Unsere Gegenwart wird gemeinhin als eine experimentelle, weltoffene, ja frivole wahrgenommen. Unangepasste High-Performer und Business-Punks, Berufsjugendliche und zunehmend auch Berufspubertäre, kosmopolitische Out-of-the-Box-Thinkers und innovative Quertreiber prägen seit den 1960er Jahren das Bild des liberalen Nachkriegswestens. Vorbei sind die Zeiten, so scheint es, als Marx und Engels die „Weißbierphilister“ verspotten konnten, Nietzsche verächtlich auf „Bildungsphilister“ herabblickte und Flaubert sich über die versnobte Bourgeoisie mokierte: „Es war wundervoll zu sehen, wie sie [Sinti und Roma bei Rouen] den Haß der Bürger auf sich zogen, obwohl sie so harmlos waren wie Schafe. Ich sah das Pack die Nase rümpfen, weil ich ihnen ein bißchen Kleingeld gab.“ Das spiessige „Pack“, das den Bohemiens weiland als Gegenspieler diente, ist vordergründig einem smarten, coolen Milieu mit Abweichungsethos, Differenzsensibilität und hoher Entgrenzungskompetenz gewichen. Taste the difference! Push the boundaries!

Manspreading als Spiessertum, Quelle: facebook
Mir scheint, dass es sich hierbei um ein Zerrbild, vielleicht auch um ein strategisches Missverständnis handelt. Denn die Kehrseite des Niedergangs des alten kleinbürgerlichen Spiessertums und die damit einhergehenden Zuwächse an Offenheit, Liberalität, Experimentierfreude und Frivolität sind eine tiefgreifende, aber selten beachtete neue Art der Verspiesserung. Vielleicht wird sie gerade deshalb nicht gesehen, weil sie so allgegenwärtig ist. Eigentlich hätte der Text deshalb „Der Spiesser“ heissen sollen. Da in letzter Zeit häufiger die Forderung an mich gerichtet wurde, ich möge doch einmal aus Gründen der historischen Gerechtigkeit das generische Femininum an Stelle des generischen Maskulinums verwenden, will ich das hier probehalber wagen.
Weltraum als Wohnraum
Zunächst: Was ist eine Spiesserin? Eine Spiesserin ist ein Wesen, das weder innerlich noch äusserlich im Stande ist, seine behaglich eingerichtete, säuberlich abgezirkelte Welt zu verlassen. Woran sie auch denkt, wohin sie auch geht – das Bezugsfeld bleibt ihre direkte Umgebung, eingedenk ihrer persönlichen Erfahrungen sowie jener ästhetischen Vorlieben und politischen Meinungen, die sich „richtig“ anfühlen. Dass da draussen noch etwas anderes ist als diese ihre ureigenste Sphäre, erfüllt die Spiesserin mit Unbehagen, weshalb sie sich dagegen immunisiert. Zugleich ist sie bestrebt, das „Aussen“ so anzupassen, dass es mit ihrem mentalen Wohnzimmer harmonisiert. Die eigentlich phlegmatische Spiesserin kann äusserst geschäftig werden, wenn es darum geht, die Welt nach ihrem Bild zu formen.
Woran erkennt man, dass die Spiesserin eine Galionsfigur unserer Zeit ist? Und wo begegnet man ihr? Das stärkste Indiz des Spiessertums ist die für unsere Gegenwart typische Ineinssetzung von öffentlichem und privatem Raum. Weil die Spiesserin ihr Wohnzimmer liebt und die Aussenwelt fürchtet, erklärt sie letztere zu ersterem und ihre Mitmenschen zu Möbelstücken. In den Stadtpark bringt sie ihre Boombox mit und dreht ihre Lieblingssongs auf, wie sie es auch zu Hause zu tun pflegt. In Fernzügen streift sie die Schuhe ab, legt die feuchten, buntbesockten Füsse hoch und diktiert ihre Lebensgeschichte als Epos ins Telefon. Nebenbei teilt sie einen dampfenden Döner mit ihren Mitreisenden, zumindest olfaktorisch. Die Atmungsapparate der unmittelbaren Nebensitzerinnen dienen ihr als Dunstabzug.
Wenn sie gähnt, so gähnt sie, wie sie es in den eigenen vier Wänden tut: ausgiebig, laut, mit für alle Umstehenden unverstelltem Blick auf die farblichen Nuancen des Zungenbelags, das Glitzerspiel der Speichelfäden und das dunkle Geschmeide der Zahnfüllungen. Auch was sonstige Umgangsformen und Kleidungsmodalitäten betrifft, ist sie überall und immer bei sich zuhause. Ich akzeptiere mich so, wie ich bin! An mir ist gar nichts falsch! Warum sollte ich es in der Öffentlichkeit nicht genau so bequem haben wie auf der Couch?
Die Toleranzbringschuld der Anderen
Dass das öffentliche Leben auch eine Ästhetik hat, an der alle Menschen als Künstlerinnen und Kuratorinnen mitwirken, mag der Spiesserin zwar einleuchten. Die Toleranzbringschuld aber liegt bei den anderen, nicht bei mir! Ob schluffig oder obszön, muffig oder fresh, flamboyant oder verwahrlost – anything goes. In den sozialen Netzwerken schliesslich spart die Spiesserin allenfalls den Toilettengang aus. Aber da schliesst man ja auch zuhause die Tür. Anders als Vertreterinnen der Gegenkultur wie die Punks will die Spiesserin bei alledem eigentlich gar nicht provozieren. Ihr ist es nicht um die Zerstörung eines „guten Stils“ zu tun. Sie vertritt keine radikale Ideologie. Sie will einfach nur ihr Wohnzimmer nicht verlassen.

„Damit es in der Stadt so schön ist wie zuhause“: Zürcher Werbung für die Stadtreinigung, Quelle: fb
Kurz, die Spiesserin stülpt ihr Privates unablässig in den Aussenraum, auf dass dieser an Schrecken verliere. Es ist, als habe sie Wilhelm Worringers Satz verinnerlicht: „Der Instinkt des Menschen aber ist nicht Weltfrömmigkeit, sondern Furcht“, ja sogar eine „ungeheure geistige Raumscheu“. Dass dem Aussenraum an den Ausstülpungen der Spiesserin nicht gelegen sein könnte, weil zum gelingenden Zusammenleben eine jede Abstriche bei ihren Neigungen machen muss, hält sie für üble, diskriminierende Nachrede, wenn nicht für Mobbing. Entsprechend aggressiv reagiert sie, wenn der Aussenraum ihren Ausstülpungen Skepsis oder gar Ablehnung entgegenbringt – und macht damit der Etymologie des Begriffs „Spiessbürger“ alle Ehre: Im Mittelalter pflegten Bürger ihre Gated Communities mit Spiessen zu verteidigen. Was als Akt bürgerlicher Emanzipation begann, fossiliert in der Folge zur basalen Selbstreferenz.
Das „Mein“ der „Meinung“
Aber nicht nur bei Alltagspetitessen, auch mit Blick auf die politische Kultur ist die Verspiesserung weit fortgeschritten – das stets etwas neurotisch wirkende Lippenbekenntnis, man stelle selbst eine „Alternative“ dar, bilde eine „Avantgarde“, sei „gegen das Establishment“ oder wirke als „Outsider“, verstärkt diesen Eindruck noch. So betont die Spiesserin in politischen Auseinandersetzungen unablässig, es sei ihr gutes Recht, ihre Meinung kundzutun, niemand könne ihr das verbieten. Man wird doch wohl noch! Die anderen sollen sich nicht so haben! Dabei ist die Tatsache, dass man dieses und jenes doch wohl noch sagen dürfe, für die Spiesserin gleichbedeutend damit, dass das, was da von ihr gesagt worden ist, richtig ist. Das „Mein“ in „Meinung“ nimmt sie überaus ernst.
Spricht sie hingegen von „wir“, so ist es nicht das empirische, mannigfaltige, widerständige „Wir“ der Faktizität, sondern das knetmassenartige „Wir“ der heimeligen Imagination. Die Spiesserin ist das Volk, ob auf rechter oder linker Seite. Zaghafte Einwände, sie stelle doch eher eine Minderheit dar, wertet sie als ehrverletzend, Kritik steht kurz vor Terrorismus. Überhaupt akzeptiert sie Argumente nur, wenn diese in ihrem Sinne sind und tauscht sich am liebsten mit Menschen aus, die wie sie denken, sich wie sie fühlen, sich wie sie kleiden, wie sie leben. Ihre Gegenüber sind in Wahrheit also keine Gegenüber, sondern sie selbst in anderer Gestalt. Im Wohlfühlbad der wechselseitigen Selbstbestätigung erfreut sie sich an den schillernden Blasen – wenn sie platzen, wird einfach neuer Schaum geschlagen.
Wenn sie schliesslich Entscheidungen trifft, die politische oder soziale oder ökonomische oder ökologische Implikationen haben, dann kann es sich stets nur um einzelne, einmalige Handlungen von kleinstmöglicher Tragweite handeln. Diese selbstbewusste Selbstverzwergung ist eine raffinierte Form der Selbstentlastung. So fährt die Spiesserin ihr ganzes Leben lang immer wieder nur einmal kurze Strecken mit dem Auto, fliegt immer wieder nur einmal zum Shoppingwochenende nach London, vergisst immer wieder nur einmal, an einer wichtigen Abstimmung teilzunehmen und ist ihren Mitmenschen gegenüber immer wieder nur einmal unflätig. So schlimm kann das eine Mal doch nicht sein! Bin doch nur ich! Und plötzlich ist sie nicht mehr „das Volk“.
Steigerungsform: die Globalspiesserin
Die Steigerungsform der Spiesserin ist die Globalspiesserin. Diese zwängt der Umwelt nicht ihr Wohnzimmer auf, vielmehr ist sie der Überzeugung, dass die gesamte Welt seit jeher ihr palastartiges Wohnhaus ist. Wohin sie auch reist, ob zum Yoga-Retreat nach Sri Lanka oder zur Safari nach Namibia, ob zur Kunstvernissage in Washington D.C. oder zu einer Gourmet-Verköstigung in Wrocław –, das Haus der Welt ist für sie eingerichtet und hat nur auf sie gewartet. In weit entfernt gelegenen Zimmern, die sie auf einem genau festgelegten Parcours jeweils „entdeckt“, findet sie alles „fantastisch“, die Mitbewohnerinnen sind stets „total freundlich“ und die Küche „super interessant“. Stets entspricht das „Andere“, dem sie voller Spannung entgegensieht, genau den Erwartungen, die sie daran hegt.
Aber wehe, wenn sie entdeckt, dass infolge einer Unaufmerksamkeit der Hausverwaltung Räume an ungefügige Mitbewohnerinnen vergeben wurden! Mitbewohnerinnen, die ihre Zimmertüren verschliessen, die keinen Wert auf gemeinsame Mahlzeiten legen, die sich für die Interessen der Hausherrin nicht interessieren und die sogar ohne Erlaubnis Hinterausgänge gebaut haben. Dann beschliesst sie, dass so etwas nicht sein darf, weist die Hausverwaltung an, die Mietverträge zu kündigen oder, sollte das aus rechtlichen Gründen nicht möglich sein, künftige Zusammenstösse zu unterbinden. Fortan begibt sie sich nur noch in Räume, von denen sie sicher sein kann, dort keine unliebsamen Begegnungen zu machen.
Wer also von der Frivolität, Offenheit und Experimentierfreude der Gegenwart spricht oder diese als exzessiv kritisiert, darf von der sie begleitenden Verspiesserung nicht schweigen. Die frivole Nonchalance, die zu Flauberts Zeiten noch Spiesserschreckqualitäten hatte, ist ihrerseits spiessig geworden. Auch diejenigen, die vordergründig unangepasst wirken, die sich individualistisch oder „ganz natürlich“ geben, sind vor ihr nicht gefeit. Lockerheit und Entgrenzung sind oft nur Chiffren für die angstgetriebene oder narzisstische Ausstülpung des Selbst in die Anderen oder des Wohn-Raums in den Welt-Raum. Die einst revolutionäre Erkenntnis, dass das Individuum zählt und dass das Private politisch ist, regrediert in diesem Zuge zur Verbrämung eines selbstgefälligen, selbstgenügsamen Exhibitionismus – in Demokratien ist Politik eine öffentliche Angelegenheit, also raus mit dem Intimsten, ob in den sozialen Netzwerken oder beim Handygespräch im Zug! Überall dort, wo die eigene Welt zum Universum wird, wo die Mein-ung alles und die Wir-ung nichts zählt, wo die Mitmenschen zu Staffagefiguren des eigenen Weltbilds werden, da regiert das Spiessertum.