Der berechtigte Antisemitismus-Vorwurf gegen das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi auf der documenta15 wird international diskutiert. Doch wie kann man aus der Dialektik von Anklage und Verteidigung herausfinden und die „geschlossenen Welten“ zwischen Norden und Süden öffnen?

  • A. Dirk Moses

    A. Dirk Moses ist Anne und Bernard Spitzer Professor für Politikwissenschaft am City College of New York.

Das Künst­ler­kol­lektiv Taring Padi wurde nach dem Sturz des indo­ne­si­schen Lang­zeit­herr­schers Haji Suharto im Jahr 1998 gegründet. Es ist ausge­spro­chen radikal, anti­mi­li­ta­ris­tisch, anti­neo­li­beral, unter­stützt die Arbeiter-, Bauern- und Frau­en­be­we­gung und setzt sich für Umwelt­schutz ein. Kurz nach seiner Grün­dung im Jahr 2002 schuf das Künst­ler­kol­lektiv als direkte Antwort auf die Diktatur des Suharto-Regimes sein größtes Gemälde: Es trägt den Titel „People’s Justice“ („Volks­justiz“). Das Bild stellt ein Volks­ge­richt dar – an seiner Spitze befinden sich die Richter, zur Linken die Feinde des Volkes. Darunter erblickt die Betrach­terin kari­ka­tu­ris­ti­sche Figuren, die wiederum für die west­li­chen Staaten stehen, die Suhartos Regime unter­stützten. Über 20 Jahre lang wurde „People’s Justice“ auf inter­na­tio­nalen Kunst­messen gezeigt, das erste Mal im südaus­tra­li­schen Adelaide. Die Kurator:innen der docu­menta fifteen entschieden sich dafür, das Bild an den promi­nen­testen Platz der Ausstel­lung zu plat­zieren, um so das Publikum direkt mit der Thematik der Repa­ra­tion des (Neo-)Kolonialismus und des Kapi­ta­lismus zu konfron­tieren. Bis zur docu­menta im Jahr 2022 scheint die anti­se­mi­ti­sche Kari­katur des ortho­doxen Juden inmitten der zahl­rei­chen anderen Figuren auf der über­füllten Lein­wand niemandem aufge­fallen zu sein. Verständ­li­cher­weise jedoch rief das Bild in Deutsch­land einen Sturm der Entrüs­tung hervor; es wurde bald abge­deckt und dann entfernt.

Sollten das Gemälde und seine Hängung auf der docu­menta ursprüng­lich den Westen für seine Unter­stüt­zung des Suharto-Regimes anklagen, fiel es jetzt auf die Künstler:innen, das indo­ne­si­sche Künst­ler­kol­lektiv ruan­grupa, das die docu­menta kura­tiert hatte, die Leitung der docu­menta und die lokalen, regio­nalen und natio­nalen deut­schen Kultur­po­li­ti­ke­rinnen und -poli­tiker zurück. Zahl­reiche Journalist:innen und Politiker:innen aus den Reihen der CDU/CSU bis hin zur AfD ergriffen die Gele­gen­heit, eine Kampagne gegen den von ihnen offenbar erst kürz­lich entdeckten Post­ko­lo­nia­lismus zu lancieren – und dies, obwohl sich Taring Padi mehr als links­ra­di­kale Künstler-Aktivist:innen denn als Teil einer globalen post­ko­lo­nialen Bewe­gung verstehen. Den Kriti­kern diente das Gemälde aber auch dazu, die paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen an der docu­menta des Anti­se­mi­tismus zu bezich­tigen – und schließ­lich, um selbst noch die geringe künst­le­ri­sche Unab­hän­gig­keit in Frage zu stellen, über welche Kultur­in­sti­tu­tionen in Deutsch­land verfügen. Es ist sogar die Rede davon, dass der deut­sche Kultur­sektor sich einem „Selbst­rei­ni­gungs­pro­zess“ unter­ziehen soll, um sich von seiner vermeint­li­chen Sympa­thie für die Menschen­rechte von Paläs­ti­nen­se­rinnen und Paläs­ti­nen­sern zu lösen. Dabei findet niemand, man könne die frag­liche Figur auf dem Gemälde vertei­digen, nicht einmal Taring Padi selbst, die sich entschul­digt und jegliche anti­se­mi­ti­sche Inten­tion abge­stritten haben. 

Indo­ne­si­sche Kolonialgeschichte

Auf dem Bild befindet sich noch eine weitere Figur, die anti­se­mi­ti­sche Züge trägt: ein Schwein in Uniform, das den Staat Israel reprä­sen­tiert, was durch die Aufschrift „Mossad“ auf seinem Helm verdeut­licht wird. Das Schwein steht inmitten einer Reihe beinahe iden­ti­scher Figuren anderer Geheim­dienste, darunter jene der Austra­lian Secu­rity Orga­ni­sa­tion (auf dem entspre­chenden Helm findet sich das Akronym ASIO). Als Austra­lier verstehe ich sehr gut, warum auf dem Bild auch „unser“ Geheim­dienst reprä­sen­tiert ist (auch wenn „People’s Justice“ eigent­lich den Austra­lian Secu­rity Intel­li­gence Service [ASIS] zeigen müsste, zu dessen Aufgaben die inter­na­tio­nale Sicher­heit gehört). Wie Israel und die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land zählte auch Austra­lien zu den treuen Verbün­deten von Suhartos mörde­ri­scher „Neuer Ordnung“ („Orde Baru“), die in den Jahren 1965-1966 mit der geno­zi­dalen „Säube­rung“ von 500’000 indo­ne­si­schen Kommunist:innen begonnen hatte und bis 1998 mit brutaler mili­tä­ri­scher Unter­drü­ckung – unter anderem auch der Isla­misten – herrschte. In dieser Zeit kam es zwischen 1975 und 1999 auch zu der von manchen als geno­zidal bezeich­neten Beset­zung Ostti­mors. Eine gene­relle Ableh­nung des Westens, darunter des Mossad, gespeist aus der „Enttäu­schung, Frus­tra­tion und Wut poli­ti­sierter Kunst­stu­denten“, wie Taring Padi den Kontext des Bildes erläu­tern, vermag daher kaum zu verwun­dern. Warum jedoch den Mossad mit der anti­se­mi­ti­schen Kari­katur eines ortho­doxen Juden in Verbin­dung bringen? Trotz mehrerer Inter­views mit Taring Padi gibt es auf diese Frage keine eindeu­tige Antwort, und leider ist das Mitglied des Künst­ler­kol­lek­tivs, das die Figur gemalt hat, nicht mehr am Leben.

Der histo­ri­sche Kontext liefert jedoch einige Erklä­rungs­an­sätze. Anti­se­mi­tismus ist der indo­ne­si­schen Kultur nicht fremd, viel­mehr reichen seine Wurzeln in der Geschichte des Landes mindes­tens 100 Jahre zurück. Phan­tas­ma­ti­sche Vorstel­lungen über Juden lassen sich bis in die 1920er Jahre zurück­ver­folgen, als nur wenige Menschen jüdi­schen Glau­bens in Niederländisch-Ostindien lebten. Sie stammten aus den Nieder­landen, Osteu­ropa, Arme­nien, dem Irak und China, trieben Handel, trafen sich in Frei­mau­rer­logen und grün­deten 1927 eine zionis­ti­sche Orga­ni­sa­tion, wie der verstor­bene Histo­riker Jeffrey Hadler von der Univer­sität von Kali­for­nien, Berkeley, schrieb. Er unter­schied 2004 zwischen einem damals in Indo­ne­sien popu­lären „Anti-Israelismus“ und etwas, was er als „wirk­li­chen Anti­se­mi­tismus“ bezeichnet. Letz­terer war, so Hadler, durch die nieder­län­di­sche Nazi-Bewegung und nazi­fi­zierte orts­an­säs­sige Deut­sche aus Europa impor­tiert worden. Schon zuvor hatten nieder­län­di­sche Kolo­ni­al­be­amte chine­si­sche Händler bezich­tigt, sich „wie Juden“ zu benehmen und so die anti­se­mi­ti­sche Saat gesät.

Die Muster der Deko­lo­ni­sie­rung führten zu einer weiteren Iden­ti­fi­zie­rung von Juden mit Euro­päern und anderen Außen­sei­tern. Einer­seits wurden sie als „Weiße“ markiert, ande­rer­seits jedoch mit der größeren Minder­heit, den Chinesen, in Verbin­dung gebracht. Als die Japaner Niederländisch-Ostindien 1942 eroberten, wurden Jüdinnen und Juden nicht inhaf­tiert, da sie nicht Bürger feind­li­cher Staaten waren. Auf die Frage der Gestapo, wer inhaf­tiert worden sei, erhielt sie die Antwort: „Alle feind­li­chen Staats­an­ge­hö­rigen, außer die beiden weißen Rassen, die Juden und die Arme­nier.“ Die Gestapo forderte die Japaner auf, die Juden aus neutralen Ländern zu inhaf­tieren. Nach dem Krieg, während des Kampfes gegen die indo­ne­si­schen Natio­na­listen, bewachten die briti­schen und die besiegten japa­ni­schen Streit­kräfte die inhaf­tierten Juden, was in der anti­ko­lo­nialen Vorstel­lungs­welt zu ihrer Gleich­set­zung mit den Gegnern der Unab­hän­gig­keit führte. Zudem betei­ligen sich jüdisch-niederländische Soldaten an den nieder­län­di­schen „Poli­zei­ak­tionen“ gegen den indo­ne­si­schen Unab­hän­gig­keits­kampf, unter­stützten zugleich aber den entspre­chenden zionis­ti­schen Kampf in Paläs­tina. Wie (andere) Euro­päer verließen die meisten Juden das künf­tige Indo­ne­sien und handelten somit entspre­chend einem wieder­keh­renden Muster, dem gemäß Juden die Gesell­schaften im Deko­lo­ni­sie­rungs­pro­zess verließen und in die kolo­niale Metro­pole zogen, deren Staats­bür­ger­schaft sie besaßen, oder in andere west­liche Länder – oder in den neu gegrün­deten Staat Israel. Die wenigen nieder­län­di­schen Jüdinnen und Juden, die nach der indo­ne­si­schen Unab­hän­gig­keit im Jahr 1949 noch im Land blieben, entschieden sich meist dazu, die nieder­län­di­sche Staa­t­an­ge­hö­rig­keit zu behalten, was wiederum den Eindruck verstärkte, sie seien weiße Euro­päer, die mit der früheren Kolo­ni­al­macht unter einer Decke steckten. Erst Sukarnos Natio­na­li­sie­rungs­po­litik erzwang nach 1957 eine Entschei­dung für die lokale Staats­an­ge­hö­rig­keit. Zu diesem Zeit­punkt lebten in Indo­ne­sien nur noch dreißig jüdi­sche Familien.

Sünden­böcke

Diese winzige Gemein­schaft war ein äußerst bequemer Sünden­bock, mit dessen Hilfe sich der anti-chinesische Rassismus kana­li­sieren ließ. Die Chinesen können in zwei­erlei Hinsicht als Beispiel für die – phan­tas­ma­ti­sche – Allge­gen­wär­tig­keit der jüdi­schen Bedro­hung dienen: Sie verkör­pern vermeint­lich „jüdi­sche“ kapi­ta­lis­ti­sche Züge und agieren angeb­lich als Agenten „der Juden“. Zu großen Teilen ist der Anti­se­mi­tismus in Indo­ne­sien eine Abstrak­tion, die durch die Chinesen vermit­telt wird: Die tatsäch­liche Gewalt richtet sich gegen Letz­tere. So wurden zu Beginn der asia­ti­schen Finanz­krise 1998 während Ausschrei­tungen 1’000 Chines:innen getötet. Der anti-chinesische Rassismus besteht noch heute. Zuvor hatten die Natio­na­listen während des Unab­hän­gig­keits­kampfes in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Chinesen und indo­ne­si­sche Eura­sier wegen ihrer vermeint­li­chen Illoya­lität gegen­über der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung ermordet.

Die Juden wiederum werden regel­mäßig mit Israelis gleich­ge­setzt. Kurze Zeit nach seinem Sturz im Jahr 1998 gab Suharto in einem Inter­view mit einer isla­mi­schen Zeit­schrift einer inter­na­tio­nalen zionis­ti­schen Verschwö­rung die Schuld an seinem Schicksal. Sein malay­si­scher Amts­kol­lege, Premier­mi­nister Mahatir Mohamad, machte die Juden als „fins­tere Kräfte für die asia­ti­sche Finanz­krise von 1998 verant­wort­lich. Auch Suharto beschwor fins­tere Kräfte, als er behaup­tete, eine zionis­ti­sche Verschwö­rung habe die Unruhen provo­ziert, die nach der Finanz­krise ausbra­chen. Als er gefragt wurde, ob eine Verschwö­rung an seinem Sturz schuld sei, antwor­tete er:

Es war eine zionis­ti­sche Verschwö­rung. Die indo­ne­si­sche Regie­rung ist mit den syste­ma­ti­schen und takti­schen Machen­schaften der Zionisten fahr­lässig umge­gangen. […] Die Zionisten […] befürch­teten, Indo­ne­sien könnte zum Zentrum eines erstar­kenden Islams werden. Deshalb wurde Indo­ne­siens Wachstum ange­griffen, wie die ökono­mi­sche und die mone­täre Krise gezeigt haben. Es gibt nun einige indo­ne­si­sche Poli­tiker, die sich weigern, ihre eigene Geschichte anzu­er­kennen und statt­dessen nach Westen schauen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass Suharto Israel als auf der Seite der Kolo­ni­al­mächte, das heißt des Westens stehend iden­ti­fi­zierte und damit als Feind der Indo­ne­sier – obwohl Israel, wie Joseph Croi­toru kürz­lich erläu­terte, Suhartos auto­ri­täres Regime unter­stützt hatte. Solche Behaup­tungen wurden seit den späten 1980er Jahren in Publi­ka­tionen der isla­mis­ti­schen Oppo­si­tion verbreitet, und Suharto erhoffte sich öffent­liche Unter­stüt­zung, wenn er sich auf sie bezog. Verschwö­rungs­theo­rien sind seit den 1980er Jahren in Indo­ne­sien auf dem Vormarsch. Selbst der Rotary Club, die Marxisten, Coca-Cola und Rupert Murdoch sind für viele Indo­ne­sier Teil einer welt­weiten Verschwö­rung, so Adrian Vickers, Indo­ne­si­en­ex­perte an der Univer­sität Sydney.

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Anti­ko­lo­nia­lismus und Antisemitismus

Mit anderen Worten: Auch wenn Taring Padi Suharto ableh­nend gegen­über­steht, verwen­dete der für die Figur verant­wort­liche Künstler in seinem anti­ko­lo­nialen, anti­west­li­chen, anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gestus die gleiche anti­se­mi­ti­sche Bild­sprache wie der ehema­lige Diktator. Die anti­ko­lo­niale Haltung ist ein zentraler Bestand­teil der natio­nalen Iden­tität der Indonesier:innen; die Präambel der indo­ne­si­schen Verfas­sung, die während des erbit­terten Unab­hän­gig­keits­kampfes gegen die Nieder­länder nach der japa­ni­schen Besat­zungs­zeit geschrieben wurde, beginnt sogar mit der Forde­rung, dass „jegli­cher Kolo­nia­lismus in der Welt abge­schafft werden muss, da Kolo­nia­lismus nicht im Einklang mit Mensch­lich­keit und Gerech­tig­keit steht“. Es ist daher auch kein Zufall, dass der erste Präsi­dent des Landes, Ahmed Sukarno, 1955 in Bandung der Gast­geber des berühmten Tref­fens asia­ti­scher und afri­ka­ni­scher Staats- und Regie­rungs­chefs war, die 54% der Welt­be­völ­ke­rung reprä­sen­tierten. Er eröff­nete das Treffen mit einer bewe­genden Rede, in der er eine post­ko­lo­niale Zukunft herauf­be­schwor:

Erin­nern wir uns daran, dass das Ansehen der gesamten Mensch­heit geschmä­lert wird, solange Nationen oder Teile von Nationen noch unfrei sind. Erin­nern wir uns daran, dass das höchste Ziel des Menschen die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Angst, den Fesseln der Ernied­ri­gung des Menschen, den Fesseln der Armut ist – die Befreiung des Menschen von den physi­schen, geis­tigen und spiri­tu­ellen Fesseln, die die Entwick­lung der Mehr­heit der Mensch­heit zu lange gehemmt haben.

Taring Padis „People’s Justice“ und viele andere ihrer Arbeiten sind ein Ausdruck eben dieser Haltung. Leider bedienten sie sich dabei des altbe­kannten Bildes vom „Juden“ als fremder Ausbeuter der Völker und als Kriegs­treiber: kurz, als inter­na­tio­nale Bedro­hung. Das war aller­dings nicht Teil des ursprüng­li­chen Befrei­ungs­kampfs der Indo­ne­sier, denn der Gegner damals war allzu konkret: die nieder­län­di­schen Streit­kräfte. In ihrer detail­lierten Erör­te­rung von Taring Padi und der indo­ne­si­schen Kunst stellen die in Austra­lien lebenden Kunsthistoriker:innen Wulan Dirgan­toro und Elly Kent dem Kollektiv zu Recht schwie­rige Fragen zu diesen künst­le­ri­schen Entschei­dungen und poli­ti­schen Vorstel­lungen: „Haben Sie diese Symbolik wirk­lich verstanden oder haben Sie sie unkri­tisch aus der Masse der Bilder über­nommen, die in einem öffent­li­chen Diskurs zirku­lierten, der Anti­se­mi­tismus mit Anti­im­pe­ria­lismus und Anti­ka­pi­ta­lismus verband?“

Als er am 6. Juli 2022 vor dem Ausschuss für Kultur und Medien des Deut­schen Bundes­tags über den documenta-Skandal aussagte, gab Ade Darm­awan von ruan­grupa zur Herkunft der inkri­mi­nierten Figur eine auswei­chende Antwort, die das Proto­koll des Bundes­tages folgen­der­maßen wieder­gibt: „Die im Bild gele­sene anti­se­mi­ti­sche Bild­sprache sei bereits im 18. Jahr­hun­dert von den nieder­län­di­schen Kolo­ni­al­herren nach Indo­ne­sien gebracht worden und dort vor allem auf die chine­si­sche Bevöl­ke­rungs­min­der­heit über­tragen worden. Die indo­ne­si­sche Bild­sprache sei von völlig anderen histo­ri­schen Erfah­rungen geprägt als in Deutsch­land.“ Das mag sein. Dennoch setzt die hier verwen­dete Bild­sprache Israelis und Juden gleich und stellt sie zusammen mit anderen West­lern in einer globalen Kampagne gegen Indo­ne­sier dar.

Paläs­ti­nen­si­sche Kritik

Es ist für viele verwir­rend, zwischen Juden und dem Staat Israel zu unter­scheiden, dessen Flagge das jüdi­sche reli­giöse Symbol ist, das den Anspruch erhebt, die Gesamt­heit aller jüdi­schen Menschen zu reprä­sen­tieren. Auch Poli­tiker wie US-Präsident Joe Biden lassen verlauten, dass „Israel die ulti­ma­tive Garantie und der Garant für das jüdi­sche Volk [sei], nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt“ – eine Aussage, die die Selbst­dar­stel­lung des israe­li­schen Staates reflek­tiert. Das Gleiche tun pro-israelische Journalist:innen in Deutsch­land, wenn sie etwa schreiben: „Israe­li­sche Künstler werden nicht einge­laden zu den subven­tio­nierten Groß­ver­an­stal­tungen […]. Anschei­nend hat die Kunst ein Problem mit den Juden.“ Taring Padi spie­gelt somit eine weit verbrei­tete Praxis wider, welche Juden und den Staat Israel gleich­setzt. Das Häss­liche der anti­se­mi­ti­schen Kari­katur in „People’s Justice“ wird durch die Verwen­dung des SS-Symbols noch verschlim­mert, da sie sugge­riert, dass „die Juden“ Nazis seien, und sie über­dies zusammen mit Nazis in eine Reihe mit anderen Volks­feinden stellt. Das ist grober Anti­im­pe­ria­lismus und zugleich ein rassis­ti­sches Stereotyp. Jeffrey Hadlers Unter­schei­dung zwischen Anti-Israelismus und wirk­li­chem Anti­se­mi­tismus funk­tio­niert an diesem Punkt nicht mehr.

Hadlers Unter­schei­dung bleibt hingegen für die paläs­ti­nen­si­schen Künstler auf der docu­menta gültig. Mahommed Al Hawajri aus Gaza zeigt eine Bilder­serie mit dem Titel „Guer­nica Gaza“, welche israe­li­sche Streit­kräfte und paläs­ti­nen­si­sche Zivi­listen abbildet und hierzu Motive aus berühmten euro­päi­schen Kunst­werken verwendet. Die Serie beruft sich nicht auf reli­giöse jüdi­sche Symbole, eine jüdi­sche Welt­ver­schwö­rung oder auf Bilder stereo­typer „jüdi­scher“ Figuren, und natür­lich kämpfen in den Israe­li­schen Vertei­di­gungs­streit­kräften auch nicht-jüdische Soldat:innen wie Drusen und Beduinen. Al Hawa­jris Kunst greift weder das jüdi­sche „Wesen“ an noch konzep­tua­li­siert sie es als Abstrak­tion – sie wendet sich allein gegen das israe­li­sche Militär. Während die „jüdi­schen“ Figuren in „People’s Justice“ eine Abstrak­tion darstellen, reprä­sen­tieren die Israelis in der Serie „Guer­nica Gaza“ einen mili­ta­ri­sierten Staat, der paläs­ti­nen­si­sche Gebiete besetzt und die Palästinenser:innen langsam von ihnen vertreibt, sie buch­stäb­lich bombar­diert. Anstatt mit para­no­iden Symbolen, Verein­fa­chungen und jüdi­schen Stereo­typen zu arbeiten, bezieht sich Al Hawa­jris Bilder­serie auf konkrete Inter­ak­tionen zwischen Israelis und Palästinenser:innen. Es gibt keinen Juden­hass in diesen Bildern.

Trotz aller Bestre­bungen, Anti­se­mi­tismus und Anti­zio­nismus mitein­ander zu vermi­schen, ist „Guer­nica Gaza“ also ein Beispiel für Hadlers Anti-Israelismus und kein Ausdruck von Anti­se­mi­tismus. Diese Unter­schei­dung geben selbst die schärfsten Kritiker:innen unwil­lent­lich zu, da sie sie mit der Behaup­tung, die docu­menta sei ein Ort anti­se­mi­ti­scher und anti­is­rae­li­scher Kunst, perma­nent wieder­holen. Sie verur­teilen beides als „anti-israelischen Agit­prop“ und unter­stellen damit, dass es paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen verboten sein müsse, das Leiden der paläs­ti­nen­si­schen Zivi­listen zum Ausdruck zu bringen, da dies bei den Kritiker:innen unbe­hag­liche Gefühle hervor­ruft. Ange­sichts der Lebens­er­fah­rungen der paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen ist es jedoch kaum über­ra­schend, dass sie unbe­queme Kunst schaffen: Sie stellt eine kata­stro­phale Realität dar.

Das Problem „geschlos­sener Welten“

Wie auf der docu­menta ist jede Begeg­nung zwischen Ost und West, Nord und Süd auf Grund gegen­sei­tigen Unver­ständ­nisses mit Risiken behaftet: nicht nur in Bezug auf Symbole, sondern auch in Bezug auf die Frage nach globaler Gerech­tig­keit, nach Recht und Unrecht kolo­nialer Herr­schaft, nach der west­li­chen Unter­stüt­zung von Dikta­toren wie Suharto und der israe­li­schen Beset­zung paläs­ti­nen­si­schen Landes. Im Fall der docu­menta sind wir bislang Zeugen dieses Unver­ständ­nisses. Appelle von Histo­ri­kern wie Jürgen Zimmerer, gleich zu Beginn der Ausein­an­der­set­zung, man sollte die Debatte um „People’s Justice“ und seine anti­se­mi­ti­sche Bild­sprache nutzen, um mit dem Globalen Süden über die Frage ins Gespräch zu kommen, warum das west­liche Tabu bestimmter anti­se­mi­ti­scher Ikono­gra­phien in anderen Teilen der Welt nicht die gleiche Wirk­sam­keit entfalten, verpufften unge­hört. Man war in Deutsch­land am Globalen Süden nicht inter­es­siert. Abge­sehen von einem Inter­view mit dem paläs­ti­nen­si­schen Künstler Yazan Khalili in der Berliner Zeitung und einem Artikel in der Frank­furter Allge­meinen Zeitung (die die docu­menta ansonsten bekämpft), ist mir keinerlei Inter­esse an der Lebens­welt der paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen begegnet, die an der docu­menta ausstellten. Anstatt über ihre Arbeiten und die in ihnen abge­bil­dete grau­same mensch­liche Realität zu spre­chen und über die deut­sche Mitschuld an der Entste­hung des paläs­ti­nen­si­schen Flücht­lings­pro­blems nach­zu­denken, wird einzig der Tabu­bruch laut beklagt. Die Verwen­dung bekannter Motive der euro­päi­schen Kunst in „Guer­nica Gaza“ hingegen zeigt, dass der Künstler es versteht, mit seiner Kunst das deut­sche Publikum zu verun­si­chern – es passiert also genau das, was Kunst tun soll.

Eine solche Verun­si­che­rung eröffnet Möglich­keiten zur kriti­schen Selbst­re­fle­xion. Wie Michael Roth­berg, Monique Ligten­berg und Bern­hard C. Schär in ihrer Ausein­an­der­set­zung mit „People’s Justice“ zeigen, ist die Kunst der Kata­strophe das Produkt einer kata­stro­phalen Geschichte, die den deut­schen Kolo­nia­lismus mit einbe­zieht, da die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Bild­sprache von den deut­schen Kolo­ni­al­be­amten nach Niederländisch-Ostindien gebracht wurde. Diese Bilder wurden gleichsam indi­ge­ni­siert und in den anti­ko­lo­nialen und prode­mo­kra­ti­schen Kämpfen wieder­ver­wendet, in denen weder die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land noch Austra­lien auf der rich­tigen Seite standen. Wenn sich einige radi­kale indo­ne­si­sche Künstler:innen zu einer „verschwö­rungs­theo­re­ti­schen Lesart der Geschichte“ (Achille Mbembe) hinge­zogen fühlten, dann deshalb, weil sie die starren Bina­ri­täten verin­ner­licht hatten, die das poli­ti­sche Feld struk­tu­rierten, inner­halb dessen sie als Opfer von Suhartos Unter­drü­ckung agierten – und diese Bina­ri­täten umkehrten. Wie Achille Mbembe in Kritik der schwarzen Vernunft theo­re­ti­siert, werden solche Befrei­ungs­dramen von den Figuren des Henkers (der Feind) und des (unschul­digen) Opfers bevöl­kert: „Der Feind – oder auch der Henker – verkör­pert das abso­lute Böse. Das tugend­hafte Opfer ist dagegen unfähig zu Gewalt, Terror und Korruption.“

Mbembe kriti­siert diese verein­fa­chende Reak­tion auf Unter­drü­ckung: „In dieser geschlos­senen Welt, in der ‚Geschichte machen‘ sich darauf beschränkt, seine Feinde zu vertreiben und sie nach Möglich­keit zu vernichten, wird jede Meinungs­ver­schie­den­heit als Extrem­si­tua­tion inter­pre­tiert.“ Obwohl in „People’s Justice“ keine exter­mi­na­to­ri­sche Inten­tion erkennbar ist, steht die Verwen­dung stereo­typer Figuren, insbe­son­dere des „Juden“, im Wider­spruch zur anti­ras­sis­ti­schen poli­ti­schen Botschaft der Künstler:innen, wie sie heute selbst fest­stellen. Doch da die west­li­chen Staaten Suhartos Mili­tär­re­gime unter­stützt haben, sind sie an Taring Padis tribu­na­lis­ti­scher Sicht der Welt­po­litik mitschuldig. So betrachtet, kann die in „People’s Justice“ einge­bet­tete histo­ri­sche Erfah­rung dazu beitragen, dass alle Parteien sich über die Grenzen ihrer geschlos­senen Welten hinaus­be­wegen: Über die zerstö­re­ri­sche Dialektik von Anklage und Vertei­di­gung hinaus zu einer Form der Ausein­an­der­set­zung, in der trau­ma­ti­sche Geschichten und die verzerrten Spiegel, die sie hervor­bringen, in die Vergan­gen­heit verbannt werden. Erst dann kann eine auf Menschen­rechten und Soli­da­rität basie­rende Zukunft imagi­niert werden. Doch bisher habe ich nur einen einzigen Artikel in der Presse gelesen, der eine solche Sicht­weise teilt.

Idea­ler­weise sollte das Bild also kein Anlass zu gene­rellen Säube­rungen sein. Genau das beob­achten wir jedoch im Einklang mit der Ableh­nung der histo­ri­schen Verant­wor­tung in Deutsch­land: eine Politik des Verur­tei­lens, die die Verschwö­rungs­theo­rien von Taring Padi umkehrt und sich nun gegen jeden richtet, der mit der Boykott-, Desinvestitions- und Sank­ti­ons­be­we­gung (BDS) in Verbin­dung gebracht werden könnte – der gewalt­freien Kampagne, die die paläs­ti­nen­si­sche Zivil­ge­sell­schaft entwi­ckelt hat, um für gleiche Rechte in ihrem Heimat­land einzutreten.

Für einen offenen Dialog

Die Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts haben die Deut­schen gelehrt, sich gegen geschlos­sene Welten zu wehren. Sie sind zu Recht wachsam gegen­über anti­se­mi­ti­schen Darstel­lungen und miss­trau­isch gegen­über einer Politik, die mit Abstrak­tionen wie „dem Volk“ hantiert – und insbe­son­dere gegen­über einer Rhetorik der „Volks­justiz“ und ihrer „Gerichte“. Beide deut­schen Dikta­turen übten diese Form von Justiz auf je unter­schied­liche Weise, um „Reini­gungen“ und „Säube­rungen“ mit schreck­li­chen mensch­li­chen Kosten zu verordnen. Die Deut­schen verstehen instinktiv, dass eine solche Sprache mit den libe­ralen Werten des Plura­lismus, der Tole­ranz und der Rechts­staat­lich­keit unver­einbar ist. Die Stärke des deut­schen Rechts­staates wird deut­lich, wenn das Arbeits­ge­richt Bonn die von der Deut­schen Welle gegen eine paläs­ti­nen­si­sche Jour­na­listin ausge­spro­chene Kündi­gung für unwirksam erklärt. Ihre Entlas­sung erfolgte im Rahmen einer allge­meinen Säube­rung von arabi­schen Journalist:innen bei der Deut­schen Welle, die einem beun­ru­hi­genden Muster entsprach, nach dem deut­sche Kultur­ein­rich­tungen paläs­ti­nen­si­sche Journalist:innen, Aktivist:innen und Akademiker:innen entlassen oder ausladen.

Es ist wichtig, zwischen einem völlig inak­zep­ta­blen Anti­se­mi­tismus und legi­timer Isra­el­kritik zu unter­scheiden. Diese Diffe­renz ist wichtig, weil es hier um die Frage der Kunst­frei­heit ange­sichts unter­schied­li­cher poli­ti­scher Stel­lung­nahmen geht. In dem einen Fall besteht keine Möglich­keit, die Sache aus einer anderen Perspek­tive zu betrachten. Im anderen Fall muss es möglich sein, ein komplexes Phänomen auch aus einer anderen Perspek­tive bzw. aus der Perspek­tive der anderen sehen zu können: den „Schmerz der Anderen begreifen“, wie Char­lotte Wiedemann es tref­fend ausdrückt.

In Deutsch­land ist ein Dialog über globale Gerech­tig­keit im Gange. Museen geben unrecht­mäßig erwor­bene Arte­fakte zurück. Dieser Dialog, so zaghaft er auch beginnen mag, wird abge­würgt, wenn die Behörden einen tribu­na­li­sierten „Selbst­rei­ni­gungs­pro­zess und Aufräum­ak­tionen im Kultur­be­reich durch­setzen. Im Mai 2022 sprach der russi­sche Präsi­dent Vladimir Putin von einer „Selbst­rei­ni­gung der Gesell­schaft“ im Krieg mit der Ukraine und dem Westen. Da die west­li­chen Länder diese Sprache zu Recht kriti­siert haben, ist es umso ironi­scher, dass die Bemü­hungen, den „Post­ko­lo­nia­lismus“ zu unter­drü­cken, indem man ihn als anti­se­mi­tisch verteu­felt, zuneh­mend dem Objekt ähneln, als das er phan­ta­siert wird: als manich­ä­isch und illi­beral. Es werden Welten geschlossen, anstatt sie zu öffnen. Doch wir brau­chen Selbst­auf­klä­rung, nicht Selbst­rei­ni­gung. Dieser Prozess gestaltet sich natür­lich komplexer, da er von uns verlangt, etwas dazu­zu­lernen. Das Bild „People’s Justice“ wurde gezeigt, dann teil­weise verhängt und schließ­lich abge­baut; jetzt ist der Moment gekommen, es einmal richtig in den Blick zu nehmen – als Einstieg in eine Geschichte, die da in Kassel über uns herein­ge­bro­chen ist.

Über­set­zung: Anne Krier

Nach­be­mer­kung des Autors: Ich habe den Text geän­dert, nachdem ich am 30. Juni 2022 eine Nach­richt von Taring Padi erhalten habe, in der es um die Verwen­dung des Haken­kreuzes in dem Holz­schnitt­plakat mit dem Titel „Berikan Cinta Pada Sesama“ („Gib allen Liebe“) geht, das 1999 als Teil einer Plakat­serie gegen reli­giöse Into­le­ranz und Gewalt, die in Indo­ne­sien nach dem Sturz von Suharto 1998 gras­sierte, produ­ziert wurde. Sie schreiben: „Die fünf reli­giösen Symbole auf dem Plakat sind in Indo­ne­sien allge­mein bekannt. Sie sind (v.l.n.r.):  Borobudur-Stupa (Buddha), David­stern (Judentum), Haken­kreuz (Hindu), Kreuz (Christ), Stern und Halb­mond (Islam).  Daher bezieht sich das Haken­kreuz­symbol auf dem Plakat auf die Hindu-Religion und nicht auf die Nazis, wie in dem Artikel erwähnt.“ Ich bin dankbar für den Hinweis und habe deshalb den Verweis auf „Berikan Cinta Pada Sesama“ entfernt.