Die deutsche Regierung hat die Kolonialverbrechen in Namibia als Genozid anerkannt, dennoch ist der Versöhnungsprozess gescheitert. Das lag daran, dass zwei Regierungen miteinander verhandelten, ohne die Vertretungen der Nachkommen zu beteiligen. Und es hat mit einem umstrittenen Rechtsverständnis zu tun.

  • Benno Zabel

    Benno Zabel lehrt Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist zweiter Vorsitzender in der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie. Zuletzt erschienen: Erinnerungspolitik und Menschenrechte, Merkur Nr. 887 (2023), S. 18-31.

Die Jahre 1904-1908 stehen emble­ma­tisch für ein kolo­niales Mensch­heits­ver­bre­chen: für den Völker­mord des Deut­schen Reichs an den Herero (Ovaherero) und Nama (ǀAwa-khoen). Zugleich stehen sie aber für eine Verdrän­gungs­leis­tung der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht, die heute gera­dezu obszön anmutet. Auch wenn der Völker­mord seit den 1960er Jahren wissen­schaft­lich disku­tiert und inzwi­schen auch poli­tisch aner­kannt wird, so fehlt es immer noch an über­zeu­genden Vorschlägen, wie die Bundes­re­pu­blik in ange­mes­sener Weise ihrer histo­ri­schen Verant­wor­tung gerecht werden kann. Der in den letzten zwei Jahr­zehnten auf den Weg gebrachte Aussöh­nungs­pro­zess zwischen Regierungsvertreter:innen Nami­bias und Deutsch­lands sollte inso­fern Klar­heit bringen. Die 2021 aus diesem Prozess hervor­ge­gan­gene Joint Decla­ra­tion, mit der die Bundes­re­pu­blik ihre Verant­wor­tung offi­ziell einge­stand und sich zu Wieder­gut­ma­chungs­leis­tungen in Höhe von 1,1 Mrd. Euro verpflich­tete, kann dieses Verspre­chen aller­dings nicht einlösen. Ganz im Gegen­teil, sie schreibt kolo­niale Denk­muster fort und trägt vor allem den Inter­essen der Herero und Nama, und damit den eigent­lich Betrof­fenen, kaum Rechnung.

Aussöh­nungs­kon­flikte

Die Gründe hierfür sind viel­fältig und zeigen, wie eng Deutsch­land und Namibia durch die Kolo­ni­al­ge­schichte mitein­ander verbunden sind. Nicht zu über­sehen sind dabei auch innen­po­li­ti­sche Inter­es­sen­ge­gen­sätze, Kämpfe verschie­dener nami­bi­scher Parteien und Gruppen um Einfluss auf die Verhand­lungen und auch Strei­tig­keiten inner­halb der Minder­heiten und Opfer­ver­bände. Hier mischt sich Real­po­litik mit Geschichte. Als beson­ders gravie­rend stellte sich aber heraus, dass die Inter­essen von Herero und Nama während der Verhand­lungen besten­falls nach­ge­ord­nete oder symbo­li­sche Berück­sich­ti­gung fanden und dass sich deren Vertreter:innen nicht ausrei­chend reprä­sen­tiert sahen. Klar ist dabei, dass mit den diplo­ma­tisch geführten Aussöh­nungs­ver­hand­lungen ein beson­deres Arran­ge­ment gewählt wurde. Ausgangs­punkt war nicht das menschen­ver­ach­tende Kolo­ni­al­re­gime, wie es spätes­tens seit der Berliner Konfe­renz von 1884/85 das Handeln des globalen Nordens gegen­über dem Süden – des Deut­schen Kaiser­reichs gegen­über Namibia – bestimmt hatte. Nicht die umfas­sende, auch recht­liche Völker­mord­ver­ant­wor­tung Deutsch­lands stand zur Debatte, mit all ihren lebens­welt­li­chen Konse­quenzen. Viel­mehr ging es um die heutigen poli­ti­schen Bezie­hungen zweier Staaten mit gemein­samer kolo­nialer Geschichte. Doch wie konnte eine Verein­ba­rung wie die Joint Decla­ra­tion über­haupt zustande kommen, bei der die Inter­essen zweier Regie­rungen, noch dazu des früheren Kolo­ni­al­staates, eine größere Rolle spielten als die kultu­rellen und recht­li­chen Entwür­di­gungs­er­fah­rungen der bis heute Leidtragenden?

Eine Antwort auf diese Frage können wir uns nur erhoffen, wenn wir einen genaueren Blick auf das Recht und das post­ko­lo­niale Rechts­ver­ständnis werfen, das den Prozess der Aussöh­nung forciert und das Handeln der staat­li­chen Akteure maßgeb­lich ange­leitet hat. Recht ist nicht per se neutral. Seine Formen, Prak­tiken und Zwecke sind Ausdruck zeit­be­dingter Gesellschafts- und Macht­ver­hält­nisse. Inso­fern ist es wandelbar und kontin­gent. Das gilt auch für das Völker­recht, das im 20. Jahr­hun­dert, bei allen Konflikten und bestehenden Problemen, seine Fähig­keit zur Trans­for­ma­tion unter Beweis gestellt hat. Aber auch die wich­tige post­ko­lo­niale Trans­for­ma­tion des Völker­rechts kann dessen kolo­niale Vergan­gen­heit und den Völker­mord nicht unge­schehen machen. „Das Vergan­gene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faul­kner. Recht und Rechts­wis­sen­schaft sehen das bis heute anders. Zwar wird das Faktum des Völker­mords kaum mehr bestritten. Bestritten wird aller­dings ein unmit­tel­barer Einfluss auf die post­ko­lo­nialen Geltungsbedin­gungen des Rechts. Die juris­ti­sche Kate­gorie, die diese Diffe­renz zwischen histo­ri­schem Faktum und aktu­eller Geltung mode­rieren soll, wird als Inter­tem­po­ra­lität bezeichnet.

Vergan­gen­heits­kon­struk­tionen

Inter­tem­po­ra­lität ist ein recht­li­ches Entlastungs- und Will­kür­be­gren­zungs­ver­spre­chen. Denn es ist nicht zu bezwei­feln, dass die rück­wir­kende Beur­tei­lung histo­ri­scher Sach­ver­halte etwas Anma­ßendes und Will­kür­li­ches mit sich bringen kann. Geht es doch darum, frühere Gesetze, Rechts­ver­hält­nisse oder ganze Rechts­kul­turen mit Einsichten zu konfron­tieren, die zum Zeit­punkt ihrer Geltung keine oder nur eine unter­ge­ord­nete Rolle spielten. Leitend ist danach der Grund­satz, dass die Entste­hung und Ausge­stal­tung völker-/rechtlicher Ordnungs­muster nach den Stan­dards zu bewerten sind, die in der Epoche ihrer Inkraft­set­zung aner­kannt waren – in unserem Fall der kolo­niale Deutungs­ho­ri­zont des späten 19. Jahr­hun­derts, aller­dings nicht jener der Kolo­ni­sierten. Dieser Ausschluss rück­wir­kender Rechts­an­wen­dung markiert kein Verbot strictu sensu. Doch wird in der domi­nie­renden Völker­rechts­wis­sen­schaft und -praxis davon ausge­gangen, dass es für die Dero­ga­tion – die teil­weise Außer­kraft­set­zung – dieses Grund­satzes einer ausdrück­li­chen Rück­wir­kungs­an­ord­nung bedürfe, die für den Fall des deut­schen Kolo­ni­al­un­rechts gerade nicht vorliege. Dieser Grund­satz wird nicht nur vertei­digt, um die Auto­nomie, sondern auch um die Bere­chen­bar­keit des Rechts sicher­zu­stellen. Das inter­tem­po­rale, also sich zwischen verschie­denen histo­ri­schen Zeiten bewe­gende Völke­recht zwingt damit zu einem Präsen­tismus, d.h. „zu einer Extra­po­la­tion histo­ri­scher Zustände auf die Gegen­wart“ (Matthias Gold­mann). Die Folgen sind gravie­rend, inso­fern für die ange­strebte Auto­nomie und Bere­chen­bar­keit des Rechts eine Reihe von Gerech­tig­keits­frik­tionen in Kauf genommen werden, denken wir nur an die so mögliche Verwei­ge­rung post­ko­lo­nialer Teil­habe oder an den Ausschluss ange­mes­sener Reparationsleistungen.

Spitzen wir den Gedanken zu: Sollte der Grund­satz auch dann strikt durch­ge­setzt werden – und die Bundes­re­gie­rung besteht bis heute darauf –, wenn das Völker-/Recht die erwähnte Auto­nomie, Bere­chen­bar­keit und Huma­nität gar nicht ange­strebt, wenn es sich zu seinen eigenen aner­kannten Prin­zi­pien in ekla­tanten Wider­spruch gesetzt hat? Viel­leicht muss ein post- und deko­lo­nialer Umgang mit Grund­sätzen wie der Inter­tem­po­ra­lität bedenken, dass es keines­wegs um ein juris­ti­sches Entweder-oder von Ausschluss und Anwen­dung, von Ableh­nung und Affir­ma­tion gehen darf. Der Grund­satz der Inter­tem­po­ra­lität wirkt als Rationalisierungs- und Entlas­tungs­ver­spre­chen eben nur dann, wenn er auch die in das post­ko­lo­niale Selbst­ver­ständnis der Staaten und Gesell­schaften einge­gan­genen Gewalt­er­fah­rungen und damit die Einsichten aus einer konkreten Inhu­ma­ni­täts­ge­schichte zur Geltung bringt. Die Regel, die der Grund­satz ausbuch­sta­biert, ist letzt­lich nur so über­zeu­gend, wie sie auch die Ausnahmen aner­kennt, die durch die Wider­sprüch­lich­keit des Rechts entstehen.

Der kolo­niale Rechts­staat und die Folgen

Aber selbst wenn man, wie die deut­sche Bundes­re­gie­rung, auf der strikten Inter­tem­po­ra­lität des Völker­rechts beharrt, bleibt der Umstand, dass das Kaiser­reich als Kolo­ni­al­staat ein Recht­staat sein wollte (wenn auch ein Rechts­staat des 19. Jahr­hun­derts). Die Formu­lie­rung mag irri­tieren, ja Wider­spruch hervor­rufen. Nur sollten wir sehen, dass die gängige Deutung des Rechts­staates ihrer­seits wider­sprüch­lich war und ist, dass etwa die unein­ge­lösten Verspre­chen – gleiche Rechte, Gleich­heit vor dem Gesetz, poli­ti­sche Teil­habe – durch eine juristisch-liberale Rechts­staats­kon­struk­tion über­deckt und unsichtbar gemacht werden konnten. Das betraf bereits die binnen­ge­sell­schaft­liche Ordnung des Kaiser­reichs, mit ihrer Margi­na­li­sie­rung von Geschlech­tern, Klassen und diversen Wert­vor­stel­lungen. Es betraf aller­dings in noch weit größerem Maße die kolo­niale Expan­sion mit Hilfe des Rechts.

Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der kolo­niale Rechts­staat war ein schein­hei­liger Doppel­staat, für die einen ein zivi­li­sa­to­ri­sches Projekt, für die anderen, die Kolo­ni­sierten, ein real gewor­dener Albtraum. Und ein perfider Einsatz von Herr­schaft war es auch, dass dieser Rechts­staat ein Kolo­ni­al­recht schuf, das Indi­vi­duen, Gruppen oder Ethnien kannte, die nicht einmal annäh­rend als Gleiche respek­tiert waren, die – wenn es darauf ankam – als exklu­diert gelten sollten. Ein Othe­ring par excellence.

Betrachtet man diese tiefe Ambi­va­lenz des Rechts, so wird deut­lich, was das post­ko­lo­niale Selbst­ver­ständnis Deutsch­lands alles ausspart. Ausge­spart bleibt auf der einen Seite eine durch das Recht mitver­ur­sachte Verletz­lich­keit, die sich bis heute in das Leben und den Status der Betrof­fenen einschreibt. Ausge­spart bleibt auf der anderen Seite eine Völker­mord­ver­ant­wor­tung, die – als mora­li­sche, poli­ti­sche und recht­liche – das Leiden wirk­lich sagbar machen könnte. In diesem Sinne wird nicht nur ein offener Diskurs über die Krise des Kolo­ni­al­re­gimes wie auch über das dama­lige Wissen und die zeit­be­dingten Möglich­keiten von Politik und Recht verhin­dert. Instal­liert wird zudem ein Narrativ, das die Gewalt­ge­schichte des Völker-/Rechts, die Ideo­lo­gien und die Folgen der kolo­nialen Dehu­ma­ni­sie­rung gegen die Leidens­ge­schichte der Opfer und ihrer Nach­kommen auszu­spielen droht. Albert Memmi, der tune­si­sche Theo­re­tiker des Rassismus, sah deshalb in dieser Entwick­lung vor allem eines: „die Exilie­rung der Einhei­mi­schen aus ihrer eigenen Geschichte“.

Selbst­er­mäch­ti­gung oder Heimisch-werden in der eigenen Geschichte

Gibt es eine Möglich­keit, diese Exilie­rung wieder aufzu­heben und für eine umfas­sende, auch recht­liche Völker­mord­ver­ant­wor­tung einzu­treten? Es ist nicht ohne Ironie, dass es die Seite der Herero und Nama ist, die einen Ausweg aus dem post­ko­lo­nialen Dilemma sucht, wie die Anfang 2023 einge­reichte Klage des nami­bi­schen Juristen Patrick Kauta zeigt. Diese Klage ist zwar an den nami­bi­schen High Court gerichtet und unter­scheidet sich daher auch von früheren Klagen gegen die Bundes­re­pu­blik auf Wieder­gut­ma­chung und finan­zi­elle Entschä­di­gung vor US-Gerichten. Doch können wir sehen, dass die Klage eine andere Stoß­rich­tung verfolgt, die wir mit Hannah Arendt als Selbst­er­mäch­ti­gung beschreiben können. Insbe­son­dere macht Kauta im Namen des nami­bi­schen Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­kers Bernadus Swart­booi, der Ovaherero Tradi­tional Autho­rity (OTA) und elf Vertre­tungen der Nama zwei zentrale Punkte geltend: Erstens, die Verlet­zung demo­kra­ti­scher Mitspra­che­rechte und, zwei­tens, die Begren­zung der Verein­ba­rung auf die gängige Praxis der Entwicklungshilfe.

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Was nur ein innen­po­li­ti­scher Streit um histo­ri­sche und poli­ti­sche Aner­ken­nung und Minder­hei­ten­rechte zu sein scheint, birgt erheb­li­chen völker­recht­li­chen Konflikt­stoff. Und klar ist auch warum: Kauta adres­siert mit seiner Inter­ven­tion das post­ko­lo­niale Selbst­ver­ständnis beider Staaten. Denn nach Artikel 63 (2) (i) der nami­bi­schen Verfas­sung hat die Natio­nal­ver­samm­lung die Pflicht, kolo­nialen Mustern und Hinter­las­sen­schaften entge­gen­zu­wirken und die Betrof­fenen dabei zu unter­stützen und nach Artikel 40 (l) trifft diese verfas­sungs­recht­liche Verpflich­tung auch die Mitglieder des Kabi­netts. Kauta und die weiteren Kläge­rinnen und Kläger sind der Auffas­sung, dass die geschlos­sene Verein­ba­rung gegen diese Verpflich­tung verstößt: So etwa, wenn in Para­graph 10 die Sprach­re­ge­lung von einem Völker­mord aus heutiger Sicht getroffen wurde, oder § 20 fest­lege, dass mit der Verein­ba­rung sämt­liche finan­zi­elle Ansprüche aus der Kolo­ni­al­ver­gan­gen­heit erle­digt seien. Die Klage bricht inso­fern mit der hege­mo­nialen Geschichts­po­litik des inter­tem­po­ralen Völker­rechts, denn sie wider­spricht dessen einsei­tigen Vergan­gen­heits­kon­struk­tionen. Mehr noch, sie konfron­tiert Politik und Recht der Gegen­wart mit ihren nicht offen einge­stan­denen Aporien und Inter­essen. Vor allem aber ist sie ein Akt der Selbst­er­mäch­ti­gung und eine Form, wieder heimisch zu werden in der eigenen Geschichte.

Patrick Kauta, Bernadus Swart­booi, aber auch Aktivist:innen wie Esther Muin­jangue, suchen Wege deko­lo­nialer Selbst­be­stim­mung. Sie provo­zieren mit ihren Forde­rungen und arti­ku­lieren ihre eigenen Inter­essen. Als Nach­ge­bo­rene und in die Geschichte Verstrickte sollten wir sie zur Kenntnis nehmen, denn sie sind Ausdruck von erlit­tenen Verlet­zungen, von andau­ernden Demü­ti­gungen und eines tief empfun­denen Zwie­spalts gegen­über der west­li­chen Moderne, wie Felwine Saar in Afro­topia schreibt. Umso wich­tiger erscheint es, ihre Ableh­nung gegen­über Verhal­tens­weisen zu verstehen, die sie wieder in den Status von Margi­na­li­sierten und Subal­ternen zurück­drängen wollen. Spätes­tens hier wird unver­kennbar, dass es an der Zeit ist, dieses Wissen und die damit verknüpften Erwar­tungen im Recht zu verar­beiten, etwa, indem recht­liche Garan­tien auf ange­mes­sene Wieder­gut­ma­chung, indem unpar­tei­liche Konflikt­schlich­tungen oder neue Foren deko­lo­nialen Erin­nerns geschaffen werden. Sichtbar wird dann, dass wir von einem mehr­po­ligen, die betrof­fenen Gesell­schaften und die Opfer­ver­bände einbe­zie­henden Rechts­ver­hältnis auszu­gehen haben, ein Rechts­ver­hältnis, das bei allen Diffe­renzen und verblei­benden Problemen eman­zi­pa­to­ri­sche Ressourcen besitzt.

Eine darauf abzie­lende Völker­mord­ver­ant­wor­tung ist keine Gabe, schon gar nicht der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht, sie ist ein Anspruch, dem sich ein Rechts­staat kaum verschließen kann.