Am Morgen des 18. Dezember 2018 lag eine Tasche vor dem Nationalen Sekretariat für Geschlechterforschung in Göteborg, Schweden. Obwohl sich das dynamitförmige Objekt im Inneren als Attrappe erwies, war die Botschaft unmissverständlich. Sogar die schwedische Vizekanzlerin Eva Wiberg kommentierte den Vorfall und merkte an, dass einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund ihrer Forschungsinhalte besonders häufig Gewalt ausgesetzt seien: „Ohne in diesem besonderen Fall spekulieren zu wollen, wissen doch alle, dass die Geschlechterforschung heutzutage sehr deutlich von dieser Bedrohung betroffen ist.“
Warum schockiert dieser besondere Vorfall also so? Vielleicht, weil in der internationalen Presse nicht groß über ihn berichtet wurde. Und das obwohl er auf die umstrittene Schließung der Gender Equality Agency (Jämställdhetsmyndigheten) folgte. Diese Behörde war dem Rechtsruck im schwedischen Parlament zum Opfer gefallen, bei dem die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna) 2018 zur drittstärksten Kraft geworden waren. Vielleicht schockiert der Vorfall aber auch, weil er das Gewaltpotenzial deutlich macht, das aus den zunehmend koordinierten Angriffen auf die Geschlechterforschung hervorgehen kann, wenn, wie es gerade geschieht, sowohl konservative als auch populistische Parteien das Thema für ihre eigenen Interessen ausschlachten. Dies führt nämlich gerade nicht zu offenen Debatten und zum Austausch von Argumenten, sondern nährt, wie sich weltweit sehen lässt, extremistische Einstellungen, destabilisiert die liberale Demokratie und stellt – mit den kritisch Forschenden – die Praxis kritischer Forschung überhaupt in Frage.
Angriffe auf NGOs und Akademiker*innen

Bettina Rheims, Valentin P. III, 2011; Quelle: flickr.com
Es ist schwer vorstellbar, dass die wissenschaftliche Untersuchung geschlechtsspezifischer Ungleichheit (gender inequality) im Erwerbsleben, der Politik, im privaten und im öffentlichen Leben solche Reaktionen hervorrufen kann. Zwar erleben wir in Nordamerika und Westeuropa einen politischen Rückschritt nach dem anderen in Bezug auf die Möglichkeit von Abtreibungen, auf LGBTQI-Rechte und den Umgang mit NGOs, die Frauenhilfsgruppen unterstützen, sehen und die Schließung ganzer Programme zur Frauen- und Geschlechterforschung. Trotzdem glauben wir immer noch, diese Vorgänge seien den populistischen und autoritären Strategien in bedrängten Demokratien vorbehalten und geschuldet. Wenn man an die Angriffe auf die Gender Studies denkt, denkt man vor allem an die katastrophale Situation der Wissenschaftler in Polen und Ungarn oder, in der Ferne, an Bolsonaros Brasilien. Für die Wissenschaftlerinnen, die weltweit unter Beschuss stehen, wird dies derweil immer mehr zum „business as usual“.
Wie die Soziologen Roman Kuhar und David Paternotte in Anti-Gender Campaigns in Europe festgestellt haben, hat die Anti-Gender-Bewegung sich längst über die Grenzen zunehmend autoritärer werdender Länder hinaus ausgebreitet. Deren zunehmend organisierte Angriffe auf die „Gender-Ideologie“ und „Gender-Theorie“ stehen stellvertretend für die Ablehnung von Ehegleichheit, reproduktiver Selbstbestimmung, sexuellem Liberalismus und der Anti-Diskriminierungspolitik. Das ist Teil einer neo-traditionalistischen Wende, und es ist daher ein globales Problem geworden, wie wir der Frage der sexuellen Rechte und der geschlechtsspezifischen „Identität“ im 21. Jahrhundert begegnen wollen.
Im Alltag zeigt sich diese Entwicklung am extremsten in der steilen Zunahme von hate crimes gegen sexuelle Minderheiten (bis hin zu brutalen Säureangriffen), aber auch in den unzähligen Zeugnissen der #metoo-Bewegung. Weltweit ist diese Auseinandersetzung auch in die Politik der traditionell konservativen Parteien eingesickert, die mit den Rechtspopulisten auf Tuchfühlung gehen, um Wählerstimmen zu gewinnen. Selbst die so sehr gehypte „Offenheit“ und „Gleichheit“ der sozialen Medien ist nicht immun gegen die moralisch aufgeladene Panik, die Facebook, Tumblr und Instagram dazu veranlasste, die Online-Räume für „sex positivity„ und einvernehmlichen erotischen Austausch im Namen von „Community-Standards„ unverhältnismäßig einzuschränken.
Feminismus von links – und von rechts
Seit ihren Anfängen als Frauenforschung in den 1970er Jahren sind die Gender-Studies Angriffen von Innen und Außen ausgesetzt. Obwohl die Gleichstellung der Geschlechter und der sexuellen Orientierungen ein Produkt der sozialen Bewegung der „Neuen Linken“ und der Suche nach radikal demokratischen Lösungen für die anhaltenden sozialen Spaltungen war, mussten sie sogar unter Progressiven hart erkämpft werden. Unterschiedliche Positionen unter den AktivistInnen zwangen FeministInnen, Schwule und Lesben, sich nach ihren eigenen Interessen zu organisieren. Ihr Beitrag zum Geist von 1968 wird, wie die Historikerin Christina von Hodenberg in ihrem 2018 erschienenen Buch Das andere Achtundsechzig gezeigt hat, in zeitgenössischen und historischen Darstellungen oft kleingeredet. Dennoch konnte auch die Frauenforschung bei dem Marsch durch die Institutionen Terrain gewinnen: An Universitäten wie der Technischen Universität Berlin führten Forscherinnen wie Karin Hausen dringend benötigte Studien zur Geschichte von Frauen, zu sexueller Gewalt, Belästigung, Arbeitsungleichheit, Staatsbürgerschaft, Wirtschaftskrieg und Militarisierung durch. Auch wenn diese frühe Forschung, wie die Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung Chandra Mohanty herausgearbeitet hat, ihre blinden Flecken hatte, so überstand sie doch alle möglichen Stürme, wenn sie Universitäten, Regierungen und Unternehmen dafür verantwortlich machte, die Rechte von Minderheiten in Bezug auf Zugang, Repräsentation und Gleichbehandlung nicht einzuhalten.
1968 trug zweifellos dazu bei, neue Formen von Agitation und Lobbyarbeit hervorzubringen, die zur Schaffung von Departementen für Frauen- und Geschlechterforschung an den Universitäten des globalen Nordens führten. Gleichzeitig aber war „68“ auch eine Referenz für die „Neue Rechte“, aus deren Perspektive die Debatten um Geschlechterpolitik ebenfalls grundlegend für ihre Bewegung erschienen. Einer der Begründer der Nouvelle Droite, der französischen Philosoph und Akademiker Alain de Benoist zog rückblickend auf 1968 das Fazit, dass sich hinter jenen stürmischen Monaten und ihrem emphatischen Liberalismus, Feminismus, Modernismus, Individualismus, Marxismus und Globalismus „das schiere Ausmaß einer Krise verbarg, die eine radikale Erneuerungen der Denk-, Entscheidungs- und Handlungsweisen verlangte“. In seinem Manifest der französischen Rechten aus dem Jahre 2000 argumentierte er, dass Feministinnen, die Geschlecht („Gender“) als soziale Konstruktion propagierten, in die Falle gegangen seien, Gleichberechtigung tout court zu fordern – womit sie am Ende gerade das männliche Subjekt als universales wiedereingesetzt hätten. Im Gegensatz dazu stehe die Neue Rechte für einen „differentialistischen“ Feminismus ein, der dem biologischen Unterschied der Geschlechter im öffentlichen Diskurs einen Platz garantiere, indem er spezifische Frauenrechte, wie etwa das Recht auf Jungfräulichkeit, Mutterschaft und – zumindest bei Alain de Benoist – Abtreibung vertrete. Anstatt eine Gleichberechtigung zu fordern, die im Patriarchat ende, erkenne dieser differentialistische Feminismus „die Gleichwertigkeit von unterschiedlichen und einzigartigen Naturen“ an.
Der konservative backlash

Bettina Rheims: Andy B., Paris, 2011; Quelle: art-corpus.blogspot.com
Es fällt nicht schwer, den Wiederhall dieses Arguments in den äusserst populären Schriften des Kanadiers Jordan Peterson zu erkennen, dessen 12 Rules for Life weltweit auf den Bestsellerlisten landete. Peterson und Gleichgesinnte sehen im akademischen Feminismus einen Frontalangriff gegen das ausgewogene Denken, einen zersetzenden „Kulturmarxismus“, dem Einhalt geboten werden müsse. Während de Benoists „Feminismus“ die eher radikalen Wähler der bekennenden Rechten anspricht, erlaubt das Prestige der Universität Toronto Petersons kontroversem Denken, bei den traditionell Konservativen Fuss zu fassen. Dieses Bündnis wurde zuletzt durch Petersons quasi-beratendene Funktion in der rechtsgerichteten Regierung der kanadischen Provinz Ontario bestätigt, die den seit 2015 progressiven Aufklärungsunterricht in der Schule auf den Stand von 1998 revidiert hat.
Die Austeritätspolitik in Folge der Rezession Mitte der 2000er Jahre verstärkten zwar den Druck auf die Gender Studies, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, doch der neue Krieg gegen sie geht auf Diskussionen zurück, die sich bereits Mitte der 1990er Jahre auf der internationalen Bühne abgespielt hatten und die Sprache der Menschenrechte um Fragen der Ungleichbehandlung der Geschlechter und der sexuellen Orientierungen ergänzten. Obwohl der Angriff auf die Gender Studies in Ungarn heute das wohl eklatanteste Beispiel ist, werden Wissenschaftler in Südostasien, in Australien, Europa, Nord- und Südamerika schon seit Jahren dazu gedrängt, die in der Forschung längst etablierte Einsicht zu verteidigen, dass biologisches und soziales Geschlecht wie auch die Sexualität je nach Zeit, Ort und historischer Situation variieren.
Die neuen Anti-Gender-Kampagnen wirken grenzüberschreitend. Sie vereinen Katholiken und Evangelikale, Säkulare und Fromme. Sie stellen die Integrität der Universitäten in Frage und unterstützen gleichzeitig die Politik von Regierungen, die reproduktive Rechte einschränken und ein bestimmtes Bild von Familie propagieren. Obwohl die Kampagnen die Gestalt einer populären Bewegung annehmen, werden sie von populistischen Politikern inszeniert und unterstützt. Eine lange Tradition hat in dieser Hinsicht die Rolle des Vatikans; beim Weltjugendtag 2016 erklärte Papst Franziskus, dass Gender-Theorie eine Form von „ideologischer Kolonisierung“ sei. Obwohl solche Vorwürfe hauptsächlich von rechtsgerichteten Parteien kommen, hatte selbst der ehemalige linke Präsident Ecuadors, Rafael Correa, 2013 die Behauptung aufgestellt, dass FeministInnen, LGBTQI-AktivistInnen und andere „gender warriors“ aktiv gegen traditionelle Werte mobilisieren würden.
Die Kampagnen blieben nicht gewaltlos. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Gender Studies erhielten Hassnachrichten, wurden gestalkt und bedroht. Im November 2017 wurde die prominente queere Theoretikerin Judith Butler in Brasilien von einem Mob angegriffen, der sich über die sozialen Medien mobilisiert hatte, um gegen ihren Besuch – „eine Bedrohung der natürlichen Ordnung von Geschlecht, Sexualität und Familie“, wie es hiess – zu protestieren. Anti-Butler-Demonstranten ging in Sao Paulo sogar auf die Straße. Sie verbrannten Bilder von ihr – eine Geste, die die Geschichte der Inquisition, die Jagd auf Hexen, Juden, Ketzer und Sodomiten aus dem Gedächtnis ruft. Gruppen der extremen Rechten verfolgten Butler und ihre Partnerin Wendy Brown bis zum Flughafen, wo sie weiter gezielt beschimpft wurden. Butlers Gegner wiederholten die altbekannte Anklage, dass Linke, Juden und Sodomiten sich verschworen hätten, die traditionellen Werte zu bedrohen.
Der neue Kulturkampf
Der neue Krieg gegen die Gender Studies richtet sich nicht nur gegen Universitäten und Forschungseinrichtungen in noch jungen Demokratien. Er ist viel allgemeiner und globaler. Er ist Teil eines neuen Kulturkampfs, der auf alle Bereiche zielt, in denen die kritische Forschung im Bereich Gender und Sexualität die Sichtbarkeit von verwundbaren Gruppen der Bevölkerung verbessert und zu wichtigen rechtlichen Schutzmaßnahmen und Errungenschaften geführt hat. Der neue Kulturkampf ist flexibel genug, um sowohl die Gebildeten als auch die Abgehängten und Prekarisierten anzusprechen. Er vereinigt den Populisten mit dem konservativen Rechten. Sein zur Natur verklärter Blick auf Geschlechterunterschiede beruhigt den Traditionalisten und spricht gleichzeitig diejenigen an, die einfach finden, dass einzelne Bereiche der akademischen Forschung und Expertise „zu weit gegangen“ seien. Und schließlich ist es auch ein Effekt dieses Kulturkampfes, dass die Anti-Gender-Bewegungen selbst unter Frauen und „Queeren“ Anhänger finden, welche „differentielle“ Formen des „empowerment“, das auch „natürliche“ Unterschiede respektiert, durchaus attraktiv finden. Denn im Zeitalter der Identitätspolitik hat die Vorstellung, Biologie sei Schicksal, wieder eine große Anziehungskraft.
Der neue Kulturkampf ist eine neo-traditionalistische Reaktion auf den sexuellen Liberalismus in all seinen Formen. Am deutlichsten erkennt man das an der Mobilmachung gegen den Aufklärungsunterricht und gegen Unisex-Toiletten sowie an den Drohungen gegen LehrerInnen und WissenschaftlerInnen in „anderen Teilen der Welt“. Aber die Bewegung ist nicht minder schändlich und aktiv darin, auf den Mainstream bei uns zu zielen. In jüngster Zeit konnte man das an der Heuchelei beobachten, mit der Social Media-Konzerne behaupteten, dass Algorithmen nicht in der Lage seien, zwischen „sex positivity“ und Pornografie zu unterscheiden. Genau in dem Moment, als feministische, sex-positive und LGBTQI-Positionen sichtbarer wurden und ihre Vertreterinnen das digitale Feld zu einem Raum des Aktivismus, der Kunst und Konversation, des Kommerz und des Begehren gestaltet hatten, ist auch der zuverlässig egalitäre Jargon der sozialen Medien einer Angstmache und moralisierenden Panik zum Opfer gefallen.
Wir glauben, zu unserem eigenen Schaden, dass dies alles allein zu autoritären Regierungen in noch jungen Demokratien gehört. Dabei konnte schon lange gezeigt werden, dass Macht auch in liberalen Demokratien und im Spätkapitalismus eine Gender-Dimension hat – und es zeigt sich heute wieder in neuer Aktualität und Virulenz. Dass Unstimmigkeiten darüber, wie Menschenrechte und die Repräsentation aller am besten sichergestellt werden können, so schnell in die Androhung und Ausübung von Gewalt umschlagen, sollte uns allen eine Lehre sein: Eine Lehre über die Brüchigkeit unserer Demokratien und über die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen, ihren und seinen Grundsätze in Reden und Schriften, im Parlament und bei Wahlen Ausdruck zu verleihen.
Die Pessimistin in mir sieht dunkle Zeiten bevorstehen. Die Historikerin in mir weiß, dass „backlash“ und Opposition die Widerstandsfähigkeit wachsen lassen. Bleibt zu hoffen, dass die Historikerin Recht behält.
Dieses wichtige Thema erfüllt mich mit Sorge! Im Zusammenhang mit der Debatte um Sinn und Unsinn von Identitätspolitik heißt es ja, das Gendern wäre kontraproduktiv, da es Solidarität für gemeinsame Ziele untergrabe und den Egoismus fördere. Hinzu kommt, dass es außerhalb von „akademischen Zirkeln“ kaum auf Verständnis in der „normalen“ Bevölkerung stößt, denn diese, so heißt es, interessiere sich mehr für existentiellere Probleme und fühle sich bei wesentlichen Anliegen nicht mehr repräsentiert. Man kann inzwischen erleben, dass sich über diese Themen nur noch lustig gemacht wird und niemand auf die Idee kommt sich intensiver mit dem Thema zu befassen. So… Mehr anzeigen »