Jetzt auch der Papst. Anlässlich der Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten hat Papst Franziskus in einem Interview vor einem weiteren Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa gewarnt und dabei Parallelen zum Beginn des Nationalsozialismus gezogen. „Deutschland 1933“ sei das „typischste Beispiel für den Populismus im europäischen Sinne“: „Ein zerstörtes Deutschland ist auf der Suche danach, wieder aufzustehen, sucht nach seiner Identität, sucht nach einem Anführer, jemand der ihm Identität offenbaren kann, und da gibt es dieses Kerlchen namens Adolf Hitler, der sagt ‚Ich kann, ich kann‘. Und ganz Deutschland stimmt für Hitler. Hitler hat sich nicht die Macht genommen, er wurde von seinem Volk gewählt und danach hat er sein Volk zerstört.“ Diese „Gefahr“ bestände fort, so Papst Franziskus: „In Momenten der Krise funktioniert das Urteilsvermögen nicht mehr“ – darin sei „der Fall von Deutschland 1933 typisch: ein Volk, das in einer Krise war, das seine Identität gesucht hat, und es erschien dieser charismatische Anführer, der versprach, ihm eine Identität zu geben, und er gab ihm eine verzerrte Identität, und nun wissen wir, was passiert ist.“
Der Blick zurück hat wieder Konjunktur. So unsicher die Zeitläufte, so naheliegend der Versuch, in der Vergangenheit Anhaltspunkte für ein sicheres Urteil zu finden. Aber der Versuch, die Gegenwart in der Vergangenheit zu verstehen, ist tückisch. All zu leicht gerät er zur Projektion, etwa, wenn wie in der Stellungnahme des Papstes die politischen Intrigen und die massive terroristische Gewalt aus dem Blick geraten, auf denen die „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus 1933 maßgeblich gründete, oder wenn nicht nur der Papst völlig irrig davon ausgeht, Hitler sei in sein Amt gewählt worden. Wenn Geschichte helfen soll, aktuelle Probleme besser einzuschätzen, bedarf es eines genaueren Blicks: Statt nach Analogien im Großmaßstab Ausschau zu halten, ist es aufschlussreicher, nach Quellen und Texten zu suchen, in denen sich historische Erfahrungen auffinden lassen, die Orientierung bieten für aktuelle Urteile.
Ein früher Beobachter der NS-„Bewegung“

Konrad Heiden (1901-1966); Quelle: Wikipedia.org
Wer dies für den Beginn des Nationalsozialismus tun möchte, dem seien die Schriften von Konrad Heiden empfohlen, der zurzeit erfreulicherweise von einem breiteren Publikum wiederentdeckt wird. Heiden gehörte bereits in den Jahren vor 1933 zu den ersten Gegnern des Nationalsozialismus. 1901 geboren, begann er am Beginn der 1920er Jahre ein Studium in München, dem damals größten Biotop völkischer und reaktionärer Kreise in der jungen Weimarer Republik, dem auch die NSDAP erwuchs. Heiden engagierte sich hier zunächst im „Republikanischen Studentenbund“ – zu einer Zeit, als Universitäten alles andere als „links“, vielmehr Hort nationalistischer und autoritärer Kräfte waren. Nach dem Studium setzte er sein demokratisches Engagement als Journalist vor allem mit Artikeln über die nationalsozialistische Bewegung fort, deren Entwicklung er seit seiner Ankunft in München aufmerksam beobachtet hatte.
Konrad Heiden wurde schnell zu einem der besten Kenner und Kritiker des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, der nicht nur mit seinen Zeitungsbeiträgen, sondern auch mit ausführlicheren Schriften über die aus ihm erwachsenden Gefahren aufzuklären versuchte. Verschiedene seiner Texte sind in jüngster Zeit wiederaufgelegt worden: sein Bericht über die antisemitische Gewalt des Novemberpogroms 1938, oder seine zweibändige Hitlerbiografie, die bereits 1936 und 1937 erschien und insbesondere im englischsprachigen Ausland große Verbreitung fand; zudem liegt jetzt auch eine Biografie von Stefan Aust zu dem Leben Konrad Heidens vor.
Heiden, der zunächst nach Zürich, später ins Saarland, nach Frankreich und schließlich 1940 in die USA flüchtete, betonte in seinen Analysen unter anderem die Uneinheitlichkeit der nationalsozialistischen Ideologie, d.h. dass die „Nazi Party“ seit ihren Anfängen „each and every form of political theory“ freudig begrüßt habe. „Every kind of political theory, from the most reactionary monarchism to pure anarchy, from unrestricted individualism to the most impersonal and rigid Socialism, finds representation within the Nazi Party.” Dies betonten auch andere politische Beobachter und Gegner des Nationalsozialismus, um die NSDAP ihrer Ideenlosigkeit zu überführen. Doch Heiden wendete diese Beobachtung auf die Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung: Ihnen sei es so möglich, an die Illusion zu glauben, “that the Party’s only aim is to realize his own pet theory [ihre eigene Lieblingstheorie]”. Eben deshalb war die nationalsozialistische Bewegung in Heidens Augen fähig, „Zugang zu breiten Bevölkerungsmassen“ zu finden, die „sich früher vom politischen Leben fern hielten“. Denn bei ihr handle es sich um “a vast army of individualists on the march”, von denen jeder einzelne glaube, „that the army is moving towards his own objective.”
Eine Bewegung von Individualisten
Heidens Bemerkungen passen kaum zu dem Bild, das wir uns gewöhnlich von den Anhängern und Mitgliedern der nationalsozialistischen Bewegung machen, das Bild von den enthusiastischen, vom „charismatischen Führer“ verführten Anhängern, die von der propagandistischen Inszenierung Hitlers und seinen politischen Ansichten gefangen genommen wurden, oder den brutalen Schlägern der SA und SS, denen es um das Ausleben von Gewalt statt um politische Konzepte ging. Doch wer sich den Lebensläufen der Deutschen in den 1920er bis 1940er Jahren zuwendet, trifft schnell auf Figuren, wie sie Heiden beschrieb. Friedrich Lodemann zum Beispiel, 1894 in einem Dorf bei Celle als Bauernsohn geboren, war im Ersten Weltkrieg Marinesoldat, danach Ingenieur, zunächst in Berlin, seit 1925 dann in Essen. 1931 trat er in die NSDAP ein; nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war er, wie wir aus seiner Autobiografie wissen, als Blockwart und Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront im Essener AEG-Werk tätig.

Friedrich Lodemann mit seinen Söhnen, Frühjahr 1941; Quelle: badische-Zeitung.de
Den Ausgangspunkt hatte sein Weg zum Nationalsozialismus in der am Ende der 1920er Jahre gewachsenen Überzeugung, „es sei für jeden Deutschen eine Pflicht, nicht nur nach einer Lösung Ausschau zu halten, sondern einen Ausweg auch aktiv herbeiführen zu helfen“. Es waren vor allem die wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik, die Lodemann zwar bewegten, ihn vorerst aber nicht dazu brachten, in eine Partei einzutreten oder sich in anderer Form mit anderen hierüber zu verständigen. Er begann vielmehr, sich in seiner Freizeit „in ökonomische Angelegenheiten hineinzuknien“, wie er schreibt: „Armes Deutschland, dachte ich, beschloss aber, mich nun etwas genauer um die Währungs-Angelegenheit zu kümmern“. Nächtelange grübelte der gelernte Ingenieur, wie die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands bewältigt werden könnten, und verfasste hierzu verschiedene Texte, 1931 schließlich eine siebzig Schreibmaschinenseiten lange „Denkschrift über die Arbeitslosigkeit und ihre Beseitigung“. Seine wirtschaftspolitischen Erörterungen brachten ihn in Kontakt mit NSDAP-Mitgliedern und Funktionären, die seine Ausführungen lobten und ihn in der Annahme bestärkten, die NSDAP dächte in wirtschaftlichen Fragen genau wie er.
Deshalb trat er in die Partei ein: Nicht, weil er ihre Programmatik teilte, sondern weil sie in seinen Augen seine eigenen Überzeugungen unterstützte. Entsprechend hörte er auch nach 1933 nicht damit auf, eigene Überlegungen anzustellen und die NS-Führung für ihre wirtschaftlichen und währungspolitischen Maßnahmen zu kritisieren, was sich an zahlreichen Eingaben zeigt, die Lodemann nach Berlin sandte. Überhaupt begleiteten Eingaben mit Anregungen, Vorschlägen, Beschwerden und Kritik gegen übergeordneten Stellen seine gesamte Tätigkeit als Betriebsobmann und Blockleiter. Immer und immer wieder versuchte Friedrich Lodemann, sich mit seinen Gedanken einzumischen – in der tiefen Überzeugung, es käme bei dem „Ausweg“ für das „deutsche Volk“ auf seinen persönlichen Beitrag an.
Neben das Beispiel von Friedrich Lodemann ließen sich zahlreiche andere stellen. Die historische Forschung hat Schilderungen wie jene von Friedrich Lodemann lange nur als nachträgliche Schutzbehauptungen interpretiert. Seit einigen Jahren jedoch ist die NS-Forschung dabei zu zeigen, dass die gesellschaftliche Unterstützung, die der Nationalsozialismus in den 1930er Jahren und während des Kriegs fand, gerade darauf gründete, dass hinter den vielfältigen Aktivitäten für das NS-Regime ein breites Feld an politischen Überzeugungen und Interessen stand. Nicht die Stiftung einer einheitlichen, kollektiven Identität hielt den Nationalsozialismus zusammen. Sein stetes Gerede von der zu schaffenden Gemeinschaft der „Volksgenossen“, der nationalen „Volksgemeinschaft“, in der alle „wirklichen Deutschen“ versammelt werden sollten, war deswegen wichtig, weil es einen Aktionsraum für Bestrebungen ganz unterschiedlicher Art öffnete und sich dadurch zahlreiche Zeitgenossen aufgefordert sahen, selbst zur Lösung politischer Probleme beizutragen.
Aktivismus ohne Einflussmöglichkeiten
Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: Viele Deutsche beschäftigten sich während der nationalsozialistischen Diktatur weitaus intensiver mit politischen Fragen als in der Weimarer Demokratie, im festen Glauben, es komme bei der „Errettung Deutschlands“ auf ihren persönlichen Einsatz an. Und das NS-Regime förderte nach der Einsetzung Hitlers als Reichskanzler diese Überzeugung mit seinen stetigen Appellen, „jeder Einzelne müsse mitmachen“ bei der notwendigen gesellschaftlichen Erneuerung, und mit zahlreichen Maßnahmen, die die Deutschen zur konkreten Unterstützung seiner Politik verpflichteten.

Marsch von NS-Anhängern, wahrscheinlich in Darmstadt, September 1931; Quelle: uni-marburg.de
Die historische Erfahrung der NS-Bewegung am Beginn der 1930er Jahre scheint weniger darin zu bestehen, dass sie zeigen würde, wie in Zeiten der Verunsicherung „Rattenfänger“ vom gestörten Urteilsvermögen der Menschen profitieren. Sie verweist eher darauf, dass in Krisenzeiten Menschen damit beginnen, sich selbst für politisch verantwortlich und relevant zu halten – und damit auf die Gefahren, die aus einem solchen individualistischen Aktivismus erwachsen. Denn die vielfache Illusion über die Ziele des Nationalsozialismus war nur möglich, weil zunächst innerhalb der NS-Bewegung und dann während der Diktatur jegliche Mechanismen zur Bildung gemeinsam geteilter Meinungen oder zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen fehlten: Die „Gleichschaltung“ der Presse, die autoritären Entscheidungsstrukturen des „Führerstaates“, die polizeiliche Kontrolle der Öffentlichkeit – all dies war nicht nur nötig, um die Macht des NS-Regimes gegen ihre Gegner abzusichern. Vielmehr konnte sich die nationalsozialistische Diktatur formale Strukturen zur kollektiven Meinungsbildung auch mit Blick auf die eigene Anhängerschaft nicht leisten: Der „Marsch der Individualisten“ konnte nur so lange im Takt bleiben, wie sich der Nationalsozialismus nicht festlegte, sondern sich stetig als Versprechen für die Zukunft generierte und auf diese Weise Raum für unterschiedliche Projektionen ließ. Er bot damit den Zeitgenossen anhaltend Möglichkeiten zu eigenem politischem Engagement, schloss sie aber von der Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung aus. Weil sie keinen inhaltlichen Konsens finden mussten – sondern nur, wie Konrad Heiden sehr richtig betonte, „a single categorical demand“: „unconditional submission to Hitlers personal leadership“, erfüllen mussten –, konnten die Individualisten der NSDAP den Glauben bewahren, es ginge der Partei um ihr eigenes politisches Projekt.
Lehren für die Gegenwart
Für die Gegenwart hält diese Erfahrung mindestens zwei Lehren bereit. Erstens, mit Blick auf die heutigen rechtspopulistischen Bewegungen: Ihnen sollte man es schwer machen, im Tritt zu bleiben, indem man der Öffentlichkeit immer wieder vor Augen führt, wie unterschiedlich die Ansichten ihrer Mitglieder jenseits der neuen „unconditional submission“ (Ablehnung der EU, der „Fremden“, der „Eliten“) in Wirklichkeit sind. Zweitens: Das Gefühl, jetzt selbst in der Verantwortung zu stehen und, etwas tun zu müssen, lässt sich derzeit aber ebenso im antipopulistischen Engagement beobachten. Ihm gegenüber mahnt die historische Erfahrung des „Marsches der Individualisten“ der 1930er Jahre, dass demokratisches und wirkungsvolles Engagement nicht dort beginnt, wo sich einzelne mit viel Herzblut kopfüber in die politische Auseinandersetzung stürzen, sondern wo sie sich mit anderen über die Differenzen in ihren Ansichten auseinandersetzen und gemeinsame Positionen zu entwickeln suchen. Die derzeit immer wieder geäußerten Hoffnungen auf einen „guten“ Populismus, der den rechtspopulistischen Marsch in die richtige Richtung umlenken könnte, gehen fehl. Um was es gehen muss, ist die Verteidigung derjenigen demokratischen Verfahren der Bündelung individueller Meinungen zu politischen Positionen, der Repräsentation und des politischen Meinungsstreites, die sicherstellen, dass Politik nicht (mehr) durch individualistischem Aktivismus, sondern durch das Bemühen um den Ausgleich zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen bestimmt wird.