Am 3. Oktober 1990 wurde die Vereinigung von BRD und DDR vollzogen. Genau ein Jahr später brannte im niederrheinischen Hünxe das Flüchtlingsheim. Welchen Platz hat die rassistische Gewalt der Wendejahre in der Debatte um 30 Jahre deutsche Einheit?

Jahres­tage sind für Historiker:innen so eine Sache. Keine Geschichts­schrei­bung kommt ohne die einschnei­denden Ereig­nisse aus, die sich als Fixpunkte des öffent­li­chen Erin­nerns fest­ge­setzt haben. Aber zugleich legen sie die Ausein­an­der­set­zung mit der Vergan­gen­heit auf einen festen Kanon an Daten und histo­ri­schen Zusam­men­hängen fest, an dem in regel­mä­ßiger Wieder­kehr die immer glei­chen Fragen debat­tiert werden. Anderes tritt hinter dieser „Endlos­schleife“ zurück. Auch deshalb, so hat der Histo­riker Frank Bösch zurecht ange­merkt, fehle es in der poli­ti­schen Diskus­sion der Gegen­wart oftmals an „Geschichts­be­wusst­sein“. Das „Aufkommen von Klima- und Umwelt­schutz, von Migra­tion oder Rassismus“ etwa lasse sich „kaum von den etablierten Jahres­tagen aus erzählen“. Deshalb, so sein Vorschlag, brauche es „neue Jahres­tage“, die „den Kanon um andere Ereig­nisse erwei­tern, die aus heutiger Sicht mehr Aufmerk­sam­keit verdienen“.

Das ritua­li­sierte Spiel des Jahres­tags­ge­den­kens, aber auch die Schwie­rig­keiten, dessen Routinen zu durch­bre­chen, haben sich gerade wieder einmal anschau­lich an „30 Jahre deut­sche Einheit“ beob­achten lassen. Auch wenn das zentrale Bürger­fest in diesem Jahr wegen des Pande­mie­schutzes nur in abge­speckter Version statt­finden konnte, lenkte der Jahrestag die mediale Aufmerk­sam­keit wieder auf jene Fragen, die auch in den vergan­genen Jahren stets zu diesem Datum disku­tiert wurden: Wie steht es um die Einheit der Deut­schen? Haben sie zusam­men­ge­funden in dem vereinten Land? Und was genau eint sie heute?

3. Oktober und 9. November: Jahres­tage zwischen poli­ti­scher und persön­li­cher Geschichte

Ein wich­tiger Grund für die Beharr­lich­keit der Jahres­tags­rou­tinen, aber auch für die Schwie­rig­keit, Jubi­läen einfach neu zu stifften, ist der Umstand, dass sich in diesen Daten nicht nur allge­meine Geschichte spie­gelt, sondern sie auch Anker­punkte persön­li­cher oder fami­liärer Erin­ne­rungen sind. An ihnen berühren sich histo­ri­sches Geschehen und das eigene Leben oder das der Eltern und Groß­el­tern, was sich vor allem in der Erin­ne­rung daran bündelt, wo man an diesem Tag gewesen ist und wie man von dem Ereignis erfahren hat. Da ergeht es Historiker:innen nicht anders als anderen Zeit­ge­nossen: Zu meinen ersten Erin­ne­rungen gehören sche­men­hafte Bilder von den Fern­seh­nach­richten der geöff­neten Mauer, die ich als Sechs­jäh­riger am 9. oder 10. November 1989 gesehen habe. So ziem­lich jeder, der vor 1985 geboren wurde, hat seine persön­liche Geschichte zum 9. November.

Die offi­zi­elle Feier zur Verei­ni­gung von BRD und DDR am 3. Oktober 1990; Quelle: hdg.de

Mit dem 3. Oktober 1990 verhält es sich anders. An ihm bündelt sich kaum indi­vi­du­elle Erin­ne­rung, was mit der Entste­hung des „Tages der deut­schen Einheit“ zu tun hat: Das Datum für die Verei­ni­gung von DDR und BRD hatte sich 1990 aus prag­ma­ti­schen Gründen ergeben. Dass man es im Eini­gungs­ver­trag auch zum Natio­nal­fei­ertag erhob, ist vor allem als eine Entschei­dung gegen den 9. November zu verstehen, an dem sich die deut­sche Geschichte des 20. Jahr­hun­derts so beson­ders aufge­schichtet hat: die Ausru­fung der ersten deut­schen Demo­kratie am 9. November 1918; der Hitler-Putsch 1923, der sich dieses Datum zum Anlass nahm; der Juden­pro­grom 1938, der aus dem zentralen Gedenk­marsch für die 1923 „gefal­lenen Blut­zeugen“ der NS-Bewegung in Gang gesetzt wurde.

Dass der Fall der Mauer auch auf dieses Datum fiel, war eine Laune der Geschichte, mit der sich an diesem Tag die poli­ti­sche Ambi­va­lenz der Idee des „geeinten Volkes“ wie in einem Brenn­glas bündelte: Das geeinte „Volk“ und seinen „Willen“ hatte die Deut­sche Revo­lu­tion 1918 endgültig zum unhin­ter­geh­baren Bezugs­punkt poli­ti­scher Herr­schaft erhoben; an dieser Vorstel­lung schei­terte der klan­des­tine Putsch­ver­such von 1923, dessen „Marsch auf Berlin“ eben nicht zur Massen­be­we­gung „des Volkes“ anwuchs; mit ihr wurde 1938 der Pogrom als Ausdruck des „Volks­zornes“ gegen die vermeint­lich „artfremden“ Juden ausge­geben; 1989 bildete sie das zentrale Argu­ment, mit dem die Legi­ti­mität der DDR-Regierung in Frage gestellt und schließ­lich mit der Losung „Wir sind das Volk“ gestürzt werden konnte.

Von dieser histo­ri­schen Komple­xität wollte man den neuen Natio­nal­fei­ertag frei­halten: Bundes­kanzler Helmut Kohl, so hat es der dama­lige Kanz­ler­amts­chef Rudolf Seiters zum dies­jäh­rigen Jubi­läum der deut­schen Einheit noch einmal beschrieben, „war der Meinung, man sollte nicht einen Tag nehmen wie den 9. November, der ja belastet war auch von so vielen nega­tiven Ereig­nissen – der Putsch in München, dann die Reichs­kris­tall­nacht.“ Viel­mehr „wollten wir einen Tag haben, der noch eini­ger­maßen gutes Wetter verspricht und der auch ein ausschließ­li­cher Tag der Freude ist“ – auch wenn man dafür auf ein Datum zurück­greifen musste, dem kaum persön­liche Erin­ne­rungen anhaften.

Ein anderer 3. Oktober

Gedenk­tafel, die seit Oktober 2003 am Hünxer Flücht­lings­heim hängt; Quelle: spd-huenxe.de

Ich hingegen verbinde mit dem Datum des 3. Oktober ausge­spro­chen starke Erin­ne­rungen, wenn sie sich auch auf das Jahr 1991 beziehen und damit auf die histo­ri­sche Aufschich­tung, die die Begrün­dung des „Tags der deut­schen Einheit“ 1990 ihrer­seits in Gang setzte. Ihre Bilder sind nicht so verschwommen wie jene zum 9. November 1989, sondern klar und detail­reich. Ich erin­nere mich an eine Auto­fahrt am Nach­mittag, auf der ich mit meinem Bruder herum­al­berte, bis uns unsere Mutter scharf unter­brach, weil das Radio meldete, dass in Hünxe am Nieder­rhein in der Nacht das örtliche Asyl­be­wer­ber­heim ange­zündet und zwei kleine Mädchen schwer verletzt worden seien. In dem Dorf bin ich aufge­wachsen. Mit einem der verletzten Mädchen bin ich zur Schule gegangen. Ich erin­nere mich noch an die Straße, auf der wir unter­wegs waren, als wir die Radio­mel­dung hörten, und den erschro­ckenen Ton in der Stimme meiner Mutter. Ich erin­nere mich an meine Angst in den folgenden Tagen, weil mein Vater nach dem Anschlag nachts zu der Mahn­wache ging, die den schnell wieder ins „Asylan­ten­heim“ einquar­tierten Flücht­lingen ein Gefühl von Schutz und Sicher­heit geben sollten. Die Erin­ne­rungen haben mich umge­trieben: Als Jugend­li­cher habe ich 2001 mit Freunden aus dem Dorf eine Ausstel­lung erar­beitet, die wir zum 10. Jahrestag des Brand­an­schlags gezeigt haben, und für eine Gedenk­tafel gestritten, die heute an dem noch immer als Flücht­lings­heim genutzten Haus hängt. Im folgenden Jahr habe ich begonnen, Geschichte und Poli­tik­wis­sen­schaft zu studieren. Der Hünxer Brand­an­schlag ist ein Grund dafür, warum ich Histo­riker geworden bin.

Oktober 1991: Verall­täg­li­chung rassis­ti­scher Gewalt

Titel­seite der tages­zei­tung am 4. Oktober 1991; Quelle: privat

Gewalt gegen Flücht­linge und „Ausländer“ gab es am 3. Oktober 1991 nicht nur in Hünxe. Ähnli­ches ereig­nete sich auch an anderen Orten. „Tag der Einheit: Tag des Hasses“, titelte die taz am 4. Oktober 1991 ange­sichts der zahl­rei­chen Angriffe und Über­fälle und auch die Frank­furter Rund­schau sprach von der „Eska­la­tion der Gewalt zum Tag der Einheit“. In Mönchen­glad­bach etwa war unter den Augen von zahl­rei­chen Passanten ein „47-jähriger Türke“ von einem „Deut­schen“ mit acht Stichen nieder­ge­sto­chen und schwer verletzt worden. An anderen Orten war auf Flücht­lings­heime geschossen worden oder es hatten Menschen­mengen vor ihnen randa­liert. Viele dieser Angriffe waren ganz unmit­telbar aus den Einheits­feiern entstanden. So auch in Hünxe, wo sich junge Rechts­ra­di­kale auf ihrer Feier zum Tag der deut­schen Einheit mit Alkohol und Musik aufge­putscht hatten, bis die Idee im Raum stand, das symbo­li­sche Datum zu nutzen, um „Asylanten zu vertreiben“. Gegen 1 Uhr fuhren drei der Feiernden zum örtli­chen „Asylan­ten­heim“ und warfen Molo­tow­cock­tails auf das Gebäude.

„Hünxe“ ist also kein Einzel­fall, viel­mehr ein Beispiel – und dies nicht nur für das Geschehen am 3. Oktober 1991. Bis zum 15. September 1991 waren in diesem Jahr offi­ziell bereits 370 Anschläge gegen Flücht­linge gezählt worden, darunter 59 Brand­an­schläge. Gewalt gegen „Ausländer“ und „Asylanten“ hatte es auch bereits vor der Wieder­ver­ei­ni­gung gegeben. Am Ende der 1980er Jahre regis­trierte das Bundes­kri­mi­nalamt in seiner Krimi­nal­sta­tistik bereits durch­schnitt­lich 250 „frem­den­feind­liche Straf­taten“ jähr­lich. Doch im Herbst 1991 sprangen die Zahlen auf ein völlig neues Niveau: Allein im September 1991, in den die tage­langen und medial intensiv verfolgten Ausschrei­tungen im säch­si­schen Hoyers­werda fielen, waren es 314, im Oktober dann 961 frem­den­feind­liche Straf­taten. Am Ende des Jahres hatte sich die Zahl aus dem Vorjahr 1990 auf 2.427 Fälle im Jahre 1991 fast verzehn­facht. Die begon­nene Entwick­lung setzte sich fort: 1993 wies die Statistik 6.336 frem­den­feind­liche Straf­taten aus, 1994 dann 6.721. Erst danach sanken die Zahlen wieder, ohne dabei jemals auf das Niveau von 1990 zurück­zu­gehen. Rassis­ti­sche Gewalt war im Herbst 1991 alltäg­lich geworden.

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„Hünxe“ als Chiffre und Ereignis

Titel­seite der Bild-Zeitung am 4. Oktober 1991; Quelle: privat

In diesem Kontext der Gewalt fand „Hünxe“ beson­dere mediale Aufmerk­sam­keit: „Hünxe – Asylan­ten­kind (8) ange­zündet. Schande!“ titelte etwa die BILD am 4. Oktober 1991, die den Brand­an­schlag in den kommenden vier Tagen noch drei Mal auf die Titel­seite setzte. Nicht nur der Boule­vard, auch Quali­täts­zei­tungen, Radio und Fern­sehen berich­teten aus Hünxe und vom Prozess gegen die drei jugend­li­chen Täter, die rasch ermit­telt werden konnten. Im Januar 1993 strahlte die ARD eine noch immer sehr sehens­werte Doku­men­ta­tion über den Hünxer Brand­an­schlag und dessen Folgen aus. Mit den vielen Medi­en­be­richten wurde „Hünxe“ in den frühen 1990er Jahren zu einer Chiffre für „auslän­der­feind­liche Gewalt“, die bis heute aufge­rufen wird: „Hünxe, Solingen, Halle und jetzt Hanau“, eröff­nete der Hanauer Anzeiger im Früh­jahr dieses Jahres seinen Kommentar zum Terror­an­schlag in der hessi­schen Kleinstadt.

Hinter dieser Chiffre ist die Geschichte des Brand­an­schlages weit­ge­hend verschwunden. Dabei sind im Rück­blick die Gründe dafür, dass im Herbst 1991 gerade der Anschlag in Hünxe in den Mittel­punkt der Aufmerk­sam­keit rückte, aufschluss­reich. Mit Hünxe erhielten die Opfer der frem­den­feind­li­chen Gewalt in den frühen 1990er Jahren zum ersten Mal ein öffent­li­ches Gesicht: Einer der drei Molo­tow­cock­tails, die die Täter auf das Flücht­lings­heim geschleu­dert hatten, war im Kinder­zimmer einer liba­ne­si­schen Flücht­lings­fa­milie explo­diert und hatte dort vier Kinder im Schlaf über­rascht. Zwei Mädchen im Alter von acht und fünf Jahren erlitten schwerste Verbren­nungen. Vor allem das ältere Mädchen, dessen Haut zu 80 Prozent verbrannt war, kämpfte tage­lang um ihr Leben. Die Bilder des ausge­brannten Kinder­zim­mers und vor allem der schwer­ver­brannten Kinder brachten etwas Neues in die Bericht­erstat­tung über die rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre, in der bis dahin vor allem die Täter und ihre Beweg­gründe im Mittel­punkt gestanden hatten. Ihre Opfer waren bislang kaum zu Wort gekommen, fanden aber nun am Beispiel der jungen Mädchen große Aufmerk­sam­keit: Kinder und Erwach­sene aus ganz Deutsch­land schickten Briefe an die beiden Mädchen, in denen sie ihre Bestür­zung ausdrückten oder versuchten, Trost zu spenden. Und Journalist:innen fragten immer wieder und auch noch Jahre später danach, wie es den Opfern von Hünxe ergangen war. Sie ließen die Mädchen von ihren Erleb­nissen und den Auswir­kungen erzählen, die der Anschlag auf ihr Leben hatte. Die beiden Kinder gehörten damit zu den ersten migran­ti­schen Stimmen, die im öffent­li­chen Diskurs zur rechten Gewalt Gehör fanden.

Der Vater der beiden verletzten Mädchen in dem ausge­brannten Kinder­zimmer, Ausschnitt aus der Bild­zei­tung vom 6.10.1991; Quelle: privat

Zugleich fand „Hünxe“ aber auch deshalb so große mediale Aufmerk­sam­keit, weil sich der Brand­an­schlag als Argu­ment im poli­ti­schen Streit um die Ursa­chen der rechten Gewalt­welle am Beginn der 1990er Jahre gebrau­chen ließ. Ange­sichts zahl­rei­cher rechts­extremer Vorfälle in den „neuen Ländern“ war in der öffent­li­chen Diskus­sion schnell die These aufge­kommen, bei der rassis­ti­schen Gewalt handle es sich vornehm­lich um ein Erbe des real­exis­tie­renden Sozia­lismus. Statt als Problem des gegen­wär­tigen Verei­ni­gungs­pro­zesses wurde sie damit als Über­bleibsel einer gerade über­wun­denen Vergan­gen­heit begriffen, wenn auch diese Deutung hoch umstritten war. Ihren Kriti­kern lieferte Hünxe ein wich­tiges Beispiel dafür, dass die neue rassis­ti­sche Gewalt kaum der DDR in die Schuhe geschoben werden konnte. Die drei Täter, 18 und 19 Jahre alt, waren in dem Dorf aufge­wachsen. Ihre rechts­extreme Gesin­nung war allge­mein bekannt gewesen, aber weit­ge­hend igno­riert worden, wie Jour­na­listen nun recher­chierten. Zudem hatte der Hünxer Gemein­derat nur Tage vor dem Brand­an­schlag auf Initia­tive der CDU-Fraktion eine gemein­same Reso­lu­tion verab­schiedet, die sich gegen den Miss­brauch des Asyl­rechts rich­tete und von Bundes- und nordrhein-westfälischer Landes­re­gie­rung eine „konse­quente Abschie­be­praxis“ gegen­über „reinen Wirt­schafts­flücht­lingen“ forderte. Dahinter stand eine koor­di­nierte Kampagne der CDU, deren Gene­ral­se­kretär im September 1991 per Rund­schreiben alle Kommu­nal­po­li­tiker seiner Partei auffor­dert hatte, die „Asyl­po­litik zum Thema“ zu machen, um mit dem Unmut der Bevöl­ke­rung die SPD heraus­zu­for­dern. Die bereits viel debat­tierte Frage, ob nicht eigent­lich vor allem die bereits seit Sommer 1990 laufende „Asyl­de­batte“, die der Histo­riker Ulrich Herbert einmal als eine der „schärfsten, pole­mischsten und folgen­reichsten innen­po­li­ti­schen Ausein­an­der­set­zungen der deut­schen Nach­kriegs­ge­schichte“ bezeichnet hat, die rassis­ti­sche Gewalt hervor­brachte, gewann so mit Hünxe noch einmal an Brisanz – und damit auch die Frage, ob es nicht doch der Verei­ni­gungs­pro­zess selbst war, der die Welle der Gewalt gegen „Asylanten“ und „Ausländer“ am Beginn der 1990er Jahre antrieb.

Ein anderer „Tag der deut­schen Einheit“

Dieser komplexe Zusam­men­hang zwischen rechter Gewalt und der deut­schen Wieder­ver­ei­ni­gung ist noch lange nicht histo­risch aufge­ar­beitet. Aber im Rück­blick ist unüber­sehbar, dass die Frage nach der „Einheit der Deut­schen“ in den frühen 1990er Jahren nicht nur mit Blick auf „Ossis“ und „Wessis“ geklärt wurde. Das geeinte Deutsch­land wurde auch in der Abgren­zung „nach außen“ entworfen: Mit der Verschär­fung des Asyl­rechtes im Mai 1993, die am Ende der pole­mi­schen Debatte um Flücht­linge und „Ausländer“ stand und die Bundes­re­pu­blik gegen jene Migra­ti­ons­be­we­gungen abschot­tete, die die Mauer­öff­nung am 9. November 1989 ange­stoßen hatte oder die durch sie möglich geworden waren. Und mit der massiven Gewalt, die die Zuge­hö­rig­keit auch jener „Ausländer“ zum geeinten Deutsch­land bestritt, die bereits hier lebten. Auch in der Wieder­ver­ei­ni­gung zeigte sich der ambi­va­lente Charakter der Idee vom „geeinten Volk“, die in den 1990er Jahren weiterhin Demo­kra­ti­sie­rung und Parti­zi­pa­tion ebenso einschloss wie Ausgren­zung und Gewalt.

Es ist wichtig, dass dieser Zusam­men­hang seit einigen Jahren aus der Zivil­ge­sell­schaft heraus mehr Aufmerk­sam­keit findet: in dem neuen Buch Erin­nern stören, das migran­ti­schen und jüdi­schen Erin­ne­rungen an die Wende Raum gibt, oder in neuen Gedenk­ta­feln an rassis­ti­sche Anschläge und Über­griffe, deren Anzahl seit einiger Zeit deut­lich wächst. Offen ist hingegen die Frage, welchen Stel­len­wert diese Erfah­rungen und Ereig­nisse in der offi­zi­ellen Erin­ne­rungs­po­litik der Bundes­re­pu­blik einnehmen sollen. Wäre es nicht eine Idee, den „Tag der deut­schen Einheit“ im kommenden Jahr als dezen­trale Veran­stal­tung, als Feiertag und als Gedenktag, in Hünxe und den anderen Orten auszu­tragen, an denen sich Über­griffe und Anschläge vom 3. Oktober 1991 dann zum drei­ßigsten Mal jähren werden? Um dem Erschre­cken über aktu­elle rassis­ti­sche Anschläge, über Hanau und Halle etwa, mehr Geschichts­be­wusst­sein zu verleihen, braucht es keine „neuen Jahres­tage“. Nötig ist allein, die Aufmerk­sam­keit auf die komple­xere Geschichte der deut­schen Wieder­ver­ei­ni­gung zu lenken und auch den anderen, vor allem migran­ti­schen Erin­ne­rungen an Gewalt und Rassismus Raum zu geben, die sich auch mit ihr verknüpfen. Der 3. Oktober wäre so nicht mehr jener „ausschließ­liche Tag der Freude“ über das Zusam­men­gehen von Ost und West, den sich Helmut Kohl gewünscht hat. Aber er wäre ein Natio­nal­fei­ertag, an dem jene Gesell­schaft der Einheit in Viel­falt gefeiert würde, die dieses Land ausmacht.