendete Bildsprache Israelis und Juden gleich und stellt sie zusammen mit anderen Westlern in einer globalen Kampagne gegen Indonesier dar.
Palästinensische Kritik
Es ist für viele verwirrend, zwischen Juden und dem Staat Israel zu unterscheiden, dessen Flagge das jüdische religiöse Symbol ist, das den Anspruch erhebt, die Gesamtheit aller jüdischen Menschen zu repräsentieren. Auch Politiker wie US-Präsident Joe Biden lassen verlauten, dass „Israel die ultimative Garantie und der Garant für das jüdische Volk [sei], nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt“ – eine Aussage, die die Selbstdarstellung des israelischen Staates reflektiert. Das Gleiche tun pro-israelische Journalist:innen in Deutschland, wenn sie etwa schreiben: „Israelische Künstler werden nicht eingeladen zu den subventionierten Großveranstaltungen […]. Anscheinend hat die Kunst ein Problem mit den Juden.“ Taring Padi spiegelt somit eine weit verbreitete Praxis wider, welche Juden und den Staat Israel gleichsetzt. Das Hässliche der antisemitischen Karikatur in „People’s Justice“ wird durch die Verwendung des SS-Symbols noch verschlimmert, da sie suggeriert, dass „die Juden“ Nazis seien, und sie überdies zusammen mit Nazis in eine Reihe mit anderen Volksfeinden stellt. Das ist grober Antiimperialismus und zugleich ein rassistisches Stereotyp. Jeffrey Hadlers Unterscheidung zwischen Anti-Israelismus und wirklichem Antisemitismus funktioniert an diesem Punkt nicht mehr.
Hadlers Unterscheidung bleibt hingegen für die palästinensischen Künstler auf der documenta gültig. Mahommed Al Hawajri aus Gaza zeigt eine Bilderserie mit dem Titel „Guernica Gaza“, welche israelische Streitkräfte und palästinensische Zivilisten abbildet und hierzu Motive aus berühmten europäischen Kunstwerken verwendet. Die Serie beruft sich nicht auf religiöse jüdische Symbole, eine jüdische Weltverschwörung oder auf Bilder stereotyper „jüdischer“ Figuren, und natürlich kämpfen in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften auch nicht-jüdische Soldat:innen wie Drusen und Beduinen. Al Hawajris Kunst greift weder das jüdische „Wesen“ an noch konzeptualisiert sie es als Abstraktion – sie wendet sich allein gegen das israelische Militär. Während die „jüdischen“ Figuren in „People’s Justice“ eine Abstraktion darstellen, repräsentieren die Israelis in der Serie „Guernica Gaza“ einen militarisierten Staat, der palästinensische Gebiete besetzt und die Palästinenser:innen langsam von ihnen vertreibt, sie buchstäblich bombardiert. Anstatt mit paranoiden Symbolen, Vereinfachungen und jüdischen Stereotypen zu arbeiten, bezieht sich Al Hawajris Bilderserie auf konkrete Interaktionen zwischen Israelis und Palästinenser:innen. Es gibt keinen Judenhass in diesen Bildern.
Trotz aller Bestrebungen, Antisemitismus und Antizionismus miteinander zu vermischen, ist „Guernica Gaza“ also ein Beispiel für Hadlers Anti-Israelismus und kein Ausdruck von Antisemitismus. Diese Unterscheidung geben selbst die schärfsten Kritiker:innen unwillentlich zu, da sie sie mit der Behauptung, die documenta sei ein Ort antisemitischer und antiisraelischer Kunst, permanent wiederholen. Sie verurteilen beides als „anti-israelischen Agitprop“ und unterstellen damit, dass es palästinensischen Künstler:innen verboten sein müsse, das Leiden der palästinensischen Zivilisten zum Ausdruck zu bringen, da dies bei den Kritiker:innen unbehagliche Gefühle hervorruft. Angesichts der Lebenserfahrungen der palästinensischen Künstler:innen ist es jedoch kaum überraschend, dass sie unbequeme Kunst schaffen: Sie stellt eine katastrophale Realität dar.
Das Problem „geschlossener Welten“
Wie auf der documenta ist jede Begegnung zwischen Ost und West, Nord und Süd auf Grund gegenseitigen Unverständnisses mit Risiken behaftet: nicht nur in Bezug auf Symbole, sondern auch in Bezug auf die Frage nach globaler Gerechtigkeit, nach Recht und Unrecht kolonialer Herrschaft, nach der westlichen Unterstützung von Diktatoren wie Suharto und der israelischen Besetzung palästinensischen Landes. Im Fall der documenta sind wir bislang Zeugen dieses Unverständnisses. Appelle von Historikern wie Jürgen Zimmerer, gleich zu Beginn der Auseinandersetzung, man sollte die Debatte um „People’s Justice“ und seine antisemitische Bildsprache nutzen, um mit dem Globalen Süden über die Frage ins Gespräch zu kommen, warum das westliche Tabu bestimmter antisemitischer Ikonographien in anderen Teilen der Welt nicht die gleiche Wirksamkeit entfalten, verpufften ungehört. Man war in Deutschland am Globalen Süden nicht interessiert. Abgesehen von einem Interview mit dem palästinensischen Künstler Yazan Khalili in der Berliner Zeitung und einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (die die documenta ansonsten bekämpft), ist mir keinerlei Interesse an der Lebenswelt der palästinensischen Künstler:innen begegnet, die an der documenta ausstellten. Anstatt über ihre Arbeiten und die in ihnen abgebildete grausame menschliche Realität zu sprechen und über die deutsche Mitschuld an der Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems nachzudenken, wird einzig der Tabubruch laut beklagt. Die Verwendung bekannter Motive der europäischen Kunst in „Guernica Gaza“ hingegen zeigt, dass der Künstler es versteht, mit seiner Kunst das deutsche Publikum zu verunsichern – es passiert also genau das, was Kunst tun soll.
Eine solche Verunsicherung eröffnet Möglichkeiten zur kritischen Selbstreflexion. Wie Michael Rothberg, Monique Ligtenberg und Bernhard C. Schär in ihrer Auseinandersetzung mit „People’s Justice“ zeigen, ist die Kunst der Katastrophe das Produkt einer katastrophalen Geschichte, die den deutschen Kolonialismus mit einbezieht, da die nationalsozialistische Bildsprache von den deutschen Kolonialbeamten nach Niederländisch-Ostindien gebracht wurde. Diese Bilder wurden gleichsam indigenisiert und in den antikolonialen und prodemokratischen Kämpfen wiederverwendet, in denen weder die Bundesrepublik Deutschland noch Australien auf der richtigen Seite standen. Wenn sich einige radikale indonesische Künstler:innen zu einer „verschwörungstheoretischen Lesart der Geschichte“ (Achille Mbembe) hingezogen fühlten, dann deshalb, weil sie die starren Binaritäten verinnerlicht hatten, die das politische Feld strukturierten, innerhalb dessen sie als Opfer von Suhartos Unterdrückung agierten – und diese Binaritäten umkehrten. Wie Achille Mbembe in Kritik der schwarzen Vernunft theoretisiert, werden solche Befreiungsdramen von den Figuren des Henkers (der Feind) und des (unschuldigen) Opfers bevölkert: „Der Feind – oder auch der Henker – verkörpert das absolute Böse. Das tugendhafte Opfer ist dagegen unfähig zu Gewalt, Terror und Korruption.“
Mbembe kritisiert diese vereinfachende Reaktion auf Unterdrückung: „In dieser geschlossenen Welt, in der ‚Geschichte machen‘ sich darauf beschränkt, seine Feinde zu vertreiben und sie nach Möglichkeit zu vernichten, wird jede Meinungsverschiedenheit als Extremsituation interpretiert.“ Obwohl in „People’s Justice“ keine exterminatorische Intention erkennbar ist, steht die Verwendung stereotyper Figuren, insbesondere des „Juden“, im Widerspruch zur antirassistischen politischen Botschaft der Künstler:innen, wie sie heute selbst feststellen. Doch da die westlichen Staaten Suhartos Militärregime unterstützt haben, sind sie an Taring Padis tribunalistischer Sicht der Weltpolitik mitschuldig. So betrachtet, kann die in „People’s Justice“ eingebettete historische Erfahrung dazu beitragen, dass alle Parteien sich über die Grenzen ihrer geschlossenen Welten hinausbewegen: Über die zerstörerische Dialektik von Anklage und Verteidigung hinaus zu einer Form der Auseinandersetzung, in der traumatische Geschichten und die verzerrten Spiegel, die sie hervorbringen, in die Vergangenheit verbannt werden. Erst dann kann eine auf Menschenrechten und Solidarität basierende Zukunft imaginiert werden. Doch bisher habe ich nur einen einzigen Artikel in der Presse gelesen, der eine solche Sichtweise teilt.
Idealerweise sollte das Bild also kein Anlass zu generellen Säuberungen sein. Genau das beobachten wir jedoch im Einklang mit der Ablehnung der historischen Verantwortung in Deutschland: eine Politik des Verurteilens, die die Verschwörungstheorien von Taring Padi umkehrt und sich nun gegen jeden richtet, der mit der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) in Verbindung gebracht werden könnte – der gewaltfreien Kampagne, die die palästinensische Zivilgesellschaft entwickelt hat, um für gleiche Rechte in ihrem Heimatland einzutreten.
Für einen offenen Dialog
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben die Deutschen gelehrt, sich gegen geschlossene Welten zu wehren. Sie sind zu Recht wachsam gegenüber antisemitischen Darstellungen und misstrauisch gegenüber einer Politik, die mit Abstraktionen wie „dem Volk“ hantiert – und insbesondere gegenüber einer Rhetorik der „Volksjustiz“ und ihrer „Gerichte“. Beide deutschen Diktaturen übten diese Form von Justiz auf je unterschiedliche Weise, um „Reinigungen“ und „Säuberungen“ mit schrecklichen menschlichen Kosten zu verordnen. Die Deutschen verstehen instinktiv, dass eine solche Sprache mit den liberalen Werten des Pluralismus, der Toleranz und der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist. Die Stärke des deutschen Rechtsstaates wird deutlich, wenn das Arbeitsgericht Bonn die von der Deutschen Welle gegen eine palästinensische Journalistin ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt. Ihre Entlassung erfolgte im Rahmen einer allgemeinen Säuberung von arabischen Journalist:innen bei der Deutschen Welle, die einem beunruhigenden Muster entsprach, nach dem deutsche Kultureinrichtungen palästinensische Journalist:innen, Aktivist:innen und Akademiker:innen entlassen oder ausladen.
Es ist wichtig, zwischen einem völlig inakzeptablen Antisemitismus und legitimer Israelkritik zu unterscheiden. Diese Differenz ist wichtig, weil es hier um die Frage der Kunstfreiheit angesichts unterschiedlicher politischer Stellungnahmen geht. In dem einen Fall besteht keine Möglichkeit, die Sache aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Im anderen Fall muss es möglich sein, ein komplexes Phänomen auch aus einer anderen Perspektive bzw. aus der Perspektive der anderen sehen zu können: den „Schmerz der Anderen begreifen“, wie Charlotte Wiedemann es treffend ausdrückt.
In Deutschland ist ein Dialog über globale Gerechtigkeit im Gange. Museen geben unrechtmäßig erworbene Artefakte zurück. Dieser Dialog, so zaghaft er auch beginnen mag, wird abgewürgt, wenn die Behörden einen tribunalisierten „Selbstreinigungsprozess“ und Aufräumaktionen im Kulturbereich durchsetzen. Im Mai 2022 sprach der russische Präsident Vladimir Putin von einer „Selbstreinigung der Gesellschaft“ im Krieg mit der Ukraine und dem Westen. Da die westlichen Länder diese Sprache zu Recht kritisiert haben, ist es umso ironischer, dass die Bemühungen, den „Postkolonialismus“ zu unterdrücken, indem man ihn als antisemitisch verteufelt, zunehmend dem Objekt ähneln, als das er phantasiert wird: als manichäisch und illiberal. Es werden Welten geschlossen, anstatt sie zu öffnen. Doch wir brauchen Selbstaufklärung, nicht Selbstreinigung. Dieser Prozess gestaltet sich natürlich komplexer, da er von uns verlangt, etwas dazuzulernen. Das Bild „People’s Justice“ wurde gezeigt, dann teilweise verhängt und schließlich abgebaut; jetzt ist der Moment gekommen, es einmal richtig in den Blick zu nehmen – als Einstieg in eine Geschichte, die da in Kassel über uns hereingebrochen ist.
Übersetzung: Anne Krier
Nachbemerkung des Autors: Ich habe den Text geändert, nachdem ich am 30. Juni 2022 eine Nachricht von Taring Padi erhalten habe, in der es um die Verwendung des Hakenkreuzes in dem Holzschnittplakat mit dem Titel „Berikan Cinta Pada Sesama“ („Gib allen Liebe“) geht, das 1999 als Teil einer Plakatserie gegen religiöse Intoleranz und Gewalt, die in Indonesien nach dem Sturz von Suharto 1998 grassierte, produziert wurde. Sie schreiben: „Die fünf religiösen Symbole auf dem Plakat sind in Indonesien allgemein bekannt. Sie sind (v.l.n.r.): Borobudur-Stupa (Buddha), Davidstern (Judentum), Hakenkreuz (Hindu), Kreuz (Christ), Stern und Halbmond (Islam). Daher bezieht sich das Hakenkreuzsymbol auf dem Plakat auf die Hindu-Religion und nicht auf die Nazis, wie in dem Artikel erwähnt.“ Ich bin dankbar für den Hinweis und habe deshalb den Verweis auf „Berikan Cinta Pada Sesama“ entfernt.