Ein neues Gesetz in der Schweiz sieht vor, dass künftig Sozialversicherte sehr weitgehenden Überwachungsmassnahmen unterworfen werden können, wenn ein Verdacht unrechtmässig bezogene Leistungen vorliegt. Woher kommt die Angst vor Missbrauch und wie wird mit dieser Angst Politik gemacht?

Philipp Sarasin: Frau Baumann, in der Schweiz wird gegen­wärtig ein Refe­rendum gegen ein neues Gesetz ergriffen, das vorsieht, dass Versi­che­rungen – darunter auch staat­liche, aber auch viele private – sehr extensiv Mittel einsetzen dürfen, um Fälle von Versi­che­rungs­miss­brauch aufzu­de­cken. Dabei stellen sich eine Reihe von Fragen, recht­li­cher, histo­ri­scher, aber auch poli­ti­scher Art. Ich möchte damit beginnen, Sie zu fragen, warum dieses Gesetz, das im Rekord­tempo von sieben Tagen vom Parla­ment verab­schiedet wurde, uns jetzt beschäftigt?

Marie Baumann: Es gibt dazu eine längere Vorge­schichte. 2003 kreierte die Schwei­ze­ri­sche Volks­partei (SVP) den Begriff der Schein­in­va­liden und impli­zierte damit, dass viele Bezü­ge­rinnen und Bezüger einer Rente der Inva­li­den­ver­si­che­rung diese zu Unrecht erhalten würden. Die öffent­liche Empö­rung war gross, und infol­ge­dessen wurde im Rahmen der 5. IV-Revision (in Kraft seit 2008) die Möglich­keit zur Bekämp­fung von Versi­che­rungs­miss­brauch geschaffen. Die gesetz­liche Grund­lage umfasste gerade mal zehn Worte: Zur Bekämp­fung des unge­recht­fer­tigten Leis­tungs­be­zugs können die IV-Stellen Spezia­listen beiziehen.

Bundesrat Pascal Couch­epin, FDP, 2009: „J’ai l’impression que oui et, si tel n’était pas le cas, soit un tribunal, soit une auto­rité devrait nous le signaler. Mais je crois que quelqu’un qui reçoit une rente n’est pas dans la même situa­tion que quelqu’un qui n’obtient aucune rente de la part de l’Etat.“ Bild­quelle: aargauerzeitung.ch

Als der frei­sin­nige Bundesrat Pascal Couch­epin 2009 in der bundes­rät­li­chen Frage­stunde im Parla­ment gefragt wurde, ob bei Obser­va­tionen die Persön­lich­keits­rechte der Versi­cherten respek­tiert würden, antwor­tete dieser:  „Ich habe den Eindruck, dass das so ist, und dass, sollte das nicht der Fall sein, ein Gericht oder eine Behörde uns das kundtun sollte. Aber ich glaube, dass jemand, der eine Rente erhält, sich nicht in der selben Situa­tion befindet, wie jemand, der keine staat­li­chen Leis­tungen bezieht. Das Bundes­ge­richt bewer­tete in den darauf­fol­genden Jahren das Inter­esse der Versi­che­rungen prak­tisch immer als höher als das Recht der Versi­cherten auf den Schutz ihrer Privat­sphäre. Unter anderem gab es 2011 der Inva­li­den­ver­si­che­rung recht, als diese eine Versi­cherte auch auf ihrem – frei einseh­baren – Balkon über­wa­chen liess.

PhS: Diese recht­lich de facto nicht regu­lierte Praxis wurde dann aber doch gestoppt.

MB: Ja, 2016 entschied der euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR), dass die recht­liche Grund­lage zur Über­wa­chung von Versi­cherten in der Schweiz unge­nü­gend sei. Das Urteil betraf zwar die Unfall­ver­si­che­rung, doch 2017 befand das Bundes­ge­richt, dass dies auch für die Inva­li­den­ver­si­che­rung gelte, die daraufhin ihre Obser­va­tionen einstellen musste. In Windes­eile wurde dann der neue Obser­va­ti­ons­ar­tikel geschaffen. Durch die Veran­ke­rung im allge­meinen Teil des Sozi­al­ver­si­che­rungs­rechts (ATSG) sind nun aber nicht nur die Unfall- und Inva­li­den­ver­si­che­rung dem neuen Gesetz unter­stellt, sondern sämt­liche Sozi­al­ver­si­che­rungen wie zum Beispiel auch die Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung, Kran­ken­kassen und Ergänzungsleistungen.

PhS: Das heisst, das Gesetz betrifft nicht nur die Bezü­ge­rinnen und Bezüger von Leis­tungen der Invaliden- und Unfall­ver­si­che­rung, sondern alle Sozi­al­ver­si­cherten in der Schweiz, also theo­re­tisch die gesamte Bevöl­ke­rung. Wie gross ist denn die Zahl derje­nigen, die zu Unrecht Leis­tungen der Sozi­al­ver­si­che­rungen bean­spru­chen, diese also missbrauchen?

Die Miss­brauchs­dis­kus­sion

MB: Die Zahlen, welche das Bundesamt für Sozi­al­ver­si­che­rungen seit zehn Jahren zur IV-Missbrauchsbekämpfung erhebt, stehen in starkem Kontrast zum Empö­rungs­level der öffent­li­chen Diskus­sion. 2017 wurden 630 Fälle von Versi­che­rungs­miss­brauch aufge­deckt. Bei insge­samt 220’000 IV-BezügerInnen und Bezü­gern ergibt das eine Miss­brauchs­quote von 0,3%. Mehr als zwei Drittel dieser Fälle wurden ohne Obser­va­tion aufge­deckt, beispiels­weise durch eine erneute medi­zi­ni­sche Abklärung.

PhS: Die Frage stellt sich also, warum diese letzt­lich ja margi­nalen Fälle so skan­da­li­siert werden. Warum lenkt man diese grosse gelinde gesagt Aufmerk­sam­keit auf jene wenigen, die zu Unrecht eine Rente oder viel­leicht auch nur einen zu grossen Anteil einer Rente beziehen? Welche versi­che­rungs­po­li­ti­sche bezie­hungs­weise sozi­al­po­li­ti­sche Stra­tegie steht hinter dieser Skandalisierungskampagne?

MB: Die Debatte über Miss­brauch ist effektiv älter als die Inva­li­den­ver­si­che­rung selbst. Bereits vor der Einfüh­rung der IV 1960 wurde befürchtet, dass eine Versi­che­rung gegen Inva­li­dität falsche Anreize setze, weil Menschen mit einer Behin­de­rung sich nicht mehr genü­gend bemühen würden, sich ins Arbeits­leben einzu­glie­dern. Solche Über­le­gungen waren mit ein Grund, warum die Vorlage für die Inva­li­den­ver­si­che­rung erst mehr als ein Jahr­zehnt nach der AHV umge­setzt wurde. Diskus­sionen um miss­bräuch­li­chen Leis­tungs­bezug wurden seither immer wieder geführt. Einmal stand die Verwal­tung im Fokus, ein andermal die Ärzte und oft natür­lich die Betrof­fenen selbst. Bereits in den 70er Jahren wurde verun­fallten Auslän­dern unter­stellt, sie würden nach Zuspre­chung einer Suva- oder IV-Rente lieber in ihre Heimat zurück­kehren, statt im fremden Land eine ange­passte Tätig­keit aufzunehmen.

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Die SVP fasste schliess­lich ab 2003 die voran­ge­gan­genen Debatten zusammen und atta­ckierte (fast) alle invol­vierten Akteure mit bisher unbe­kannter Schärfe. Der Schwer­punkt lag zudem auf so genannt «unklaren» Erkran­kungen, da die Zahl der Renten aus psychi­schen Gründen in den 90er Jahren markant zuge­nommen hatte. Die Trenn­linie zwischen unsicht­baren Erkran­kungen und miss­bräuch­li­chem Leis­tungs­bezug wurde in der Debatte bewusst flie­send gehalten. Dahinter steckte das Kalkül, bestimmte Krank­heits­gruppen von Versi­che­rungs­leis­tungen ausschliessen zu können.

PhS: Hat diese Kampagne „funk­tio­niert“?

MB: Ja, aller­dings. Da die IV mitt­ler­weile tief in den roten Zahlen stand, wurde die Thematik breit aufge­nommen. 2007 veröf­fent­lichte der libe­rale Think Tank Avenir Suisse im NZZ-Verlag eine Analyse zur Inva­li­den­ver­si­che­rung (Bütler/Gentinetta: Die IV – Eine Kran­ken­ge­schichte). In diesem Buch spra­chen die Autorinnen nicht von «Betrug», sondern veror­teten ein Haupt­pro­blem der IV bei der angeb­lich zuneh­menden Medi­ka­li­sie­rung persön­li­cher Probleme. Es sei finan­ziell schlicht sehr lohnend, krank zu sein. Die einfachste Moti­va­tion, sich in den Arbeits­markt zu inte­grieren, läge deshalb in der Senkung – oder Strei­chung – der staat­li­chen Transferleistungen.

Image­kam­pagne der Inva­li­den­ver­si­che­rung, 2009; Foto: Marie Baumann

2010 beschloss das Parla­ment dann im Rahmen der 6. IV-Revision unter anderem, dass bei IV-BezügerInnen mit unsicht­baren Erkran­kungen (Schmerz­stö­rungen, psychi­sche Krank­heiten) die Renten­be­rech­ti­gung über­prüft bzw. gestri­chen und 16’000 von ihnen wieder ins Erwerbs­leben einge­glie­dert werden sollten. Seit 2003 wurde ausserdem der Zugang zu einer IV-Rente speziell für Versi­cherte mit psychi­schen Erkran­kungen sukzes­sive verschärft. Die Zahl der jähr­li­chen Neurenten wurde dadurch inner­halb der letzten 15 Jahre um die Hälfte redu­ziert. Solche einschnei­denden Mass­nahmen wären wohl nicht möglich gewesen, ohne eine voraus­ge­hende bzw. beglei­tende Miss­brauchs­kam­pagne, die eine entspre­chende Stim­mung schuf.

PhS: Man könnte aber doch tatsäch­lich der Meinung sein, dass eine breite Wieder­ein­glie­de­rung ins Erwerbs­leben erstre­bens­wert wäre – falls möglich. War denn die Zahl von 16000 „geplanten“ Wieder­ein­glie­de­rungen realistisch?

MB: Nein, das war sie nicht. Die meisten der über­prüften IV-BezügerInnen haben sich als so stark einge­schränkt heraus­ge­stellt, dass statt der 16’000 nur einige hundert Versi­cherte (teil)eingegliedert werden konnten. Doch die Öffent­lich­keit nahm dies kaum zur Kenntnis – ebenso wenig wie beispiels­weise die Tatsache, dass mitt­ler­weile zwei Drittel der Lang­zeit­be­zie­henden in der Sozi­al­hilfe gesund­heit­liche Probleme haben, aber als «zu gesund» für die IV gelten. Einzel­schick­sale, gewiss tragisch… – aber die grosse Empö­rung gilt doch nach wie vor einzelnen spek­ta­ku­lären Missbrauchsfällen.

Soziale Span­nungs­ver­schär­fung

PhS: Man hat den Eindruck, dass die Empö­rung über diese Betrugs­fälle recht populär und verbreitet ist obwohl es sich doch wahr­schein­lich um Menschen handelt, die trotzdem zu den Benach­tei­ligsten unserer Gesell­schaft gehören, zu den Schwächsten am unteren Ende der sozialen Stufen­leiter. Falls dieser Eindruck nicht täuscht: Was geschieht hier? Warum diese offen­sicht­liche soziale Spannungsverschärfung?

MB: Die Vorstel­lung, dass sich jemand auf Kosten der Allge­mein­heit ein schönes Leben macht“, verär­gert verständ­li­cher­weise viele Leute. Sie gehen dabei von der Idee aus, dass es sich bei allen Fällen von IV-Missbrauch um voll­kommen gesunde Personen handelt, die mit grosser Hinter­list eine Behin­de­rung vorspielen. Das weckt Neid (So schön will ich es auch mal haben). Solche eindeu­tigen Fälle sind aller­dings sehr selten. Es sind aber natür­lich dieje­nigen, die in den Medien dann gera­dezu genuss­voll breit­ge­treten werden. Da IV-Antragstellende heute sehr genau abge­klärt werden, steht am Anfang in der Regel eine gesund­heit­liche Beein­träch­ti­gung. Was viele Leute nicht wissen: Die IV ist keine Behinderten-, sondern eine Erwerbs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rung, das heisst, eine IV-Rente wird nicht aufgrund einer Behin­de­rung oder Erkran­kung zuge­spro­chen, sondern aufgrund der Folgen, welche die gesund­heit­liche Einschrän­kung auf die Erwerbs­fä­hig­keit hat.

Image­kam­pagne der Inva­li­den­ver­si­che­rung, 2009; Foto: Marie Baumann

Da es (noch) keine Rönt­gen­ge­räte gibt, die den exakten Grad der Erwerbs(un)fähigkeit anzeigen, muss auch bei körper­lich klar diagnos­ti­zier­baren Erkran­kungen von der IV bzw. deren Gutach­tern einge­schätzt werden, wie sich die gesund­heit­li­chen Probleme im konkreten Fall auf die Erwerbs­fä­hig­keit der betrof­fenen Person auswirkt. Dabei gibt es eine gewisse Unschärfe.  Vergleichs­weise kleine Fehl­ein­schät­zungen können sich dabei stark auf die Renten­zu­sprache auswirken. Wer beispiel­weise von der IV als zu 39% erwerbs­un­fähig einge­schätzt wird, erhält keine Leis­tungen, jemand mit 50% erhält jedoch eine halbe IV-Rente.

Ich glaube, hinter diesem über­di­men­sio­nierten Ärger über den (doch sehr geringen) Sozi­al­ver­si­che­rungs­miss­brauch stecken – neben dem erwähnten Neid – auch eine gewisse Hilf­lo­sig­keit gegen­über der dem Thema innwoh­nenden Komple­xität und der Wunsch nach Verein­fa­chung. Menschen mit einer offen­sicht­li­chen Behin­de­rung sollten Unter­stüt­zung erhalten. So war das früher. Dass eine Roll­stuhl­fah­rerin heute viel­leicht als Anwältin arbeitet und deshalb gar kein Anrecht auf eine IV-Rente hat, stört dieses Bild genauso, wie dass man dem psychisch Kranken seine Einschrän­kung nicht ansieht.

PhS: Kommen wir zum Schluss noch­mals zum aktu­ellen Gesetz, gegen das das Refe­rendum ergriffen wurde und das eine sehr enge, in die Privat­sphäre eindrin­gende Obser­va­tion durch Detek­tive ermög­licht –, und zwar ohne dass ein Gericht diese Eingriffe erst bewil­ligen müsste. Juristen betonen, dass das eine rechts­staat­liche Anomalie sei. Selbst in Fällen, in denen ein Verdacht auf Terro­rismus oder ähnlich schwere poten­ti­elle Straf­taten vorliegt, müssen Gerichte die Über­wa­chung bewil­ligen.  Wie lässt sich das rechtfertigen?

MB: Eigent­lich gar nicht. Auch mit den Obser­va­tionen wird die unrea­lis­ti­sche Erwar­tung verbunden, dass damit ganz genau fest­ge­stellt werden könnte, wem Unter­stüt­zung zusteht und wem nicht. Wenn jemand zwei Wochen lang dabei beob­achtet wird, wie er jeden Tag acht Stunden auf einer Baustelle arbeitet, ist der Fall natür­lich klar. Oft geht es aber um subti­lere Frage­stel­lungen: Was sagt es beispiels­weise über die Erwerbs­fä­hig­keit einer Person aus, wenn sie trotz einer schweren Depres­sion ein Fest besucht und beim Lachen und Tanzen gefilmt wird? Dadurch, dass die Obser­va­tionen von den Versi­che­rungen selbst durch­ge­führt werden, fehlt auch eine Kontroll­in­stanz, die über­prüft, ob nicht nur belas­tendes, sondern auch entlas­tendes Mate­rial in die Bewer­tung einfliesst.

Und ganz gene­rell stellt sich die Frage: Welche Lebens­äus­se­rungen werden Menschen, die vorüber­ge­hend krank oder dauer­haft erwerbs­un­fähig sind, über­haupt noch zuge­standen, ohne sich verdächtig zu machen? Die IV-Stellen erhalten oft Hinweise aus der Bevöl­ke­rung, die zu vertieften Abklä­rungen führen können. In der Mehr­heit der Fälle bestä­tigt sich der Verdacht dann aller­dings nicht. Auf das Leben der Betrof­fenen hat dies trotzdem Einfluss: Einige IV-Bezügerinnen befürch­teten beispiels­weise, sie würden sich verdächtig machen, wenn sie an einem öffent­li­chen Ort Unter­schriften für das Refe­rendum gegen Versi­che­rungs­de­tek­tive sammelten (Aha, Unter­schriften sammeln können sie dann wieder!). Von aussen betrachtet wirkt das gera­dezu ironisch. Für dieje­nigen, deren Exis­tenz auf dem Spiel steht, ist es das nicht.