Der 27. April 1994 war ein Tag, der wie wenige andere einen historischen Moment der globalen Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit symbolisierte. Als Millionen von Südafrikaner:innen stundenlang in endlosen Schlangen warteten, um zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme abzugeben – die Wahlbeteiligung lag bei nahezu 90 Prozent – schien ein neues Zeitalter anzubrechen. Trotz der vorangegangenen bürgerkriegsähnlichen Zustände in Teilen des Landes wurde der letztlich relativ friedliche Übergang zur Demokratie auf der ganzen Welt als „Wunder“ gefeiert. Ein brutales, ungerechtes und international geächtetes Regime wurde von der Mehrheitsregierung unter Präsident Nelson Mandela und einer Reihe verdienter Freiheitskämpfer:innen abgelöst. Die Apartheid war zu Ende und ein „besseres Leben für alle“, wie die neue Regierung unter der Führung des African National Congress (ANC) versprach, schien in Reichweite gerückt zu sein. „Freedom in our lifetime“, einer der bekanntesten Slogans der jungen Anti-Apartheid Aktivist:innen der 1980er-Jahre, schien sich endlich erfüllt zu haben.
Knapp dreissig Jahre später ist von dieser Hoffnung nur noch wenig zu spüren. In den schwarzen Townships am Rande der Städte wie in den ländlichen Gebieten der ehemaligen „homelands“ ist die Hoffnungslosigkeit vieler Menschen mehr als greifbar. Südafrika zählt heute zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit, mit steigender Arbeitslosigkeit – mehr als die Hälfte der vierzehn bis vierundzwanzigjährigen Menschen hat keine Arbeit – und Armut. Was war geschehen?
Unfreedom Day
Ausgelöst durch die Inhaftierung des ehemaligen südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma, symbolisieren die Juli-Unruhen die tiefe soziale und politische Krise, in der sich das Land befindet. Sisi Khampepe, Richterin am Verfassungsgericht, hat Zuma Ende Juni 2021 wegen Missachtung des Gerichts zu einer 15-monatigen Haftstrafe verurteilt. Zuma hatte sich geweigert, vor der Zondo-Kommission zu Korruptions-Vorwürfen Stellung zu beziehen, und sich dabei der Anordnung des Verfassungsgerichts widersetzt. Kurz nach Zumas Inhaftierung am 7. Juli brachen soziale Unruhen aus, die rasch von Durban im Osten des Landes – der Hochburg Jacob Zumas – nach Johannesburg übergriffen. In den Innenstädten von Durban und Johannesburg waren tagelang Schüsse zu hören. Einkaufszentren wurden geplündert, Häuser in Brand gesteckt und Strassen verbarrikadiert; Zehntausende Ladenbesitzer verloren über Nacht ihre Existenzgrundlage, und schon bald wurden vielerorts die Lebensmittel knapp. Im Verlaufe der folgenden Tage kamen mehr als dreihundert Menschen ums Leben.
Plünderer bei einem Shopping Center in Soweto, 13.7.2021; Quelle: dailysabah.com
Bald erschienen erste Analysen in den Medien, wonach die Unruhen von den Anhängern Zumas initiiert und geplant worden seien, um seine Freilassung zu bewirken und den amtierenden Präsidenten Cyril Ramaphosa zum Rücktritt zu zwingen. Laut einem bekannten politischen Analysten handelte es sich um einen Aufstand der Eliten, dem sich die verarmte Bevölkerung aus pragmatischen Gründen angeschlossen habe. Andere Kommentator:innen sprachen von food riots der Bevölkerung, ausgelöst durch Hunger, Armut und Ungleichheit. In ihrer öffentlichen Stellungnahme erinnerte Abahlali baseMjondolo, die grösste Vereinigung von shack dwellers, an ihre jahrelangen Warnungen, dass Südafrikas Armut, Ungleichheit, Korruption und autoritäre Tendenzen innerhalb der Regierung Nährboden für Massenproteste und Gewalt seien.
Doch diese Erklärungen reichen nicht aus. Die soziale Krise, die sich hinter den Unruhen verbirgt, wirft Fragen nach der Bedeutung von Freiheit und Demokratie auf sowie der historischen Erfahrung damit. Wenn das Land jedes Jahr am 27. April, dem «Freedom Day», an die ersten demokratischen Wahlen erinnert, stellt sich die Frage, wessen Freiheit hier eigentlich gefeiert wird. Ist Südafrika kollektiv unfrei, wie der Politologe und Soziologe Lawrence Hamilton argumentiert? Abahlali baseMjondolo scheint dies so zu sehen: Seit wenigen Jahren erinnert die Bewegung am Unfreedom Day an das Los der verarmten Bevölkerung. Tatsächlich sind die Unruhen, die Anfang Juli dieses Jahres das Land erschütterten, Ausdruck eines geplatzten Traumes von allumfassender Freiheit und der Unzufriedenheit mit einer Regierung, die als Hindernis in der Erlangung ebendieser Freiheit wahrgenommen wird.
Unseren Eltern wurden Träume verkauft
Seit 1994 hat der regierende ANC knapp drei Millionen Häuser gebaut, Millionen von Haushalten elektrifiziert, mit fliessendem Wasser versehen und den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Beihilfe kräftig ausgeweitet. Diese Fortschritte verhindern aber nicht, dass ein Grossteil von Südafrikas Bevölkerung noch immer in prekären Verhältnissen lebt; seit Beginn der Covid-19-Pandemie hat sich die Situation sogar noch dramatisch verschlimmert. Laut einer aktuellen Studie leidet dieses Jahr mindestens ein Fünftel der Bevölkerung Hunger, knapp 28 Prozent lebt in extremer Armut, und die Arbeitslosigkeit liegt gegenwärtig bei 44 Prozent.
Es ist daher nicht überraschend, dass die Bevölkerung ihre Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit seit 2004 immer drastischer zum Ausdruck bringt. Südafrika hat heute eine der höchsten Protestraten weltweit: Bei diesen rebellions of the poor stehen sowohl Forderungen nach Erfüllung sozioökonomischer Rechte – wie etwa das Recht auf Wasser, adäquaten Wohnraum oder Elektrizität – als auch Fragen nach der Umverteilung des Landes und der Produktionsverhältnisse sowie eine fundamentale Kritik an Korruption, Vetternwirtschaft und autoritärer Regierungspolitik im Vordergrund. Viele dieser Bewegungen üben Kritik an den Kompromissen, die während des Übergangs zur Demokratie in den frühen 1990er-Jahren ausgehandelt worden sind. Trevor Ngwane, linker Aktivist und bekannter Kritiker der Regierung etwa schreibt: “Die Menschen wollen, dass der Übergang von der Apartheid zur Demokratie zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen führt. Sie wollen ein Maß an materiellem Komfort und Sicherheit, das über die abstrakten Rechte hinausgeht, die sie angeblich genießen.“
Kritik kommt nicht nur von Bewegungen, die sich links vom ANC positionieren, oder auch von ehemaligen enttäuschten Aktivist:innen des ANC selbst, sondern generell von der Jugend, den „born free“. Die #FeesMustFall-Proteste, die 2015 und 2016 südafrikanische Universitäten zum Stillstand brachten (und gerade an historisch benachteiligten Universitäten auf die finanzielle Ausgrenzung vieler Studierender aufmerksam machen), sind Ausdruck davon. „Our parents were sold dreams in 1994. We are just here for the refund”, stand auf einem Plakat während der studentischen Proteste. Ein eindrücklicher Slogan, der eine historische Schuld einfordert.
Zwischen Freiheit und Demokratie
Doch was war dieser Traum? Was stellten sich die Menschen unter Freiheit vor? Welche Hoffnungen und Zukunftsvisionen hatten sie? Vorstellungen von Freiheit und Demokratie waren, und sind noch heute, tief in der Komplexität des Alltags verankert. Die gelebten Erfahrungen mit Südafrikas racial capitalism, geprägt durch Segregation und Vertreibung aus den Städten, Enteignung des Landes, Diskriminierung und Unterdrückung, waren wegweisend für das Verständnis, die Visionen und die Hoffnungen der Schwarzen Mehrheit. Frei zu sein war, wie etwa Interviews mit Zeitzeug:innen darlegen, eng mit der Möglichkeit verbunden, sich frei entfalten zu können, Fortschritte zu erzielen und ein würdevolles, gesichertes Leben jenseits von Armut, Ungleichheit, Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung aufzubauen. Freiheit bedeutete also auch, das volle menschliche Potenzial in einer egalitären Welt ausschöpfen zu können.
Slumsiedlung; Quelle: Flickr/Aaron Brown/globalcitizen.com
Zwischen den späten 1960er und den frühen 1990er Jahren entstand so eine Vielzahl politischer Visionen, die ein sehr breites Verständnis von Freiheit beinhalteten. So zeigen etwa die Aufstände in den Townships während der 1980er-Jahre, dass nicht nur die klassischen politischen Rechte im Zentrum der Forderungen standen, sondern dass man sich viel grundlegender nach einer neuen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung sehnte. Zugang zu materiellen Leistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung, qualitativ hochwertigem Wohnraum und Lohngleichheit spielten eine zentrale Rolle in der Entwicklung eines umfassenden Freiheitsbegriffs. So war der Auslöser für den Aufstand im Vaal-Dreieck im September 1984, der gemeinhin als Beginn der Aufstände in den Townships gilt, eine Erhöhung des Mietzinses und die korrupte Politik der Stadträte.
Gleichzeitig waren gerade die 1980er-Jahre auch eine Zeit, in der populäre Visionen von Demokratie einhergingen mit praktischen Erfahrungen auf lokaler Ebene, von den Grassroots-Bewegungen über die Frauenproteste bis hin zu weissen Kriegsdienstverweigerern. Die neu entstandenen Strassenkomitees, alternative Gefässe demokratischer Repräsentation und politischer Mobilisation, werden oft als Vorreiter einer alternativen politischen Kultur genannt, die aber nach Beginn der politischen Verhandlungen in den frühen 1990er-Jahren kaum noch Beachtung fanden. Nicht nur verlagerte sich der politische Fokus nun auf höhere Parteikader und die internationale Bühne, sondern es kehrten viele Anti-Apartheid Kämpfer:innen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Exil in Westeuropa, Ländern des Ostblocks oder den USA zurück und veränderten die politische Landschaft auf nationaler und lokaler Ebene, bis in die ANC-Ortsgruppen hinein.
Was genau mit Freiheit und Demokratie gemeint war, blieb umstritten; es gab nicht nur eine, sondern zahlreiche Visionen einer neuen Ordnung, deren Bedeutungen und Inhalte sich teilweise überschnitten und teilweise widersprachen. Durchgesetzt hat sich schliesslich eine Vision, die aus Verhandlungen zwischen dem ANC und der damals noch amtierenden Apartheidregierung während der frühen 1990er-Jahre resultierte: die Vision einer liberalen Ordnung mit einer progressiven Verfassung, in der sozioökonomische Rechte als Menschenrechte verankert sind. Die nationale Befreiung wurde einer sozialistischen Revolution vorangestellt.
Gemeinschaftsgärten und demokratische Partizipation
Auf lokaler Ebene finden sich aber noch heute alternative Traditionen demokratischer Partizipation, die an die Strassenkomitees der 1980er Jahre erinnern. In Makhanda (ehemals Grahamstown) haben sich Arbeitslose, Taxifahrer und Arbeiter:innen vor wenigen Wochen zusammengeschlossen, um bei den Lokalwahlen unter dem Namen Makana Citizens Front anzutreten. Sie fordern eine Verbesserung der Lebensumstände und den Rücktritt aller Stadträte. Dabei zeichnet sich diese neue Bewegung durch das Fehlen einer internen Hierarchie aus: die Mitglieder treffen sich wöchentlich auf einem öffentlichen Platz, um ihre Anliegen und Vorschläge zu besprechen. Nosigqibo Soxujwa, eine Vertreterin der Bewegung, beschreibt den Entscheidungsfindungsprozess:
Ich würde nicht sagen, dass der Platz [an dem sich die Bewegung trifft] demokratisch ist, weil er viel mehr ist. Das Mikrofon ist für alle zugänglich und alle schlagen einfach vor, was sie vorschlagen möchten. Wenn die Bewohner ihre Ansicht dann als richtig ansehen, werden sie zustimmen. Die Entscheidungen, die getroffen werden, sind menschenzentriert.
Frauen wie Soxujwa spielen in dieser neuen Bewegung eine zentrale Rolle. Sie kritisieren nicht nur die Korruption, den autoritären Führungsstil und die uneingelösten Versprechen der Regierung, sondern auch patriarchale Machtstrukturen und Sexismus.
Auch die Gemeinschaftsgärten in den Armensiedlungen am Rand der Städte erinnern an vergangene Traditionen. Selbsthilfeprojekte spielten bei den Anhänger:innen der Black Consciousness Bewegung – jener Bewegung, die während den 1970er und 1980er Jahren die psychologische (Selbst)Befreiung als eine wichtige Voraussetzung für die politische Befreiung verstand – bei der Bekämpfung von Armut und Hunger heute wieder eine wichtige Rolle. Andere Praktiken, wie Landbesetzungen und der (illegale) Wiederanschluss an das Strom- und Wassernetz, sind in einem radikalen Anspruch auf Erfüllung sozioökonomischer Rechte verortet, wie sie in der Verfassung verankert sind. Sie sind aber auch Ausdruck einer historischen Erfahrung, die den Freiheitsbegriff nachhaltig prägte: So spielte die Forderung nach Wasser und Elektrizität bereits eine wichtige Rolle bei vielen Grassroots-Bewegungen der 1980er Jahre.
Auch an den Universitäten werden historische Symbole mobilisiert, um auf soziale Ungerechtigkeit und den finanziellen Ausschluss vieler Schwarzer Studierender aufmerksam zu machen. So wurde das Lied “Solomon” zur Hymne der #FeesMustFall-Bewegung. Es erinnert an Solomon Kalushi Mahlangu, einen Guerilla-Kämpfer des Umkhonto weSizwe, dem bewaffneten Flügel des ANC, der 1979 für seine Aktivitäten zum Tode verurteilt und gehenkt wurde. Das Lied symbolisiert den Aufruf an eine neue Generation von jungen Südafrikaner:innen, den Kampf für Gleichberechtigung und Freiheit fortzuführen. Studierende knüpfen ebenfalls an die politische Vision der Black Consciousness Bewegung an, wenn sie epistemische Freiheit, die Dekolonisation des Curriculums an den Universitäten und eine Rückbesinnung auf „black pride“ fordern. Inspiriert von der Pädagogik Paulo Freires erarbeiten sie z.B. auch neue Formen des Lernens.
Hoffnung gibt es also trotzdem. Sie liegt heute in Grassroots-Initiativen und neuen sozialen Bewegungen, die alternative Visionen eines freien Südafrika entwerfen. Im bewussten Rückgriff auf historische Narrative, fordern sie eine Neuverhandlung der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung. Genau hier werden die Vielfältigkeit des Freiheitsbegriffes und alternative Traditionen der Demokratie zum Potenzial neuer Träume.