
Indien als „größte Demokratie der Welt“ zu bezeichnen, ist in der Weltpresse ein gern verwendetes Klischee, das seine Gültigkeit jedoch längst verloren hat. Sein Nachleben jedoch ist für eine antidemokratische, hindu-extremistische Regierung von großem Nutzen. Am 26. Januar 2021, dem 71. Jahrestag der Inkraftsetzung der indischen Verfassung, brachte die Neue Zürcher Zeitung eine als Nachricht getarnte Anzeige, die von der indischen Botschaft in der Schweiz bezahlt und geschaltet wurde und die versuchte, eine ungebrochene demokratische Linie von Mahatma Gandhi zu Narendra Modi zu ziehen. Dabei steht die Politik des Regimes in scharfem Gegensatz zu seinem Bedürfnis, internationale Legitimität als Demokratie einzufordern – und zu Hause wird der Anschein von Demokratie auch gar nicht mehr als notwendig erachtet. Der Versuch des Regimes, wenige Tage vor dem Jahrestag der Republik weitere Eingriffe in die akademische und intellektuelle Freiheit vorzunehmen, ist nur eines von vielen Ereignissen, die zeigen, dass der Begriff Demokratie in Indien inhaltsleer geworden ist.
Vor- und Selbstzensur
In aller Stille wurde in einer bürokratischen Mitteilung des Bildungsministeriums der indischen Regierung vom 15. Januar 2021 festgelegt, dass alle akademischen Online-Veranstaltungen oder Konferenzen, die an oder mit Beteiligung von staatlich finanzierten Institutionen stattfinden, einer vorherigen Genehmigung bedürfen und beim Außenministerium registriert werden müssen, wobei das Programm auf eine vom Ministerium bereitgestellte Online-Seite hochgeladen werden muss. An den akademischen Veranstaltungen dürfen keine inneren Angelegenheiten Indiens, keine sensiblen Themen oder Angelegenheiten der nationalen Sicherheit zur Sprache kommen. Zwar war die Formulierung der Bekanntmachung vage und allumfassend, aber es war klar, dass die relative Flexibilität und Leichtigkeit, mit der akademische und intellektuelle Zusammenarbeit online, d.h. ohne Budgets und ohne die Notwendigkeit von Reisen stattfinden konnten, der indischen Regierung ein Dorn im Auge war.
Die American Historical Association, einer der ersten akademischen Berufsverbände, der auf die Weisung reagierte, hielt fest, dass die neuen Richtlinien „die meisten Themen umfassten, die für indische Wissenschaftler von Interesse sind“. Andere akademische Verbände auf der ganzen Welt haben sich diesem Protest angeschlossen. Kolleg:innen in Indien sind sich einig, dass die neuen Richtlinien es fast unmöglich machen, etwas zu diskutieren, ohne vorzensiert zu werden oder sich und andere Akademiker:innen dem Risiko von Vergeltungsmaßnahmen auszusetzen. Diejenigen, die ein langes Gedächtnis haben, erinnern sich noch an die Einschränkungen und Angriffe auf die politischen und akademischen Freiheiten während des berüchtigten Ausnahmezustands von Premierministerin Indira Gandhi von 1975 bis 1977. Doch die meisten heute würden der Einschätzung zustimmen, dass die Angriffe auf diese Freiheiten und auf Akademiker und Intellektuelle unter Narendra Modi ziemlich beispiellos sind.
Indiens akademisches System hat, obwohl es unterfinanziert ist und manchmal unter suboptimalen Bedingungen arbeitet, sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften Forschung auf Weltniveau hervorgebracht. Aber ihre Glaubwürdigkeit hat unter dem neuen Regime gelitten, sowohl in Bezug auf die Qualität der Arbeit als auch gemessen am Maßstab der akademischen Freiheit. Die strukturellen Probleme und institutionellen Schwächen der indischen Wissenschaft wurden durch das Regime noch verschärft. Unqualifizierte Parteiloyalisten wurden an Universitäten zu Rektoren ernannt, um das politische Verhalten von Mitarbeitern und Studenten zu kontrollieren, wobei akademische Standards völlig außer Acht gelassen wurden. Staatliche oder staatlich finanzierte Universitäten sind direkter betroffen, aber auch private Universitäten, die im neuen Indien weiterarbeiten wollen, zensieren sich entweder selbst oder werden zur Konformität gezwungen, um nicht in Schwierigkeiten mit der Regierung zu geraten. Die Zahl der festen Stellen an den Universitäten wurde deutlich gesenkt, und es wurde auf Teilzeitdozent:innen und prekäre Verträge zurückgegriffen, wobei neue Stellen an Parteitreue vergeben wurden. Die Politik der schrittweisen Förderung von Menschen aus benachteiligten wirtschaftlichen Verhältnissen oder mit Kastenhintergrund (affirmative action) wurde angegriffen und die begrenzten Errungenschaften dieser Politik werden zurückgedrängt.
Kulturelle Werte und Gewalt
Es gibt eine steigende Tendenz im Namen „nationaler Prioritäten“ in Lehrinhalte einzugreifen, um „kulturelle“ Werte zu stärken. Die Zahl der Stellen für Doktorand:innen wurde stark reduziert, und die Betreuer:innen haben keine Kontrolle mehr über die Themen, die unter ihrer Aufsicht erforscht werden. In einigen Fällen haben die Universitäten gar direkt Themen für Dissertationen vorgegeben, die ausdrücklich regierungsfreundlichen politischen Positionen entsprechen. „Sensible Themen“, die als solche kaum definiert werden, sich aber in der Regel auf „hinduistische Gefühle“ beziehen, werden vorzensiert oder zensiert, und zwar nicht von Akademiker:innen, sondern von den politischen Pseudo-Gerichten der RSS, des paramilitärischen Flügels der regierenden Partei, oder der ABVP, ihres studentischen Flügels.

Die bei einem Angriff von Hindunationalisten auf den Campus der Jawaharlal Nehru University in Delhi am 5.1.2021 verletzte Studentenführerin Aishe Ghosh; Quelle: nytimes.com
Die ABVP bedroht die Organisator:innen akademischer Veranstaltungen mit Gewalt und führt häufig zerstörerische „Razzien“ gegen akademische Programme aus. Es ist zudem ein offenes Geheimnis, dass in den Universitäten in ganz Indien eine unverhüllt antimuslimische Stimmung herrscht, die von den Universitätsverwaltungen gefördert oder geschaffen und aufrechterhalten wird. Zusätzlich werden kastenhinduistische „Werte“ durch Einmischung in das Privatleben der Student:innen gefördert, oft durch die Durchsetzung „vegetarischer“ Ernährung in den Mensen und Wohnheimen.
Das Bildungsministerium kümmert sich weniger um die Bildung als vielmehr um die Zusammenarbeit mit den Ministerien, die sich mit Repression und „nationaler Sicherheit“ befassen. Wenn es Proteste gibt, wie z. B. gegen die Abschaffung des autonomen Status von Kaschmir, gegen das neue Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz, das Muslim:innen unverhältnismäßig stark entrechtet, oder die anhaltenden Proteste der Bauernbewegung, beschuldigt die Regierungspropaganda Studierende und Intellektuelle „anti-nationaler“ Aktivitäten. Viele, darunter oft Studierende oder Intellektuelle muslimischer Herkunft und ohne Zugehörigkeit zu einer der größeren Oppositionsparteien, wurden verhaftet und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Mehrere von ihnen haben viele Monate im Gefängnis verbracht, ohne zu wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Die systematische Besetzung führender akademischer Positionen mit rechten Ideologen ohne akademische Glaubwürdigkeit oder Publikationen geht einher mit der Tendenz, Forschung zu Themen zu verbieten, die dem Regime nicht genehm sind. Es gibt einen konsequenten Angriff auf die freie Auswahl der Forschungsthemen und auf die Publikationsfreiheit im Lande. Dies hat allmählich dazu geführt, dass internationale Universitäten mehr Unterlagen und schriftliche Arbeiten von Student:innen indischer Universitäten als Voraussetzung für die Zulassung verlangen.
Das Bemühen, Universitäten in Orte der sozialen Kontrolle zu verwandeln, ohne sich um den Schaden für die akademische Freiheit oder die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu kümmern, steht im Einklang mit der noch viel größeren Angst des Regimes vor dem Verlust der Kontrolle über seine öffentliche Botschaft. Die Mainstream-Presse in Indien leidet seit langem und in einem sich stetig verstärkendem Maß unter der Last staatlicher Repressionen – oder Formen der Einflussnahme durch die Zeitungseigentümer. Journalistinnen und Journalisten werden routinemäßig schikaniert, ihre Ausrüstung wird von der Polizei oder von bezahlten Parteihooligans zerstört, Journalisten werden zusammengeschlagen, Journalistinnen werden sexuell angegriffen und mit Vergewaltigung bedroht.
Gefühle
Internationale Charmeoffensiven wie die der indischen Botschaft in der NZZ stehen in scharfem Kontrast zu der weniger charmanten Offensive gegen Akademiker:innen, Intellektuelle, die Presse und nun auch gegen Indiens Bauern. Die Bauernbewegung hat Indien seit Dezember in die Weltnachrichten gebracht. Wie diese Proteste und die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz im vergangenen Jahr gezeigt haben, ist das Recht auf Protest massiv verletzt worden. Öffentliche Aktivist:innen aus der Zivilgesellschaft, die gegen die Regierung protestiert haben, haben sich auf der Grundlage unmöglicher Anschuldigungen – von der Anstiftung zu Unruhen in Delhi im Februar 2020 (in Wirklichkeit ein von der Regierungspartei organisiertes Pogrom) bis hin zur Beleidigung von „Gefühlen“ – im Gefängnis wiedergefunden und warten auf Prozesse, die nie stattzufinden scheinen, oder sie werden auf der Grundlage jener Art von Notstandsgesetzen gegen den „Terror“ inhaftiert, die überall auf der Welt zugenommen haben. Dazu kommt aber auch die geschickte Anwendung oder der Missbrauch von Gesetzen, die meist noch aus der Kolonialzeit stammen. Es wurde auch festgestellt, dass Menschen mit muslimischen Namen überproportional häufig verhaftet und inhaftiert werden (ein Komiker wurde aufgrund von Witzen verhaftet, die er möglicherweise machen könnte und die das „Hindu-Gefühl“ verletzen würden). Der regelmäßige Einsatz von Rufmord in der Öffentlichkeit und die Androhung von Lynchjustiz sind weitere Abschreckungsmaßnahmen gegen Andersdenkende.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Versuche, die akademische Kommunikation zu beschneiden – und sie erfordern einen starken Widerstand. Die akademische Kommunikation auf internationaler Ebene ist ein relativ privilegierter Raum, den die hindu-nationalistische Bewegung nicht vollständig kontrollieren konnte. Versuche der „Dharma Civilisation Foundation“ zum Beispiel, Lehrstühle zu finanzieren, die mit der hinduistischen Sichtweise der „indischen“ Zivilisation in den Vereinigten Staaten sympathisieren, scheiterten vor einigen Jahren vor allem an verfahrenstechnischen Unregelmäßigkeiten. An den Universitäten in Indien hingegen ist es relativ ruhig geworden, dank einer Kombination aus anti-intellektueller Propaganda, politischen Ernennungen und orchestrierter Gewalt, die von den Helferorganisationen der Regierung, paramilitärischen Gruppen und Mitgliedern der Studentengewerkschaft angezettelt wurde.
Wissenschaft als Loyalität
Es gibt zwar immer noch eine wissenschaftliche Gemeinschaft, die dem Druck nicht nachgegeben hat, sich von Themen fernzuhalten, die ein hinduistisches und autoritäres Regime für unbequem hält. Doch diese ist jetzt bedroht, sowohl im Inland als auch international. Einige Kolleg:innen haben ihre Besorgnis darüber geäußert, dass in bestimmten Teilgebieten wie den Sanskrit-Studien eine hindu-nationalistische Tendenz entweder vorherrscht oder von anderen Kolleg:innen geduldet wird. Der von der indischen Regierung kontrollierte Indian Council for Cultural Relations, eine Institution, die der Machtübernahme der Hindu-Nationalist:innen weit vorausgeht, platziert heute regimefreundliche Akademiker:innen an Universitäten in aller Welt. Viele „Wissenschaftler:innen“ sind dazu übergegangen, Wohlfühlgeschichten in Übereinstimmung mit dem nationalen „Gefühl“ zu produzieren – Geschichten, die jenen akademischen Trends zu entsprechen scheinen, die Historiker und Historikerinnen ermutigen, „Gefühle“ und emotionale Reaktionen beim Schreiben zu berücksichtigen. Es gibt eine Tendenz zur Selbstzensur bei Akademiker:innen, die inner- und außerhalb Indiens arbeiten sowie von internationalen Wissenschaftler:innen mit Indien-Bezug – eine Selbstzensur, die teilweise von den Erfordernissen des Überlebens, des Lebensunterhalts und/oder des Zugangs zu akademischen Räumen, Studienfeldern und Archiven angetrieben wird. Ohne sich einer Clique der Macht anzuschließen, haben Akademiker:innen aus nicht-mainstreamigen und unterprivilegierten Gemeinschaften keine Chance.
Damit verbunden ist unter Akademiker:innen die Angst, „postkoloniale Sensibilitäten“ zu verletzen. Dass Wissenschaftler:innen of colour scheinbar das Recht zurückgewonnen haben, für den „globalen Süden“ zu sprechen, hat dazu geführt, dass kritische Stimmen jeglicher Art zum Schweigen gebracht werden, damit sie nicht als Kritiker:innen einer anderen „Kultur“ oder – wenn sie weiß sind – als Ausübende ihres „weißen Privilegs“ angesehen werden. Dass viele Gelehrte of colour auch kritisch gegenüber einigen „postkolonialen“ oder „Global South“-Trends sind, wie auch gegenüber der Tendenz dieser akademischen Trends, die Politik des rechten Regimes in Indien zu legitimieren, wird leicht übersehen. Der akademische Mainstream, der sich weder in der Arbeit noch im Alltag mit diesen Themen oder Ländern beschäftigt, ist immer noch empfindlich, wenn es darum geht, sich in die Angelegenheiten der Wissenschaft der „Dritten Welt“ einzumischen, mit der (immer noch privilegierten) Implikation, dass es nicht ihre Angelegenheit sei, wenn sich unbedeutendere Länder über unverständliche Dinge streiten. In der Zwischenzeit haben die Regierungen im globalen Süden gelernt, die Sprache der verletzten postkolonialen Gefühle zu sprechen, sehr oft sogar unter Verwendung der Terminologie der akademischen Welt. Es ist dieses beunruhigende Zusammentreffen von akademischem Indigenismus und kulturellem Chauvinismus, das angesprochen werden muss. Es ist also nicht nur der Verlust akademischer Freiheiten, so beunruhigend er auch sein mag, der unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte, sondern die damit verbundene, miteinander verwobene und systematische, durch kulturellen Chauvinismus legitimierte Zerstörung der Demokratie in Indien, über die gesprochen werden muss.