Man stelle sich Folgendes vor: Person A versucht Person B unaufhörlich davon zu überzeugen, dass Person C nach ihrem Leben trachte – und dem ihrer Familienmitglieder obendrein. Dabei unterfüttert sie ihre Behauptung mit reichlich Informationen, die den Ernst der Lage zu bestätigen scheinen, stets den Eindruck erweckend, ihr sei sehr an dem Wohl des Bedrohten gelegen. Zudem macht sie glaubhaft, dass von anderen keine Hilfe zu erwarten sei, ja, dass diese mit dem Gefährder wohl sogar im Bunde stünden. Irgendwann ergreift Person B die Initiative und macht Person C mit einem tödlichen Angriff unschädlich, um sich und ihre Familie zu schützen.
In der Folge ist im Umfeld das Entsetzen groß, da Person C nichts begangen hat, das ihre Tötung rechtfertige. Die Tat erscheint vielen als besonders willkürlich. Auf der Suche nach den Gründen wird auch die Rolle von Person A zum Thema. Die streitet jedoch jede Mitschuld ab. Gewiss, sie habe den Delinquenten auf die Gefährlichkeit des Ermordeten hingewiesen. Doch ihn anzugreifen oder umzubringen, davon sei nie die Rede gewesen. Tatsächlich kann da juristisch wohl nicht mal von einer Anstiftung gesprochen werden. Und dennoch kommt man – im Wissen über die Hintergründe – kaum umhin, dem manipulativen Flüsterer eine Verantwortung für die Tat anzulasten.
Der Verdacht der Brandstiftung

Halle, 10/2019; Quelle: mdr.de
Ähnlich verhält es sich in der Debatte über den Anschlag von Hanau, in der die AfD jeden Zusammenhang zwischen ihrer Rhetorik und derlei Taten bestreitet. Bei ihrem Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland mag das noch als Ahnungslosigkeit durchgehen, hat er doch erklärtermaßen keine Beziehung zum Internet, was er nochmals mit seiner Antwort auf die Frage nach jenem Zusammenhang bestätigte: Er glaube nicht, „dass die Bundestagsdebatten in irgendeiner Weise etwas zu tun“ hätten mit dem Anschlag. Es darf bezweifelt werden, ob dieser Mann wirklich das Treiben seiner Partei bewerten kann, die ihre Propaganda ja vor allem digital verbreitet und die sozialen Medien exzessiv für manipulative Botschaften nutzt.
Ansonsten ist es wenig glaubwürdig, wenn AfD-Größen nun eine politische Instrumentalisierung von Hanau beklagen, was doch die „wahnhafte Tat eines Irren“ (Jörg Meuthen) gewesen sei. Allein schon, weil sie selbst noch jede Gewalttat auszuschlachten versuchten, wo das Täterprofil Anlass zum Hetzen bot. Man denke nur an den Vorfall am Frankfurter Hauptbahnhof, wo ein psychisch kranker Eritreer ein Kind auf die Gleise stieß. Die Tat wies keinerlei politische Bezüge auf; der Täter kam nicht mal mit der „Flüchtlingswelle“ nach Deutschland, die von der AfD skandalisiert wurde. Dennoch feuerte sie, wie so oft, unverzüglich aus allen Rohren, über jede Kritik an ihrer Pietätlosigkeit erhaben.
Darüberhinaus meinen tatsächlich viele, die AfD bereite mit ihrer Sprache den Boden für Anschläge wie in Hanau. Einer Kantar-Umfrage zufolge sind von dieser Mitschuld rund 60 Prozent der Bundesbürger überzeugt; nur 26 Prozent glauben nicht daran. Auch die Kommentare der politischen Akteure jenseits der AfD sind recht einhellig: Die AfD sei der geistige Brandstifter hinter solchen Verbrechen. Verwiesen wird dabei häufig darauf, dass die Partei den Menschen einrede, Migranten bedrohten ihre Existenz. Dass manche – wie Person B im obigen Beispiel – daraus schließen, diese müssten „unschädlich gemacht“ werden, funktioniere, so der Tenor, auch ohne explizite Aufrufe zur Gewalt.
Gefährliche Rede statt Hassrede
Für diesen vermuteten Wirkungszusammenhang von behaupteter Gefahr und impliziter Gewaltlegitimation gibt es in der Gewaltforschung einen Namen. Er nennt sich „gefährliche Rede“ und steht bisher im Schatten des Begriffs der „Hassrede“, der häufig angeführt wird, wenn es um rechte Rhetorik und Gewalt geht. Dabei ist die gefährliche Rede, auch wenn sie auf Gewaltrhetorik verzichtet, wohl entscheidender für rechten Terror als unverblümte Hetze. Wie die Sozialwissenschaftlerin Susan Benesch sagt, ist es gerade das Gerede von einer „tödlichen Bedrohung durch eine verhasste … Gruppe, das Gewalt nicht nur angemessen, sondern notwendig erscheinen lässt.“

Demonstration in Berlin, 2/2020; Quelle: tagesspiegel.de
Gefährliche Rede findet etwa dann statt, wenn einer Gruppe besondere Grausamkeit zugeschrieben wird. Wo ihr unterstellt wird, sie bedrohe Existenz der Adressierten, erscheint es diesen opportun, drastisch gegen sie vorzugehen. Es geht immerhin ums Überleben. Und Notwehr ist bekanntermaßen der einzige Grund, aus dem Tötungen unbestritten erlaubt sind: Wer anderen das Leben nehmen will, darf dieser Norm zufolge unschädlich gemacht werden. Für die Legitimation von Gewalt eignet sich daher kaum etwas besser als der „Spiegelungsvorwurf“: Die Dehumanisierung des Anderen rechtfertigt die Brutalisierung des Selbst. Explizite Gewaltaufrufe sind dafür nicht nötig.
Gewaltsame Politiken, die ja immer besonders rechtfertigungsbedürftig sind, gehen daher meist mit Mythen der Bedrohung einher. Bereits der Faschismus schöpfte aus solchen die Rechtfertigung für außerordentliche Maßnahmen. Der Faschismusforscher Roger Griffin bezeichnete diese Rationalität dereinst als „palingenetischen Ultranationalismus“: Angesichts des drohenden Untergangs müsse die Nation eine kompromisslose Kraftanstrengung vollziehen, um zu ihrer Wiedergeburt zu gelangen. Auch heute bläst die extreme Rechte wieder in das Horn des nationalen Untergangs, um drastische Maßnahmen zu rechtfertigen. Die AfD mittendrin – und ihr „Flügel“ vorneweg.
Von Volkstod und Messereinwanderung

Halle, 2/2020; Quelle: sueddeutsche.de
Mittlerweile kennt man sie in der Öffentlichkeit, die Erzählungen von „Volkstod“ und „Umvolkung“. Sie stammen aus der Mottenkiste der alten völkischen Bewegungen und wurden im Kontext der Flüchtlingskrise aufgefrischt. Nicht nur die Vertreter des „Flügels“ tragen zu ihrer Popularisierung bei, sondern auch vermeintlich moderate AfD-Kräfte, die vom „Bevölkerungsaustausch“ sprechen. So irreal diese Vorstellung auch sein mag – wo sie als „mainstreamed extremism“ wirkungsmächtig wird, ist sie in ihren Konsequenzen sehr real. Deutlich wird das am aktuellen Rechtsterrorismus. Ob Christchurch oder El Paso, ob Halle oder Hanau – die Täter eint die Vorstellung, dass ihre Gemeinschaft im Untergang begriffen sei.
Jedoch ist diese Bedrohung recht abstrakt, meint sie doch eigentlich den Verlust kultureller Identität – und nicht eine Gefahr für Leib und Leben. Sie wird daher mit Erzählungen verwoben, die eine konkrete Betroffenheit befürchten lassen. Indem die AfD etwa Gewaltereignisse mit migrantischer Beteiligung zu einem großen Bild der „Messereinwanderung“ zusammenfügt, entsteht der Eindruck, dass niemand mehr vor sogenannter Ausländergewalt sicher sei. Diese Erzählungen, in denen tragische Schicksale mit Identifikationspotential herausgestellt werden, sind besonders emotionalisierend. Gelesen als Vorboten des „Volkstods“, wird die abstrakte Bedrohung plötzlich fühlbar.
Aber auch diese Konstruktion kommt nicht ohne weitere Erzählungen aus. Vor allem Vorstellungen der Verschwörung haben eine argumentative Stützfunktion im narrativen Gerüst der AfD. Indem etwa Politikern und Medien unterstellt wird, die Bedrohung zu fördern oder zumindest zu verschweigen, wirkt die Gefahr umso größer, da die Menschen allein gelassen scheinen. Zugleich helfen solche Erzählungen bei der Herstellung von Glaubwürdigkeit. Denn sie implizieren, dass anderen Quellen als denen, die von der Bedrohung berichten, nicht zu trauen sei. Auf diese Weise entsteht ein selbstbezügliches Argumentationssystem, das gegenüber abweichenden Informationen immun ist.
Möchtegern-Helden gesucht

Demonstration nach dem rechten Terror in Hanau, 2/2020; Quelle: dw.com
Die Gefährlichkeit der AfD-Rhetorik ergibt sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Erzählungen. Wo die Partei Menschen glauben macht, sie seien existentiell bedroht – nicht nur in ihrer Identität, sondern auch physisch –, wird eine Situation der Notwehr konstruiert, die gewaltsame Handlungen erlaubt oder gar verlangt. Die Lösungsvorschläge mögen Gewalt nicht explizit einfordern, diese erscheint im narrativen Gefüge aber als zumindest logische Weitererzählung. Umso mehr gilt das, als Erzählungen der Verschwörung das Vertrauen in den Staat untergraben. Wo auf diesen scheinbar kein Verlass mehr ist, scheint die Zeit für Helden gekommen, die vorangehen, um die Gemeinschaft zu schützen und mit Verrätern aufzuräumen.
Gefährlich an diesen Erzählungen ist auch, dass sie frei im Internet zirkulieren, wo sie fortwährend reproduziert werden. Gerade die Rolle der sozialen Medien ist dabei bemerkenswert. Immerhin ist die Behauptung von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die anstelle eines friedlichen Deutschlands getreten seien, statistisch nicht haltbar. Mord und Totschlag etwa sind im Vergleich zu den 1980ern und frühen 1990ern deutlich gesunken. Indem die AfD aber die Netzwerke mit Nachrichten über Gewaltvorfälle flutet, erscheint vielen, gerade älteren Menschen die Welt aus den Fugen geraten. Denn im Vergleich zu früher, wo solche Taten nicht über die Lokalpresse hinauskamen, lässt ihre ungewohnte Sichtbarkeit den Eindruck entstehen, Gewaltverbrechen hätten explosionsartig zugenommen.

Gedenkwand an die Opfer von Hanau, 2/2020; Quelle: fr.de
Mit der Beschwörung gewaltsamer Zustände schafft die AfD überhaupt erst Zustände der Unsicherheit, regt sie doch die Gewaltfantasien derer an, die ihren Erzählungen Glauben schenken. Es mag richtig sein, dass Hass und Hetze im Netz schärfer angegangen werden müssen; und ebenso ist ein hartes Vorgehen der Behörden gegen den Rechtsterrorismus überfällig, wie es beim islamistischen Terrorismus üblich ist und auch bei der RAF einst an den Tag gelegt wurde. Um aber die Dynamik rechten Aufruhrs nachhaltig zu brechen, sind andere Maßnahmen erforderlich. Sie müssten die Räume für jene postfaktischen und verschwörungstheoretischen Informationen einhegen, auf denen die (wahnhaften) Opfermythen der AfD und rechter Gewaltakteure gründen.