Unser Verhältnis zu Nähe und Distanz hat sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie grundlegend verändert. Körperliche Nähe ist epidemiologisch gefährlich geworden, Social Distancing hat unseren Umgang mit Freund:innen und Bekannten auf den Kopf gestellt. Als Folge des pandemiebedingten Rückzugs ins Private sind viele mit einem neuen Gefühl der Enge konfrontiert. Homeoffice und Homeschooling haben zu Problemen geführt, die während der Zeit des Lockdowns besonders Familien mit Kindern zu spüren bekommen haben. Psycholog:innen warnen daher seit der Verschärfung der pandemischen Lage im letzten Jahr vor den psychosozialen Belastungen, die sich aus dem Fehlen von Rückzugsräumen für den Zusammenhalt in Familie und Partnerschaft ergeben.
Um dieser neuen Situation der Enge sprachlichen Ausdruck zu verleihen, kursiert vor allem in der psychologischen Ratgeberliteratur und in Teilen der medialen Berichterstattung ein Begriff, der in pointierter Weise psychisches Unwohlsein an die räumliche Umwelt bindet: Die Rede ist vom „Dichtestress“, der uns immer dann befalle, wenn wir keine Rückzugsräume mehr finden. So warnt beispielsweise ein Leitfaden der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, der auch von verschiedenen staatlichen Institutionen zitiert wird, vor den Gefahren, die vom „Dichtestress“ ausgehen:
Wenn Menschen in engen räumlichen Verhältnissen zusammen sind, entsteht oft sogenannter ‚Dichtestress‘ – man spricht auch von einem ‚Lagerkoller‘. Durch die ungewohnt viele gemeinsame Zeit können Konflikte in der Partnerschaft oder im Familienleben entstehen. Es kann zu Streit und im schlimmsten Fall zu Gewalthandlungen kommen.
Auch Therapeut:innen und Psychiater:innen von der Universität Gießen führen in einem Statement ein ganzes Bündel unterschiedlicher Emotionen und Verhaltensweisen während des Lockdowns auf „Dichtestress“ zurück: Er verursache „Wut, Ärger, Verzweiflung und Überaktivität“ und könne zu „familiären Konflikten“ führen. Und die Ärztin und Sexualtherapeutin Melanie Büttner thematisierte im ZEIT Online-Podcast „Ist das normal?“ die negativen Auswirkungen, die „Dichtestress“ auf das Sexualleben in Beziehungen haben könne. Um die Gefahren des „Dichtestress“ zu mildern, raten Experten zu individuellen Verhaltensanpassungen: Neben Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen helfe es etwa, in klar definierten Zeitfenstern einander Rückzugsmöglichkeiten zu gewähren und sich in Zeiten des Lockdowns selbst und anderen gegenüber „nachsichtiger als sonst“ zu zeigen.
Selbst wenn man sich in solchen Diagnosen wiedererkennen mag, sollte man beim Sprechen über „Dichtestress“ genauer hinsehen. Geht man früheren Verwendungsweisen des Begriffs nach, zeigt sich nämlich nicht nur, wie sich im Sprechen über „Dichtestress“ vielfältige Ängste eines biologischen Zusammenhangs von Enge, Gewalt und sexueller „Perversion“ bündelten. Sichtbar wird auch, dass die Kontexte, in denen der Begriff aufgerufen wurde, stets auch politische waren und heute noch sind.
Vom Ratten-Utopia zur globalen Überbevölkerung

Calhouns Experimente mit Mäusen, aus: Death Squared: The Explosive Growth and Demise of a Mouse Population von 1973.
Die Geschichte des Begriffs „Dichtestress“ nahm ihren Anfang in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer Reihe experimenteller Studien zum biologischen Phänomen der Überfüllung („crowding“), die der amerikanische Verhaltensforscher und Psychologe John B. Calhoun seit den späten 1940er Jahren durchführte. Zunächst an der Johns-Hopkins-Universität angestellt, wechselte Calhoun 1954 ans National Institute of Mental Health, das dem US-amerikanischen Gesundheitsministerium unterstellt war. Hier wurde er Teil der sich während des Kalten Kriegs intensivierenden Anstrengungen, sozialwissenschaftliches und psychologisches Wissen für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zu mobilisieren. Calhoun erforschte dazu, wie Ratten und andere Nagetiere auf den Entzug ihrer räumlichen Ausbreitungsmöglichkeiten reagierten. Dafür errichtete er in unterschiedlichen Versuchsanordnungen Käfiganlagen, in denen es den Nagern auf den ersten Blick an nichts mangelte. Die Ratten lebten im „Nager-Utopia“ („rodent utopia“), nur der verfügbare Platz wurde mit dem Anwachsen der Population zusehends knapp. An einem bestimmten Punkt der Verdichtung, den Calhoun „Verhaltenssenke“ („behavioral sink“) taufte, brach in den Käfigen das Chaos aus: Aggressives Verhalten nahm zu, die Ratten fielen übereinander her, ihr Paarungsverhalten „pervertierte“, die Rattenweibchen vernachlässigten ihre Jungen. Das zuvor ungehinderte Wachstum der Population brach ein, und mit ihm die soziale Ordnung der Rattengesellschaft.
Zwar sprach Calhoun selbst noch nicht vom „Dichtestress“, seine Ratten wurden nach der Veröffentlichung der Befunde im Jahr 1962 jedoch schnell zur Ikone: Wie der Pawlowsche Hund die klassische Konditionierung versinnbildlichte, verdeutlichten sie emblematisch den biologischen Zusammenhang von Enge und dem, was man als Pathologien des Verhaltens bezeichnete. Die Möglichkeit, Calhouns Forschungsergebnisse auf das menschliche Zusammenleben zu übertragen, lag für viele Zeitgenoss:innen auf der Hand: Enge war für sie nicht nur ein psychologisches, sondern ein gesellschaftliches Problem, dem man sich in unterschiedlichen Kontexten stellen müsse. Calhouns Ratten bekamen ihren Auftritt in den Diskussionen und Kontroversen über tierische und menschliche Aggression und Territorialität, die in den 1960er Jahren vor allem durch populäre Sachbücher wie Konrad Lorenz‘ Das sogenannte Böse (1963) und Robert Ardreys Der territoriale Imperativ (1966) befeuert wurden. Calhouns Forschungen regten auch die popkulturelle Imagination an. Seit dem Ende der 1960er Jahre erschienen in den USA zahlreiche Romane, Comic-Bücher und Filme, die Calhouns Verhaltenssenke aufgriffen und die Gefahren der Überbevölkerung drastisch in Szene setzten. Im populären Überbevölkerungsdiskurs, der sich seit den 1960er Jahren intensivierte, hatten Calhouns Ratten einen festen Platz: 1968 schlug das Sachbuch Die Bevölkerungsbombe des Stanford-Biologen Paul Ehrlich auf dem Buchmarkt ein. Ehrlich verwies unter anderem auch auf Calhouns Rattenexperimente und mahnte wie viele andere Stimmen dieser Zeit politische Maßnahmen gegen das unkontrollierte Bevölkerungswachstum im globalen Maßstab an.

Amerikanisches Comic-Heft aus dem Jahr 1970: Insect Fear. Der Untertitel lautet Tales from the Behavioral Sink.
Während solche alarmistischen Diskussionen vor allem in populären Medien ausgefochten wurden, forschte in den 1950er und 1960er Jahren neben John Calhoun eine ganze Reihe weiterer Wissenschaftler:innen zum Phänomen der Überfüllung. Calhouns Kollege John H. Christian beispielsweise griff die Arbeiten des ungarisch-kanadischen Hormonforschers Hans Selye auf, der gemeinhin als Vater der Stressforschung gilt, und untersuchte die physiologischen Grundlagen der „Verhaltenssenke“. Durch die Arbeit zahlreicher Verhaltensbiolog:innen und Psycholog:innen verbanden sich die englischen Begriffe „crowding“ und „stress“ im Lauf der 1960er und 1970er Jahre zusehends.
„Dichtestress“ im Ballungsraum
Seit den 1970er Jahren geriet „Stress“ dann in bisher unbekanntem Maße in den Fokus der medialen Öffentlichkeit, und der deutsche Begriff „Dichtestress“ erlebte eine erste Hochkonjunktur. Im Jahr 1976 rief Der Spiegel Stress zur neuen „Krankheit des Jahrhunderts“ aus. In der mehrseitigen Titelstory kam auch der deutsche Biokybernetiker Frederic Vester ausführlich zu Wort, der im selben Jahr mit dem Sachbuch Phänomen Streß maßgeblich zur Popularisierung der psychosozialen Stressforschung im deutschsprachigen Raum beitrug. Verdichtung war für Vester das elementare Organisationsprinzip, mit dem die Entwicklung im Grunde aller „komplexen Systeme“ beschrieben werden könne. Dichte war dabei ein höchst ambivalentes Phänomen: So sei sie einerseits der progressive Motor der Evolutionsgeschichte, da Verdichtung biologische und soziale Organisationsformen höherer Ordnung hervorbringe. Andererseits warnte Vester: „Jede Dichteschwelle birgt die Gefahr einer Katastrophe in sich.“ Entweder es gelinge die Organisation auf höherer Stufe, oder der Organismus zerfalle in einen früheren Dichtegrad.

Schematische Darstellung des „Dichtestress“ in Vesters Phänomen Streß (Überarbeite Ausgabe von 1978).
Vesters Ausführungen bewegten sich trotz des populären Charakters seines Buchs auf hohem Abstraktionsniveau. Die politischen Forderungen, die er aus ihnen ableitete, waren hingegen konkret und lebensnah – und beanspruchten unbedingte Dringlichkeit. Um dem steigenden „Dichtestress“ beizukommen, sah Vester vor allem im urbanen Raum politischen Handlungsbedarf. Im Maßnahmenkatalog, mit dem er sein Buch Phänomen Streß schloss, rief er Staat und Wirtschaft dazu auf, das „Gedränge“ in den Städten durch „raumordnerische Maßnahmen“ zu mildern. Auch in der Studie Ballungsraum in der Krise, die Vester als deutschen Beitrag zum UNESCO-Programm Man and the Biosphere im Auftrag des Bundesinnenministeriums erstellte, verschrieb er als Rezept eine Stärkung lokaler Kleineinheit. Urbane „Unterzentren“ sollten flexibel und selbstreguliert auf die benachbarten Teilsysteme reagieren können. Vester griff dabei den zivilisationskritischen Ton vieler Kommentator:innen der krisenhaften 1970er Jahre auf. Die menschliche Umwelt müsse den neuen Dichtegegebenheiten angepasst werden, andernfalls drohe „Entartung“ des individuellen Verhaltens und schließlich der Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation. Radikale politische Maßnahmen seien notwendig, um angesichts der immer größeren Dichte das Überleben der Menschheit zu sichern.
Die Dichte und die Fremden
Es vergingen einige Jahre, bis „Dichtestress“ von Vesters stadtpolitischen Interventionen in einen neuen politischen Kontext einrückte. Seit Ende der 1980er Jahren findet sich der Begriff vereinzelt in Schweizer Publikationen aus dem Feld der Migrationsforschung, in denen über die Folgen eines durch unkontrollierte Zuwanderung steigenden „Dichtestresses“ für die innere Sicherheit diskutiert wurde. Seinen Durchbruch in diesem Politikfeld erlebte der Begriff dann aber erst während der Diskussionen um zwei Volksinitiativen, die im Jahr 2014 in der Schweiz zur Abstimmung gebracht wurden.

Plakat zur Ecopop-Initiative aus dem Jahr 2014.
Die Vertreter:innen der „Masseneinwanderungsinitiative“, die 2011 von der Schweizerischen Volkspartei lanciert worden war, forderten, die Einwanderung in die Schweiz durch Kontingente zu regulieren, die am volkswirtschaftlichen Bedarf bemessen werden sollten. Auf ähnliche politische Maßnahmen zielte die Initiative „Stopp der Überbevölkerung“ der Umweltorganisation ECOPOP, die ökologisch argumentierend die Zuwanderung „zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlage“ auf 0,2 % der Schweizer Bevölkerung begrenzen wollte. „Dichtestress“ sollte im Abstimmungskampf die vermeintlichen psychosozialen Folgeschäden für jeden einzelnen in der entweder „überfremdeten“ oder „überbevölkerten“ „12-Millionen-Schweiz“ auf den Begriff bringen. Von der progressiven Ambivalenz der Dichte als einem Krisenphänomen, die für Vester in den 1970er Jahren zentral gewesen war, war nicht mehr viel zu spüren. Was blieb, war der „Dichtestress“ als affektgeladener Kampfbegriff und Drohkulisse der migrationskritischen und rassistischen Rhetorik.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs ist vor allem bemerkenswert, dass er im Kontext der Migrationsdebatten 2014 harschen Widerspruch erfahren hat. Erinnert sei daran, dass „Dichtestress“ noch im selben Jahr zum Schweizer „Unwort des Jahres“ gewählt wurde. Möglicherweise währte auch deswegen die Karriere des „Dichtestress“ als rassistischer Kampfbegriff nur relativ kurz.
Vom Kampfbegriff zum Imperativ Eigenverantwortung
In den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich der Begriff „Dichtestress“ jedoch in einem neuen Kontext eingenistet – wobei sich allerdings etwas verändert hat: War „Dichtestress“ bis vor wenigen Jahren ein Konzept, mit dem politische Forderungen untermauert wurden, scheint es sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie gleichsam mit den Menschen ins Private zurückgezogen zu haben. Seine politische Dimension hat „Dichtestress“ damit keinesfalls verloren, verändert hat sich jedoch die Art und Weise, wie mit ihm Politik betrieben wird. Statt wie Vester in den 1970er Jahre die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Gegenstand politischer Intervention zu machen, ist zusehends das Individuum in den Fokus gerückt, das sich an die neuen Gegebenheiten anpassen soll: Mit individuellen Verhaltensänderungen wie Achtsamkeitsübungen und gesteigerter Rücksichtnahme, so die als Ratschlag nur leidlich kaschierte Aufforderung, könne jeder selbst lernen, mit den psychosozialen Zumutungen der Pandemie umzugehen.
Diese Verschiebung im Sprechen vom „Dichtestress“ ist – ob im Einzelfall gewollt oder nicht, sei dahingestellt –, Teil einer größeren politischen und diskursiven Konstellation, die sich gerade während der Pandemie auch in anderen Politikfeldern (wie beispielsweise den Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung des Virus) beobachten lässt: Statt gesamtgesellschaftliche Herausforderungen als solche anzunehmen, werden mit Appellen an die Eigenverantwortung des Einzelnen politische Probleme individualisiert und soziale Verantwortung privatisiert. Die sozial- und wohnungs-, aber auch bildungs- und geschlechterpolitischen Fragen, die die empfundene Enge und die gesteigerte Anforderung an Care-Arbeit während der Pandemie im Kern berühren, geraten so aus dem Blick. Dieser diskursiven Verschiebung gilt es entgegenzuhalten. Den Begriff „Dichtestress“ mit seinem biologistischen und rassistischen Erbe brauchen wir dazu allerdings nicht!