Der Sommer ist fast vorbei, und mit ihm unser Sommerprogramm. Sie hätten jetzt also ein Jahr lang Zeit, um Robert Musils monumentales Hauptwerk zu lesen. Tun Sie es – abgesehen vom Lesevergnügen werden Sie auch die postmoderne Gegenwart besser verstehen.

Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Der Mann ohne Eigen­schaften. Robert Musils Klas­siker entschlüs­selt die Moderne
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Der Schau­platz von Robert Musils Haupt­werk mit seinem merk­wür­digen Titel, das zu den wich­tigsten Romanen des 20. Jahr­hun­derts zählt, ist das Wien des Jahres 1913: die Haupt­stadt von „Kaka­nien“, wie Musil die österreichisch-ungarische, kaiser­lich und könig­liche Doppel­mon­ar­chie nannte, abge­leitet von ihrem amtli­chen Kürzel k.u.k oder k.k. Der Roman beginnt „an einem schönen Augusttag“, also just ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Welt­krieges. Geschrieben in den 1920er Jahren, erschien dieses lite­ra­ri­sche Monu­ment einer Epoche, die uns vorder­gründig so fremd zu sein scheint, dann 1930 und 1932 in zwei Bänden beim Rowohlt-Verlag. In der heute noch aktu­ellen Ausgabe sind diese beiden zu Lebzeiten Musils publi­zierten Teile zu einem rund tausend­sei­tigen Band zusam­men­ge­fasst, ergänzt um einen ebenso umfang­rei­chen weiteren Band mit Text­stü­cken aus dem Nach­lass. An ihnen hat der Autor bis zu seinem Tod im Genfer Exil 1942 gear­beitet, ohne dass seine Erzäh­lung an ein Ende gelangt wäre.

Vorder­gründig, wie gesagt, sind Kaka­nien und sein in bizarren büro­kra­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ritualen erstarrtes Macht­zen­trum Wien längst im Welt­krieg unter­ge­gangen und uns fern. Inso­fern ist es gewis­ser­maßen eine Kulisse aus dem 19. Jahr­hun­dert, vor der Musil die Wider­sprüche und Span­nungen, das Zeit­ge­fühl und die Exis­tenz­be­din­gungen von Menschen unter­sucht, die aus der noch verblie­benen Beschau­lich­keit einer irgendwie „alten Zeit“ in die Moderne des 20. Jahr­hun­derts geschleu­dert wurden. Diese Moderne, das eigent­liche Thema des Romans und der Blick­punkt, von dem aus Musil schrieb, zeigte sich schon in diesem Jahr 1913 in unzäh­ligen Brechungen eines immer grel­leren Lichts.

Es gibt daher auf den tausend Seiten nur eine einzige Stelle, an der der Welt­krieg kurz erwähnt und ein Blick in die 1920 Jahre geworfen wird. Der Erzähler tut es, beinahe ärger­lich, einer seiner Haupt­fi­guren, dem elitären, preu­ßi­schen und jüdi­schen „Finanz­mann“ Dr. Arnheim gegen­über, der sich im Stolz auf seine geschäft­li­chen, gesell­schaft­li­chen und intel­lek­tu­ellen Erfolge nicht vorstellen kann, dass die Welt sich jemals grund­le­gend ändern werde – und zwar in Rich­tung einer modernen Massen­kultur, die den mora­li­schen Betu­lich­keiten des 19. Jahr­hun­derts den Staub in die Augen bläst: „[W]enn Arnheim“, so Musil in der Rolle des Autors, der das Heft in der Hand behält, „um einige Jahre voraus­zu­bli­cken vermocht hätte, so würde er schon gesehen haben, dass neun­zehn­hun­dert­zwanzig Jahre christ­li­cher Moral, Millionen Tote eines erschüt­ternden Krieges und ein deut­scher Wald von Poesien, der über dem weib­li­chen Scham­ge­fühl gerauscht hatte, es auch nicht um eine Stunde zu verzö­gern vermochten, als eines Tages die Frau­en­röcke und -haare kürzer zu werden begannen und die Mädchen Europas aus tausend­jäh­rigen Verboten sich für eine Weile nackt heraus­schälten wie die Bananen“. Die Anspie­lung auf die umju­belte US-amerikanische Tänzerin Jose­phine Baker und ihr sehr kurzes, die Nackt­heit noch beto­nendes Bana­nen­röck­chen ist unüber­hörbar. In Kaka­nien wäre ihr Auftritt undenkbar gewesen.

Kaka­nien

Im Zentrum des Romans steht Ulrich, ein junger, sport­li­cher, umfas­send gebil­deter Mann aus vermö­gendem Hause – sein ihm entfrem­deter Vater ist Straf­rechts­pro­fessor –, der nach einer kurzen Karriere als Offi­zier Mathe­matik studiert und bald auch wissen­schaft­lich auf sich aufmerksam macht. Doch schon in seinen frühen Drei­ßi­gern kann Ulrich sich nicht mehr vorstellen, sein ganzes Leben als Mathe­ma­tiker zu verbringen – wozu auch? Er beschließt, „sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine ange­mes­sene Anwen­dung seiner Fähig­keiten zu suchen“. Aus einer Kombi­na­tion von väter­li­chen Bemü­hungen und unglück­li­chen Zufällen sieht er sich aller­dings bald in eine neue Rolle gedrängt: Er wird ehren­amt­li­cher Sekretär der soge­nannten „Paral­lel­ak­tion“, die den Hand­lungs­strang des Romans bildet – ein Hand­lungs­strang aller­dings, bei dem weder gehan­delt wird noch über­haupt etwas geschieht. Die Paral­lel­ak­tion ist eine Anstren­gung höchster Kreise Wiens, das sieb­zig­jäh­rige Thron­ju­bi­läum von Kaiser Franz Joseph I. im Jahr 1918 vorzu­be­reiten – „parallel“ wurde die Aktion genannt, weil eben­falls 1918 beim unge­liebten preu­ßi­schen Nach­barn das zum Glück für Öster­reich nur drei­ßig­jäh­rige Thron­ju­bi­läum von Kaiser Wilhelm anstand.

Während Ulrich eher distan­ziert auf das Treiben um ihn herum blickt, suchen die mit der Paral­lel­ak­tion Betrauten uner­müd­lich nach einer wirk­lich ganz großen „Idee“, nach einer „Aktion“ oder einer „Tat“, um die Bedeu­tung und den Ruhm Franz Josephs als „Frie­dens­kaiser“ und damit auch den Ruhm Öster­reichs vor aller Welt leuchten zu lassen. Aber ach, es kommt ihnen einfach nichts in den Sinn. Kein Vorschlag über­zeugt, jede Idee erweist sich sogleich als abge­dro­schen, kein wirk­lich „großer Gedanke“ kommt je in Sicht. Das ist, als zutiefst ironi­scher running gag und never ending story, einer­seits schlicht sehr komisch und ein schönes Bild für das zur leeren Hülle erstarrte Kaka­nien, wo nur noch „Seines­glei­chen geschieht“ – also nichts.

Die vergeb­liche Suche nach einer alle „Völker“ Kaka­niens verei­ni­genden Idee verweist ande­rer­seits aber als Meta­pher auf das eigent­liche Thema des Romans: Die Moderne bietet keine „große Idee“ – im Singular – mehr, auf die sich alle einigen könnten. Die Salon­dame Diotima, eine entfernte Kusine Ulrichs, in deren Wohnung die Sitzungen zur Paral­lel­ak­tion statt­finden und die sich mit Inbrunst in die Suche nach einem die Seele und das patrio­ti­sche Gefühl glei­cher­maßen erhe­benden „Gedanken“, nach „Idealen“ und „Wahr­heiten“ wirft, hätte sich, so Musil, „ein Leben ohne ewige Wahr­heiten niemals vorzu­stellen vermocht“ – „aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwun­de­rung, dass es jede ewige Wahr­heit doppelt und mehr­fach gibt“. Zu jedem noch so edel gemeinten Vorschlag gab es einen Gegen­vor­schlag, jede Idee begeg­nete einer entge­gen­ge­setzten. Es war dies, heißt es an einer Stelle, „die bekannte Zusam­men­hangs­lo­sig­keit der Einfälle und ihre Ausbrei­tung ohne Mittel­punkt, die für die Gegen­wart kenn­zeich­nend ist und deren merk­wür­dige Arith­metik ausmacht, die vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben.“ Im Salon Diot­imas, wo sich die führenden Geister Kaka­niens versam­meln, zeigt sich diese Zusam­men­hangs­lo­sig­keit in einer nicht mehr zu bändi­genden Viel­zahl von Spra­chen, Perspek­tiven und Gesichts­punkten, die sie als Spezia­listen einbrachten, ohne sich noch unter­ein­ander verstän­digen zu können.

Kontin­genz

Doch Musil, der Natur­wis­sen­schaften studierte und Inge­nieur war, bevor er sich den Geis­tes­wis­sen­schaften und der Psycho­logie zuwandte, unter­sucht dieses moderne Zerborsten-Sein der „Wahr­heit“ und des „Sinns“, dieses Zerbre­chen der zumin­dest im Rück­blick noch als „ganz“ idea­li­sierten Welt vor dem Einsetzen der Indus­tria­li­sie­rung und dem Siegeszug von Wissen­schaft und Technik nicht bloß am abgründig komö­di­an­ti­schen Beispiel der Paral­lel­ak­tion. Auch Ulrichs Entschei­dung, Urlaub vom Leben zu nehmen, weil er keinen Sinn mehr in seinen bishe­rigen Beschäf­ti­gungen sieht, ist Ausdruck der Erfah­rung, dass sich sein Denken und Fühlen „in immer zahl­rei­cher werdenden Einzel­heiten verloren hat“. Diesem Gefühl korre­spon­diert die moderne Erfah­rung der Kontin­genz, das heißt des alles durch­drin­genden Zufalls und der nicht mehr einhol­baren Rela­ti­vität und Perspek­ti­vität – Nietz­sche war für Musil eine wich­tige Refe­renz –, die der Roman zur gestei­gerten Anschauung bringt. Nur „wenig Menschen“, heißt es etwa, „wissen in den Jahren der Lebens­mitte, wie sie zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnü­gungen, ihrer Welt­an­schauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen“ – und sie hätten daher das Gefühl, dass es „auch hätte anders kommen können“, denn „die Ereig­nisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausge­gangen, meis­tens hingen sie von aller­hand Umständen ab“. Das gilt auch für den Prosti­tu­ier­ten­mörder Moos­brugger, die dunkle – in ihrer Einfach­heit aber auch helle – Gegen­figur des Romans: Warum wurde er zum Verbre­cher, der auf seine Hinrich­tung wartet, während andere zuhause „Frau, Familie, Gram­mo­phon und Seele“ haben? Man weiß es nicht.

Was also sind, so gesehen, die „Eigen­schaften“ eines Menschen, das heißt das, was ihn beson­ders macht? Man würde meinen, sie kämen irgendwie von „innen“, aber wir werden eines Besseren belehrt. „Ein Mann ohne Eigen­schaften besteht aus Eigen­schaften ohne Mann“, heißt es program­ma­tisch in einem Kapi­tel­titel. Denn Ulrich beschleicht zuneh­mend das Gefühl, „dass die persön­li­chen Eigen­schaften […] mehr zuein­ander als zu ihm gehörten, ja jede einzelne von ihnen hatte, wenn er sich genau prüfte, mit ihm nicht inniger zu tun als mit anderen Menschen, die sie auch besitzen mochten“.

Geist

Diese durch­drin­gende Kontin­genz und Rela­ti­vität, die jede Vorstel­lung einer „zivil­recht­lich gegen die Umwelt abgegrenzte[n] Haupt- und Gesamt­person“ unter­laufen, betreffen, vom Indi­vi­du­ellen ins Große der Gesell­schaft und der „Zeit“ hoch­ska­liert, auch den „Geist“. Auch er war relativ geworden, ja, er sei ein „große[r] Jenachdem-Macher“, aber „nirgends zu fassen“ und besitze seiner­seits wohl gar „keinen Geist“; man könne daher „fast glauben, dass von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrig bleibe“. Ulrich ahnt in diesem Sinne grübelnd, dass der „Geist“, auf den die in der Paral­lel­ak­tion Versam­melten ihre Hoff­nungen setzen, das Phan­tasma einer versin­kenden Epoche war: „Unzäh­lige Auffas­sungen, Meinungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher rund träu­mender Hirne durch­ziehen ihn zwar wie Tausende kleiner empfind­li­cher Nerven­stränge, aber der Strahl­punkt, wo sie sich vereinen, fehlt.“ Die Mitte, das Zentrum, das alles verbindet und von wo auch die „große Idee“ kommen müsste, ist leer.

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Bedau­erte Musil das, trau­erte er dem Verlo­renen nach? Man kann an dieser Stelle daran erin­nern, dass Jean-François Lyotard 1979 in seinem „Bericht“ über die condi­tion post­mo­derne vom „Pessi­mismus“ sprach, „der die Gene­ra­tion der Jahr­hun­dert­wende in Wien genährt“ hat und zu der Lyotard als ersten Musil zählte, dazu Schön­berg, Hofmanns­thal, Mach oder Witt­gen­stein. Diese Gene­ra­tion habe dem Verlust gleichsam ins Auge geblickt und mit der „Trau­er­ar­beit“ begonnen, die jetzt, 1979, „abge­schlossen“ sei: Die „Großen Erzäh­lungen“, die großen sinn­stif­tenden Systeme seien nicht nur nicht mehr möglich, sondern auch nicht mehr nötig. Niemand bedauere noch länger ihren Verlust.

Diese Diagnose müsste man heute zwei­fellos disku­tieren. Was jedoch Musil betrifft, ist der Fall recht klar: Zum einen hatte er eine sehr dezi­dierte Theorie, was anstelle des Geistes die Geschichte voran­treibt: Die „Revo­lu­tionen der Lebens­um­stände“ ereignen sich nicht, wie er im Anschluss an die oben zitierte Passage über die aufkom­mende Massen­kultur bemerkt, „auf dem verant­wor­tungs­rei­chen Weg der geis­tigen Entwick­lung über Philo­so­phen, Maler und Dichter“, sondern auf dem Weg „über Schneider, Mode­ge­scheh­nisse und Zufälle“, also über die „Schöp­fungs­kraft der Ober­fläche“ statt über den „unfrucht­baren Eigen­sinn des Gehirns“. Und als sei das nicht schon deut­lich genug – und avant la lettre post­mo­dern –, fügte er hinzu: „Das ist die Entthro­nung der Ideo­kratie, des Gehirns, die Verle­gung des Geistes an die Peripherie“.

Seele

Zum andern bedachte der Erzähler Musil das Verlo­rene meist nur noch mit Sarkasmus. Als Ulrichs Jugend­freund Walter, für den seine Frau Clarisse eigent­lich eine Karriere als „Genie“ – entweder als Maler oder als Musiker – vorge­sehen hatte, Ulrich in nur dürftig kaschierter Verzweif­lung über seine verkrachte Exis­tenz entge­gen­schleu­derte: „Und wir sollen auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!“, fragte dieser kühl zurück, „wozu er eigent­lich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er“.

Walter und Clarisse, Diotima und ihr sehr, ja allzu sehr vertrauter Freund Dr. Arnheim, aber auch Ulrichs insge­heim verach­tete, weil naive „Geliebte“ Bonadea und natür­lich die Eminenzen und Geis­tes­größen an den Sitzungen der Paral­lel­ak­tion oder die poli­tisch aufge­wühlte „Jugend“: Sie alle glaubten nicht nur an den „Sinn“, sondern hofften ihn in der Tiefe ihrer „Seele“ zu finden – dort also, wo der Geist in einer Dimen­sion jenseits der viel­ge­schmähten „wissenschaftlich-technischen Ratio­na­lität“ diesen stifte. Was aber ist die Seele? Die Antwort des studierten Psycho­logen Musil ist so nüch­tern wie nur möglich: Sie ist nicht als Substanz oder Mittel­punkt des Subjekts zu fassen, sondern letzt­lich wohl nur ein „großes Loch“, das man, um über diese Leere hinweg­zu­täu­schen, am besten mit „Idealen und Moral“ füllt. Im Falle von Diotima, die ihre Bildung mit über­stürzten Lektüren nach­holt, resul­tiert daraus ein Gefühl, das „sie jetzt Seele nannte und in der geba­tikten Meta­physik Maeter­lincks“ – dem Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger von 1911 – „wieder­fand, in Novalis, vor allem aber in der namen­losen Welle von Dünn­ro­mantik und Gottes­sehn­sucht, die das Maschi­nen­zeit­alter als Äuße­rung des geis­tigen und künst­le­ri­schen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausge­spritzt hat“.

Das Thema ist ständig präsent: der Wider­spruch zwischen der angeb­lich über­bor­denden Ratio­na­lität des wissenschaftlich-technischen Zeit­al­ters und den Bedürf­nissen der Seele, die ihrer­seits auf ein verlo­renes „Ganzes“ oder eine anzu­stre­bende neue „Synthese“ verweisen würden. Dieses Verlust­ge­fühl konnte zum Beispiel einen hoch­spe­zia­li­sierten Medi­ziner über­fallen: „[W]enn man sich der Erfor­schung der Nieren­tä­tig­keit widmet, so gibt es doch Augen­blicke dabei“, wie Musil mit kaum zu über­bie­tendem Spott schreibt, „wo man sich veran­lasst sieht, huma­nis­ti­sche Augen­blicke will dies sagen, an den Zusam­men­hang der Nieren mit dem Volks­ganzen zu erin­nern. Darum wird in Deutsch­land so viel Goethe zitiert.“ Musil ließ aller­dings keinen Zweifel daran, dass die moderne Gestalt des imagi­nierten „Ganzen“ als „Volks­ganzes“ nicht länger bloß mit Goethe herbei­ge­wünscht wurde – nur Dr. Arnheim, der edle preußisch-jüdische Geist, wollte partout nicht wahr­nehmen, dass diese unter der „Jugend“ verbrei­tete Stim­mung sich zuneh­mend in der absto­ßenden Gestalt des Anti­se­mi­tismus zu mani­fes­tieren begann.

Inzest

Auch vor diesem Hinter­grund gibt der 1932 publi­zierte zweite Band des Mann ohne Eigen­schaften und gleich­zeitig dritte Teil der Erzäh­lung mit dem Titel „Ins Tausend­jäh­rige Reich (Die Verbre­cher)“ Rätsel auf. Denn es geht nicht, wie man meinen könnte, um die nach der Macht stre­benden Natio­nal­so­zia­listen, sondern um Ulrichs Schwester Agathe, genauer gesagt um das Verhältnis der beiden Geschwister, die sich nach langen Jahren anläss­lich der Beer­di­gung ihres Vaters wieder treffen. Agathe ist gerade daran, sich scheiden zu lassen. Sie zieht zurück nach Wien und zu Ulrich, wo die beiden in langen Gesprä­chen ihr Verhältnis als imagi­näre „Zwil­linge“ ausloten, die sich wie in Platons Gleichnis von den beiden Halb­ku­geln wieder­ge­funden glauben. Die Stim­mung zwischen ihnen ist in einer schwe­benden, kaum ausge­spro­chenen Weise inzes­tuös. Der tatsäch­liche Inzest wäre aller­dings das primäre „Verbre­chen“, der funda­men­tale Bruch jeder gesell­schaft­li­chen Ordnung, wie die mit den Schriften Freuds vertrauten Haupt­fi­guren natür­lich wissen. War der Inzest für Musil mithin eine Meta­pher für das verbre­che­ri­sche Ansinnen, in einem „tausend­jäh­rigen Reich“ unter dem Titel des „Volks­ganzen“ die in der Moderne verlo­rene Ganz­heit, die „Synthese“ zwischen Seele und Vernunft, gewaltsam wieder herzu­stellen? Man kann nur rätseln und dabei mit Ulrich zu den Sitzungen der Paral­lel­ak­tion zurück­kehren, wo das Kommen der „großen Idee“ nun doch unmit­telbar bevor­zu­stehen scheint. Doch keine Sorge – sie verflüch­tigt sich wieder, bevor sie sich gezeigt hat, und neugie­rige Leser:innen können in den nach­ge­las­senen Text­teilen das grund­sätz­liche Nicht-Enden dieser Geschichte noch bis in ihre letzten, sprach­lich voll­endeten Frag­mente nachvollziehen.