Die Jahre 1904-1908 stehen emblematisch für ein koloniales Menschheitsverbrechen: für den Völkermord des Deutschen Reichs an den Herero (Ovaherero) und Nama (ǀAwa-khoen). Zugleich stehen sie aber für eine Verdrängungsleistung der ehemaligen Kolonialmacht, die heute geradezu obszön anmutet. Auch wenn der Völkermord seit den 1960er Jahren wissenschaftlich diskutiert und inzwischen auch politisch anerkannt wird, so fehlt es immer noch an überzeugenden Vorschlägen, wie die Bundesrepublik in angemessener Weise ihrer historischen Verantwortung gerecht werden kann. Der in den letzten zwei Jahrzehnten auf den Weg gebrachte Aussöhnungsprozess zwischen Regierungsvertreter:innen Namibias und Deutschlands sollte insofern Klarheit bringen. Die 2021 aus diesem Prozess hervorgegangene Joint Declaration, mit der die Bundesrepublik ihre Verantwortung offiziell eingestand und sich zu Wiedergutmachungsleistungen in Höhe von 1,1 Mrd. Euro verpflichtete, kann dieses Versprechen allerdings nicht einlösen. Ganz im Gegenteil, sie schreibt koloniale Denkmuster fort und trägt vor allem den Interessen der Herero und Nama, und damit den eigentlich Betroffenen, kaum Rechnung.
Aussöhnungskonflikte
Die Gründe hierfür sind vielfältig und zeigen, wie eng Deutschland und Namibia durch die Kolonialgeschichte miteinander verbunden sind. Nicht zu übersehen sind dabei auch innenpolitische Interessengegensätze, Kämpfe verschiedener namibischer Parteien und Gruppen um Einfluss auf die Verhandlungen und auch Streitigkeiten innerhalb der Minderheiten und Opferverbände. Hier mischt sich Realpolitik mit Geschichte. Als besonders gravierend stellte sich aber heraus, dass die Interessen von Herero und Nama während der Verhandlungen bestenfalls nachgeordnete oder symbolische Berücksichtigung fanden und dass sich deren Vertreter:innen nicht ausreichend repräsentiert sahen. Klar ist dabei, dass mit den diplomatisch geführten Aussöhnungsverhandlungen ein besonderes Arrangement gewählt wurde. Ausgangspunkt war nicht das menschenverachtende Kolonialregime, wie es spätestens seit der Berliner Konferenz von 1884/85 das Handeln des globalen Nordens gegenüber dem Süden – des Deutschen Kaiserreichs gegenüber Namibia – bestimmt hatte. Nicht die umfassende, auch rechtliche Völkermordverantwortung Deutschlands stand zur Debatte, mit all ihren lebensweltlichen Konsequenzen. Vielmehr ging es um die heutigen politischen Beziehungen zweier Staaten mit gemeinsamer kolonialer Geschichte. Doch wie konnte eine Vereinbarung wie die Joint Declaration überhaupt zustande kommen, bei der die Interessen zweier Regierungen, noch dazu des früheren Kolonialstaates, eine größere Rolle spielten als die kulturellen und rechtlichen Entwürdigungserfahrungen der bis heute Leidtragenden?
Eine Antwort auf diese Frage können wir uns nur erhoffen, wenn wir einen genaueren Blick auf das Recht und das postkoloniale Rechtsverständnis werfen, das den Prozess der Aussöhnung forciert und das Handeln der staatlichen Akteure maßgeblich angeleitet hat. Recht ist nicht per se neutral. Seine Formen, Praktiken und Zwecke sind Ausdruck zeitbedingter Gesellschafts- und Machtverhältnisse. Insofern ist es wandelbar und kontingent. Das gilt auch für das Völkerrecht, das im 20. Jahrhundert, bei allen Konflikten und bestehenden Problemen, seine Fähigkeit zur Transformation unter Beweis gestellt hat. Aber auch die wichtige postkoloniale Transformation des Völkerrechts kann dessen koloniale Vergangenheit und den Völkermord nicht ungeschehen machen. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner. Recht und Rechtswissenschaft sehen das bis heute anders. Zwar wird das Faktum des Völkermords kaum mehr bestritten. Bestritten wird allerdings ein unmittelbarer Einfluss auf die postkolonialen Geltungsbedingungen des Rechts. Die juristische Kategorie, die diese Differenz zwischen historischem Faktum und aktueller Geltung moderieren soll, wird als Intertemporalität bezeichnet.
Vergangenheitskonstruktionen
Intertemporalität ist ein rechtliches Entlastungs- und Willkürbegrenzungsversprechen. Denn es ist nicht zu bezweifeln, dass die rückwirkende Beurteilung historischer Sachverhalte etwas Anmaßendes und Willkürliches mit sich bringen kann. Geht es doch darum, frühere Gesetze, Rechtsverhältnisse oder ganze Rechtskulturen mit Einsichten zu konfrontieren, die zum Zeitpunkt ihrer Geltung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Leitend ist danach der Grundsatz, dass die Entstehung und Ausgestaltung völker-/rechtlicher Ordnungsmuster nach den Standards zu bewerten sind, die in der Epoche ihrer Inkraftsetzung anerkannt waren – in unserem Fall der koloniale Deutungshorizont des späten 19. Jahrhunderts, allerdings nicht jener der Kolonisierten. Dieser Ausschluss rückwirkender Rechtsanwendung markiert kein Verbot strictu sensu. Doch wird in der dominierenden Völkerrechtswissenschaft und -praxis davon ausgegangen, dass es für die Derogation – die teilweise Außerkraftsetzung – dieses Grundsatzes einer ausdrücklichen Rückwirkungsanordnung bedürfe, die für den Fall des deutschen Kolonialunrechts gerade nicht vorliege. Dieser Grundsatz wird nicht nur verteidigt, um die Autonomie, sondern auch um die Berechenbarkeit des Rechts sicherzustellen. Das intertemporale, also sich zwischen verschiedenen historischen Zeiten bewegende Völkerecht zwingt damit zu einem Präsentismus, d.h. „zu einer Extrapolation historischer Zustände auf die Gegenwart“ (Matthias Goldmann). Die Folgen sind gravierend, insofern für die angestrebte Autonomie und Berechenbarkeit des Rechts eine Reihe von Gerechtigkeitsfriktionen in Kauf genommen werden, denken wir nur an die so mögliche Verweigerung postkolonialer Teilhabe oder an den Ausschluss angemessener Reparationsleistungen.
Spitzen wir den Gedanken zu: Sollte der Grundsatz auch dann strikt durchgesetzt werden – und die Bundesregierung besteht bis heute darauf –, wenn das Völker-/Recht die erwähnte Autonomie, Berechenbarkeit und Humanität gar nicht angestrebt, wenn es sich zu seinen eigenen anerkannten Prinzipien in eklatanten Widerspruch gesetzt hat? Vielleicht muss ein post- und dekolonialer Umgang mit Grundsätzen wie der Intertemporalität bedenken, dass es keineswegs um ein juristisches Entweder-oder von Ausschluss und Anwendung, von Ablehnung und Affirmation gehen darf. Der Grundsatz der Intertemporalität wirkt als Rationalisierungs- und Entlastungsversprechen eben nur dann, wenn er auch die in das postkoloniale Selbstverständnis der Staaten und Gesellschaften eingegangenen Gewalterfahrungen und damit die Einsichten aus einer konkreten Inhumanitätsgeschichte zur Geltung bringt. Die Regel, die der Grundsatz ausbuchstabiert, ist letztlich nur so überzeugend, wie sie auch die Ausnahmen anerkennt, die durch die Widersprüchlichkeit des Rechts entstehen.
Der koloniale Rechtsstaat und die Folgen
Aber selbst wenn man, wie die deutsche Bundesregierung, auf der strikten Intertemporalität des Völkerrechts beharrt, bleibt der Umstand, dass das Kaiserreich als Kolonialstaat ein Rechtstaat sein wollte (wenn auch ein Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts). Die Formulierung mag irritieren, ja Widerspruch hervorrufen. Nur sollten wir sehen, dass die gängige Deutung des Rechtsstaates ihrerseits widersprüchlich war und ist, dass etwa die uneingelösten Versprechen – gleiche Rechte, Gleichheit vor dem Gesetz, politische Teilhabe – durch eine juristisch-liberale Rechtsstaatskonstruktion überdeckt und unsichtbar gemacht werden konnten. Das betraf bereits die binnengesellschaftliche Ordnung des Kaiserreichs, mit ihrer Marginalisierung von Geschlechtern, Klassen und diversen Wertvorstellungen. Es betraf allerdings in noch weit größerem Maße die koloniale Expansion mit Hilfe des Rechts.
Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der koloniale Rechtsstaat war ein scheinheiliger Doppelstaat, für die einen ein zivilisatorisches Projekt, für die anderen, die Kolonisierten, ein real gewordener Albtraum. Und ein perfider Einsatz von Herrschaft war es auch, dass dieser Rechtsstaat ein Kolonialrecht schuf, das Individuen, Gruppen oder Ethnien kannte, die nicht einmal annährend als Gleiche respektiert waren, die – wenn es darauf ankam – als exkludiert gelten sollten. Ein Othering par excellence.
Betrachtet man diese tiefe Ambivalenz des Rechts, so wird deutlich, was das postkoloniale Selbstverständnis Deutschlands alles ausspart. Ausgespart bleibt auf der einen Seite eine durch das Recht mitverursachte Verletzlichkeit, die sich bis heute in das Leben und den Status der Betroffenen einschreibt. Ausgespart bleibt auf der anderen Seite eine Völkermordverantwortung, die – als moralische, politische und rechtliche – das Leiden wirklich sagbar machen könnte. In diesem Sinne wird nicht nur ein offener Diskurs über die Krise des Kolonialregimes wie auch über das damalige Wissen und die zeitbedingten Möglichkeiten von Politik und Recht verhindert. Installiert wird zudem ein Narrativ, das die Gewaltgeschichte des Völker-/Rechts, die Ideologien und die Folgen der kolonialen Dehumanisierung gegen die Leidensgeschichte der Opfer und ihrer Nachkommen auszuspielen droht. Albert Memmi, der tunesische Theoretiker des Rassismus, sah deshalb in dieser Entwicklung vor allem eines: „die Exilierung der Einheimischen aus ihrer eigenen Geschichte“.
Selbstermächtigung oder Heimisch-werden in der eigenen Geschichte
Gibt es eine Möglichkeit, diese Exilierung wieder aufzuheben und für eine umfassende, auch rechtliche Völkermordverantwortung einzutreten? Es ist nicht ohne Ironie, dass es die Seite der Herero und Nama ist, die einen Ausweg aus dem postkolonialen Dilemma sucht, wie die Anfang 2023 eingereichte Klage des namibischen Juristen Patrick Kauta zeigt. Diese Klage ist zwar an den namibischen High Court gerichtet und unterscheidet sich daher auch von früheren Klagen gegen die Bundesrepublik auf Wiedergutmachung und finanzielle Entschädigung vor US-Gerichten. Doch können wir sehen, dass die Klage eine andere Stoßrichtung verfolgt, die wir mit Hannah Arendt als Selbstermächtigung beschreiben können. Insbesondere macht Kauta im Namen des namibischen Oppositionspolitikers Bernadus Swartbooi, der Ovaherero Traditional Authority (OTA) und elf Vertretungen der Nama zwei zentrale Punkte geltend: Erstens, die Verletzung demokratischer Mitspracherechte und, zweitens, die Begrenzung der Vereinbarung auf die gängige Praxis der Entwicklungshilfe.
Was nur ein innenpolitischer Streit um historische und politische Anerkennung und Minderheitenrechte zu sein scheint, birgt erheblichen völkerrechtlichen Konfliktstoff. Und klar ist auch warum: Kauta adressiert mit seiner Intervention das postkoloniale Selbstverständnis beider Staaten. Denn nach Artikel 63 (2) (i) der namibischen Verfassung hat die Nationalversammlung die Pflicht, kolonialen Mustern und Hinterlassenschaften entgegenzuwirken und die Betroffenen dabei zu unterstützen und nach Artikel 40 (l) trifft diese verfassungsrechtliche Verpflichtung auch die Mitglieder des Kabinetts. Kauta und die weiteren Klägerinnen und Kläger sind der Auffassung, dass die geschlossene Vereinbarung gegen diese Verpflichtung verstößt: So etwa, wenn in Paragraph 10 die Sprachregelung von einem Völkermord aus heutiger Sicht getroffen wurde, oder § 20 festlege, dass mit der Vereinbarung sämtliche finanzielle Ansprüche aus der Kolonialvergangenheit erledigt seien. Die Klage bricht insofern mit der hegemonialen Geschichtspolitik des intertemporalen Völkerrechts, denn sie widerspricht dessen einseitigen Vergangenheitskonstruktionen. Mehr noch, sie konfrontiert Politik und Recht der Gegenwart mit ihren nicht offen eingestandenen Aporien und Interessen. Vor allem aber ist sie ein Akt der Selbstermächtigung und eine Form, wieder heimisch zu werden in der eigenen Geschichte.
Patrick Kauta, Bernadus Swartbooi, aber auch Aktivist:innen wie Esther Muinjangue, suchen Wege dekolonialer Selbstbestimmung. Sie provozieren mit ihren Forderungen und artikulieren ihre eigenen Interessen. Als Nachgeborene und in die Geschichte Verstrickte sollten wir sie zur Kenntnis nehmen, denn sie sind Ausdruck von erlittenen Verletzungen, von andauernden Demütigungen und eines tief empfundenen Zwiespalts gegenüber der westlichen Moderne, wie Felwine Saar in Afrotopia schreibt. Umso wichtiger erscheint es, ihre Ablehnung gegenüber Verhaltensweisen zu verstehen, die sie wieder in den Status von Marginalisierten und Subalternen zurückdrängen wollen. Spätestens hier wird unverkennbar, dass es an der Zeit ist, dieses Wissen und die damit verknüpften Erwartungen im Recht zu verarbeiten, etwa, indem rechtliche Garantien auf angemessene Wiedergutmachung, indem unparteiliche Konfliktschlichtungen oder neue Foren dekolonialen Erinnerns geschaffen werden. Sichtbar wird dann, dass wir von einem mehrpoligen, die betroffenen Gesellschaften und die Opferverbände einbeziehenden Rechtsverhältnis auszugehen haben, ein Rechtsverhältnis, das bei allen Differenzen und verbleibenden Problemen emanzipatorische Ressourcen besitzt.
Eine darauf abzielende Völkermordverantwortung ist keine Gabe, schon gar nicht der ehemaligen Kolonialmacht, sie ist ein Anspruch, dem sich ein Rechtsstaat kaum verschließen kann.