

Angela Merkel bei ihrer Rede am 3.10.2021 in Halle (Saale); Quelle: welt.de
Es war eine erstaunliche Rede, die Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Sonntag anlässlich des 31. Tags der Deutschen Einheit bei der Festveranstaltung in Halle an der Saale hielt. Sechzehn Jahre Kanzlerschaft haben Angela Merkel als Bundeskanzlerin auch sechzehn Feiern zum deutschen Nationalfeiertag mitgestalten lassen. Doch in ihrer letzten Rede zu diesem Anlass gab Merkel noch einmal eine besondere, weil persönliche Note. Hatte Angela Merkel in ihrer langen Kanzlerschaft ihre ostdeutsche Biografie weitgehend als Nebensächlichkeit behandelt, die ihr kaum der Rede wert schien, sprach sie nun am eigenen Fall über die fortwährenden Beweispflichten und Zurücksetzungen, die ein Leben in der DDR auch noch drei Jahrzehnte nach der Wende mit sich bringt. Nicht als Einlassungen der „Bundeskanzlerin“, sondern als Schilderung einer „Bürgerin aus dem Osten“ wollte Merkel ihre Rede verstanden wissen: als Bericht von „einer von 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben“, das noch immer viel zu häufig nur als „Ballast“ begriffen wird. Mit Blick darauf, „dass die Wiedervereinigung für die allermeisten Menschen in Westdeutschland im Wesentlichen bedeutete, dass es weiterging wie zuvor, während sich für uns Ostdeutsche fast alles veränderte“, warb sie für Respekt vor den „Erfahrungen von Umbrüchen in familiären Biografien“, aus denen „gemeinsam Zuversicht und Stärke“ erwachsen könnten: für „ein Land, in dem alle miteinander immer neu lernen“, in dem „wir gemeinsam Zukunft formen“.
In den Augen so gut wie aller politischen Beobachter:innen traf sie damit den richtigen Ton. Von einer „ungewöhnlich offenen“, einer ebenso „außergewöhnlichen“ wie „bemerkenswerten“ Rede sprachen die Zeitungen im Anschluss, von einer Rede, mit der die Bundeskanzlerin am Ende ihrer Amtszeit „ein kleines Vermächtnis“ hinterlassen habe. Auch ich war von Merkels Rede beeindruckt, der bleibende Wert ihrer Worte scheint mir allerdings ungewiss. Gut möglich ist, dass Merkels letzte Rede zum Tag der Deutschen Einheit in ein paar Jahren eher als ein Schlusspunkt in Erinnerung bleiben wird. Und dies nicht nur, weil mit dieser Ansprache eine Politikerin „das Kanzleramt als eine ostdeutsche Bürgerin“ verlässt, die Biograf:innen und Historiker:innen mit der Rede ein stimmiges Schlussbild hinterließ: das Bild einer „ostdeutschen Kanzlerin aller Deutschen“, das als Abschluss ihrer so eng mit dem Vereinigungsprozess verflochtenen politischen Karriere taugt. Zu einem Ende kommt noch etwas anderes: die von Merkel am eigenen Beispiel beschworene, aus dem Vereinigungsprozess selbst stammende Erzählung vom Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West, deren Lücken und Blindstellen in den letzten Jahren zunehmend schärfer benannt worden sind.
Wie viel Vielfalt in der Einheit?
Blindstellen und Lücken zeigen sich bereits an einer eigentümlichen Spannung, die Merkels Rede prägte. Auf der einen Seite hielt die Bundeskanzlerin mit Verweis auf ihre Biografie ein engagiertes Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt, die sie als Leitbild einer demokratischen Gesellschaft vorführte. Es sei „das Besondere einer Demokratie“, so die Kanzlerin, dass sie „individuelle Überzeugungen und Lebensentwürfe“ zulasse und schütze und damit „Vielfalt und Unterschiede“ als „Ausdruck gelebter Freiheit“ ermögliche. Auf der anderen Seite war von der Vielfalt und den Unterschieden, die die deutsche Gesellschaft heute ausmachen, dann kaum die Rede. Merkels Ausführungen kreisten alleine um den biografisch bezeugten Unterschied zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen, die „Respekt vor den jeweiligen Biografien und Erfahrungen“ der anderen Seite aufbringen sollen, um damit Einheit zu gewährleisten. Solche Appelle prägten den Tag der Deutschen Einheit von Beginn an. Schon bei den ersten Feierlichkeiten am 3. Oktober 1991 hatten zahlreiche Bundespolitiker:innen Ost- und Westdeutsche aufgefordert, einander „zuzuhören“ und „Respekt“ für die unterschiedlichen „Geschichten“ und „Lebenserfahrungen“ in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern zu zeigen. Es sei entscheidend, hatte etwa Bundeskanzler Kohl in seiner Fernsehansprache im Oktober 1991 gemahnt, dass „wir Verständnis füreinander aufbringen, daß wir einander mit Achtung und Toleranz begegnen“.
Auch dreißig Jahre später besitzt dieser Appell weiterhin seine Notwendigkeit, aber zugleich ist unverkennbar, dass die so verstandene Herausforderung einer „inneren Einheit“ nicht mehr als Zentralachse für die Verhandlung gesellschaftlichen Zusammenhaltes taugt. Die „Vielfalt in unserem Land“, die am 3. Oktober 1991 etwa auch schon Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth in ihrer Festrede beschwor, ist in den vergangenen dreißig Jahren nicht nur deutlich vielfältiger geworden. Sie ist auch in den Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung gerückt, wodurch die Idee einer wie auch immer gearteten Einheit der Gesellschaft zunehmend fragwürdig wird. Die Leerstelle in Merkels Rede verdeutlicht sich am offensichtlichsten in migrantischen Erfahrungen, Lebenswegen und Perspektiven, die in der von ihr aktualisierten Erzählung vom Zusammenwachsen von Ost und West bis heute keinen Ort besitzen. Während des Vereinigungsprozess wurden sie noch überwiegend als „Ausländer“ oder – in der freundlicheren Variante – als „ausländische Mitbürger“ betrachtet und damit als Zaungäste des Einigungsprozesses apostrophiert. Als im Herbst 1989 die Berliner:innen nach Kreuzberg und Neukölln an die nun offene Mauer strömten und damit durch jene Stadtteile zogen, die sich mit ihrer bisherigen Randlage zu stark migrantisch geprägten Vierteln entwickelt hatten, wurden türkische und andere Stadtbewohner:innen nach Hause geschickt, weil diese Feier der Deutschen nicht ihre Party sei. Solche rassistischen Sichtweisen gründeten auf älteren Traditionen. Der extremen Rechten etwa waren die „Ausländer“ schon in den 1980er Jahren auch deshalb ein Dorn im Auge, denn sie drohten die westdeutsche Gesellschaft in einer Weise zu verändern, die eine zukünftige Wiedervereinigung der Deutschen in Ost und West verunmöglichen könnte.

Plakat zum Dokumentarfilm „Duvarlar, Mauern, Walls“; Quelle: gorki.de
An den Rand gedrängt, machten Migrant:innen, aber auch Juden und Jüdinnen und andere Minderheiten in den ersten Jahren des vereinten Deutschlands in Ost wie West ganz eigene Erfahrungen, die seit einigen Jahren durch Dokumentarfilme, Ausstellungen, Oral History-Projekte und andere, vor allem aktivistisch getragene Geschichtsarbeiten endlich mehr Gehör finden. Sie „stören“ die etablierte Erzählung von der Vereinigung von Ost und West und fordern auch in den offiziellen Feiern zum Nationalfeiertag Beachtung. Bereits 2018 kritisierten verschiedene Migrantenverbände treffend die „rein ‚weiße‘“ und „deutschdeutsche“ Sicht, die den Blick auf die deutsche Einheit präge, und damit die „rassistischen Erfahrungen“ der „Bindestrichdeutschen“ mit der Wende unterschlage. Diesen Erfahrungen mit einem „Tag der deutschen Vielfalt“ Ausdruck zu geben, so der damalige Vorschlag, ist seitdem immer wieder gefordert worden, ohne dass sich dies tatsächlich in den Einheitsfeiern niedergeschlagen hätte. Auch dafür ist Angela Merkels Rede Ausdruck. Die Grenzen und Blindstellen der Erzählung von der „inneren Einheit“, zu der West- und Ostdeutsche durch Anerkennung und Respekt kommen müssten, sind inzwischen dennoch offenkundig.
„Hoyerswerda“, „Hünxe“ und die Gewalt der Vereinigung
Das Bewusstsein für die blinden Flecken der etablierten Wendeerzählung werden angesichts der derzeit beginnenden Historisierung der frühen 1990er Jahre in den kommenden Jahren weiter wachsen. Mit dem nun 31. Jubiläum des Tags der Deutschen Einheit ist jener Abstand erreicht, mit dem sich eine größere Aufmerksamkeit von Historiker:innen – auch wegen der damit zugänglich werdenden Aktenbestände – auf die Vergangenheit richtet. Dies verspricht in den nächsten Jahren nicht nur weitere Arbeiten, die bislang kaum beachteten Perspektiven auf den Einigungsprozess mehr Sichtbarkeit geben werden. Mit diesen Arbeiten wird auch ein anderer Aspekt deutlicher werden: Dass der Tag der Deutschen Einheit nach dreißig Jahren selbst eine Geschichte besitzt – eine Geschichte von Rassismus und Gewalt. Diese Beobachtung besitzt eine gewisse Ironie, war der 3. Oktober von der Kohl-Regierung doch gerade deshalb zum neuen Nationalfeiertag auserkoren worden, um die Feiern freizuhalten von den Schatten der dunklen Vergangenheit, die das alternative Datum – der 9. November als Tag von Maueröffnung – durch Novemberpogrom 1938 und Hitler-Putsch 1923 auf diesen Tag geworfen hätte. Doch der 3. Oktober begründete seine eigene, dunkle Tradition.
Sie setzte bereits mit den Feiern der Vereinigung am 2./3. Oktober 1990 ein, wie ein Webprojekt zeigt, das sich um die Dokumentation neonazistischer Angriffe bemühte, die direkt vor oder am Tag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in Ost oder West stattfanden. Das Ausmaß dieser „Gewalt der Vereinigung“ ist erschreckend: Rund dreißig Überfälle auf Migrant:innen und Linke dokumentiert das Projekt derzeit, an denen sich im Kontext des allgemeinen „Einheitstaumels“ teils mehr als 150 Neonazis beteiligten. Noch intensiver war die rassistische Gewalt, die im Herbst 1991 die Folie für die ersten Feiern am neuen Nationalfeiertag bildete. Von dieser Gewalt ist vor allem das Pogrom im sächsischen Hoyerswerda in Erinnerung geblieben, dessen 30. Jahrestag vor ein paar Wochen einige Aufmerksamkeit fand. Doch die tagelangen Angriffe auf Geflüchtete, Arbeitsmigrant:innen und ihre Wohnheime bildeten Mitte September 1991 nur den Beginn einer rasanten Zunahme rassistischer Gewalt, wie sie die Bundesrepublik bis dahin noch nicht erlebt hatte, und die am Tag der Deutschen Einheit ihren entscheidenden Schub erhielt.

Das Kinderzimmer im Flüchtlingsheim Hünxe am Morgen des 3. Oktober 1991; Quelle: privat
„Tag der Einheit, Tag des Hasses“, titelte etwa die taz am 4. Oktober 1991 und auch andere Zeitungen berichteten alarmiert von der „Eskalation der Gewalt zum Tag der Einheit“. Zahlreiche Übergriffe und Attacken wurden an diesem Tag in West- und Ostdeutschland registriert. Dem Überfall auf einen türkischen Migranten in Mönchengladbach, der vor den Augen tatenloser Passant:innen mit acht Messerstichen niedergestochen wurde, hat Reinhard Mey ein Lied zum „3. Oktober ‘91“ gewidmet. In der Presse fand vor allem ein Brandanschlag im niederrheinischen Hünxe viel Aufmerksamkeit, bei dem zwei junge Mädchen schwerste Brandverletzungen erlitten. Doch damit sind nur Einzelfälle in einer erst Mitte der 1990er Jahre wieder abebbenden Kette an rassistischen Attacken und Anschlägen benannt: Fast 1.300 fremdenfeindliche Straftaten registrierten die Behörden im September und Oktober 1991 schließlich, wo es am Beginn des Jahres noch unter 50 Vorfälle pro Monat gewesen war. Darunter waren zahlreiche schwere Gewalttaten. Allein mehr als 150 Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte und migrantische Wohnstätten, also fünf pro Tag, zählte man im Oktober 1991. Mehr als 1.000 rechtsextreme Brandanschläge kamen bis zum Jahresende 1993 hinzu.
Keineswegs ging es nach der Vereinigung in Westdeutschland „für die allermeisten Menschen weiter wie zuvor“, wie Merkel in ihrer Rede meinte. Bei denjenigen, die nicht nur den Gewalttätern als „Fremde“ galten, prägten die rassistischen Anschläge und Übergriffe auch in Westdeutschland den Alltag und die Vorstellungen, die sie sich vom frischvereinten Deutschland und von ihrem Platz in der Vereinigungsgesellschaft machten. Prägend wurde die rassistische Gewalt der frühen 1990er Jahre aber auch für die west- und ostdeutsche Mehrheitsgesellschaft, wie sich regelmäßig am 3. Oktober beobachten ließ. Nicht nur bildete der Tag der Deutschen Einheit immer wieder ein Datum, an dem sich rechte Gewalt intensivierte. Sie fand an ihm auch besondere Aufmerksamkeit. Bereits die Feierlichkeiten zum ersten Tag der Deutschen Einheit 1991 waren nachhaltig von ihr bestimmt worden. Politiker:innen aller Parteien nutzten sie, um, wie die Tagesschau am Abend zusammenfasste, zu „Solidarität untereinander und zur Toleranz gegenüber Ausländern“ aufzurufen. Wie stark die rassistische Gewalt die Wahrnehmung des Tags der Deutschen Einheit bestimmte, zeigt eine kleine Episode aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, wo sich Anfang November 1991 ein CDU-Abgeordneter zur eindringlichen Warnung herausgefordert fühlte, „die Gewalttaten nicht in einen Zusammenhang mit dem Tag der Deutschen Einheit zu bringen“. Dies sei eine „nicht erlaubte Wertung“, weil damit „Verknüpfungen von Dingen aufgebaut [würden], die in gar keiner Weise ursächlich miteinander zu tun“ hätten. Doch auch 1992 und in den folgenden Jahren gehörte beides zu den festen Bestandteilen der Einheitsfeiern: die Exzesse rassistischer Gewalt und die Appelle an Toleranz und Mitmenschlichkeit mit den „Ausländern“. Der Tag der Deutschen Einheit wurde so zu einem wichtigen Termin, an dem sich die Bundesrepublik langsam ihrer gesellschaftlichen Vielfalt bewusst wurde und in der Abgrenzung von rechter Gewalt jene Vorstellung einer pluralen Gesellschaft mitformte, die Merkel in ihrer Rede hochhielt.
Eine neue Erzählung für den Tag der Deutschen Einheit
Wie sich diese langsam abzeichnende Geschichte des Tags der deutschen Einheit und die mit dem Blick auf West- und Ostdeutsche nicht mehr erfassende gesellschaftliche Vielfalt künftig in den Feiern am deutschen Nationalfeiertag niederschlagen werden, ist eine offene Frage. Sicher aber wird ein begrenzter Blick, der Gewalt und Rassismus weiterhin von dem Gedenken an die Deutsche Einheit fernhalten will, künftig kaum mehr überzeugen. Gefordert ist eine neue, komplexere Erzählung über den Vereinigungsprozess wie über das aus ihm gewachsene Land, die die weiter bestehenden Herausforderungen zwischen Ost und West nicht übergeht, aber sie in einem Rahmen zur Sprache bringt, der auch anderes einschließen kann: die ganz unterschiedlichen Geschichten der Menschen, die heute in diesem Land leben und die Erinnerung an rechte Gewalt, die den Tag der Deutschen Einheit auch zu einem Gedenktag machen. Dies ist eine große Aufgabe, zu der aus unterschiedlichen Perspektiven bereits Ideen aufgeworfen worden sind. Sie zu einer neuen, politischen Erzählung zu formen steht einem neuen Bundeskanzler bevor, dem dabei vielleicht zu Gute kommen wird, dass seine politische Karriere nicht mehr in jener Weise durch die Wende und die Spannungen zwischen West und Ost geprägt wurde, wie bei Angela Merkel. So beeindruckend ihre persönliche Rede zum Abschluss ihrer Amtszeit bleibt: Es wird Zeit, den Tag der Deutschen Einheit für andere Perspektiven und Erfahrungen zu öffnen.