Links und Rechts – wohl kaum eine andere Unterscheidung politischer Ausrichtung erscheint so selbstverständlich. Als metaphorische Übertragung einer Sitzordnungstradition markiert sie einen binären Gegensatz und lässt zugleich die Bildung eines Spektrums zu: extrem Links, extrem Rechts, halb Links, halb Rechts etc. Doch so weit diese Ausdifferenzierung auch reichen mag, die Bipolarität bleibt erhalten. Noch die so genannte ‚Mitte‘ lebt vom Gegensatz zwischen Links und Rechts. Die Unterscheidung ist Teil unserer politischen Denkweise und wir können kaum eine politische Diskussion ohne sie führen. Kinder und Jugendliche verwenden sie früh, um sich in einem Feld zu orientieren, das sie erst beginnen zu verstehen; und Erwachsene greifen gern auf sie zurück, um in einem Feld Ordnung zu schaffen, das sie beginnen, nicht mehr zu verstehen.
Echte Orientierung und Ordnung aber schafft die Unterscheidung heute nicht mehr. Wer sich die Wählerwanderungen der letzten 30 Jahre zumindest in der Bunderepublik ansieht, wird feststellen, dass auf dieser Ebene von identifizierbaren politischen Lagern oder Milieus kaum mehr die Rede sein kann. Und auch die parteipolitische Zuordnung fällt zunehmend schwer, wenn konservative Parteien (wie in Deutschland in den letzten ca. 15 Jahren) sozialdemokratische Programme umsetzen, wenn neue Themen wie Klimawandel oder Zuwanderung innerparteiliche Risse verursachen, wenn linke Rhetorik am rechten Rand auftaucht (und umgekehrt) oder wenn ausgerechnet die Grünen als neue Mitte erscheinen. Entsprechend wurde die Unterscheidung zwischen Links und Rechts schon öfter als überholt erklärt, ohne dass sie sich deshalb aber aus unseren Köpfen und Diskussionen verabschiedet hätte. Was genau aber scheint hier zu verschwinden, ohne wirklich verschwinden zu können?
Freiheit, Gleichheit, Ordnung
Historisch markierte die Unterscheidung zwischen Links und Rechts vor allem den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Grundkonflikt jenseits der meist multiplen Vorschläge seiner Lösung. In der französischen Nationalversammlung von 1789 gruppierten sich die Anhänger der alten Ordnung – bereits nach dem Vorbild des britischen Unterhauses und damit eine Tradition begründend – rechts vom Vorsitzenden, während sich die Revolutionäre links versammelten und die Moderaten in der Mitte. Je weiter sich das Spektrum von Positionen ausdifferenzierte, desto mehr hielt diese Sitzordnung den gesellschaftlichen Grundkonflikt, um den es ging, symbolisch in Erinnerung: Beharrung vs. Veränderung, der Erhalt der ständisch-monarchischen Ordnung hier, die revolutionären Werte einer neuen Welt der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit dort.
Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als sich das Bürgertum in einem gewissen Ausmaß dauerhafte Formen der politische Repräsentation sichern konnte, während mit der Industrialisierung die unterbürgerlichen und weitgehend repräsentationslosen Klassen anwuchsen, entkoppelten und verschoben sich Freiheit und Gleichheit, um eine neue Variante der Unterscheidung zwischen Beharrungs- und Veränderungskräften zu bilden: Links die revolutionären Sozialisten und ihr Ruf nach Gleichheit; Rechts die alten Eliten und das konservative Bürgertum mit ihrem Ruf nach Ordnung; in der Mitte das liberale Bürgertum und sein Ruf nach Freiheit.
Vor allem aber schob sich zwischen die ehemals zusammengehörenden Zielvisionen der Freiheit und Gleichheit eine dritte: die Nation. Im 18. Jahrhundert noch als Ausdruck der partikularen Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit in einem politisch verfassten Teil der Menschheit gedacht, wurde die nationale Einheit im 19. Jahrhundert zu einem eigenen politischen Ideal, das eine Aufhebung aller innergesellschaftlichen Konflikte auf dem Wege der strikten Regelung von Zugehörigkeit versprach.
Überschneidungen
Diese Entwicklung brachte die Unterscheidung zwischen Links und Rechts keineswegs zum Verschwinden, ließ sie jetzt aber in neuer Weise funktionieren. Der Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit sowie zwischen beharrenden und verändernden Kräften wurde überwölbt durch eine neue Ordnung politischer Ideologien: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus ordneten sich zwar weiterhin grob in Links, Rechts und Mitte, entwickelten aber zugleich je eigene Modelle und Vorstellungen davon, was Freiheit und was Gleichheit bedeuten sollte und was es zu bewahren oder zu verändern galt. Dadurch wiederum ergab sich eine Vielzahl von Überschneidungen jenseits des Links-Rechts-Gegensatzes (Sozialliberale, Liberalkonservative, Nationalsoziale etc.).
Vom Zeitalter des Hochimperialismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gesellte sich dann noch der Rassismus als eine ideologische Hintergrundüberzeugung hinzu, die auf besonders unheilvolle Weise reaktionäre Ursprungsmythen sowie Einheits- und Gleichheitsvisionen mit der Idee eines alltäglichen Überlebenskampfs verschmolz und gerade damit die Sehnsucht nach einer Aufhebung aller politischen und sozialen Friktionen befeuerte. Auch wenn im deutschen Fall die Weimarer Demokratie das Links-Rechts-Schema für eine Weile wiederbelebte, durchsetzte der Wunsch nach einer finalen Überwindung aller Differenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sämtliche politischen Richtungen. In Deutschland fiel der Konkurrenz dieser Versprechen einer Synthese durch radikale Konfliktaustragung (Klassenkampf vs. Rassenkampf) politisch zunächst der klassische Liberalismus zum Opfer, und dann, nach dem Sieg der extremen Rechten, alle anderen ‚Feinde‘ dessen, was in der ‚national-sozialen‘ Diktion jetzt Volksgemeinschaft hieß.
Entsprechend ging die Restauration der Demokratie in Westdeutschland nach 1945 mit der dezidierten Wiederherstellung eines stabilen Links-Rechts-Schemas einher. In dem Maße, in dem Freiheit und Gleichheit durch den Eisernen Vorhang globalpolitisch endgültig getrennt schienen, im Westen die demokratisch-markwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesetzt waren und sich die großen Parteien zunehmend als ‚Volksparteien‘ verstanden, verschob sich allerdings die Funktionsebene der Unterscheidung vom politischen System in die Gesellschaft: Sie ordnete jetzt nicht mehr nur das Parteienspektrum, sondern wurde vor allem zu einer Markierung individueller politischer Einstellung, Überzeugung und Identität. Das ermöglichte es dem Konservatismus, sich jetzt – mal gegen die Liberalen, mal mit ihrer Hilfe – als ‚Mitte‘ zu präsentieren, ohne dabei den rechten Rand frei zu geben, während sich links ein sehr breites Spektrum veränderungswilliger und kapitalismuskritischer Positionen versammelte, das von der Sozialdemokratie allerdings nur mühsam zusammengehalten wurde. Dennoch war dieses Schema der Nachkriegszeit relativ stabil: Eine eiserne Trennung auf der globalpolitischen Ebene entlang der Unterscheidung von Freiheit und Gleichheit, ein breites Spektrum der Selbstzuordnung auf gesellschaftlichen Ebene entlang der Unterscheidung von Beharrung und Veränderung, und parteipolitisch ein beständiger Kampf um die Mitte.
Nach 1989
Seitdem der globalpolitische Gegensatz 1989/90 wegfiel und manche das so genannte postideologische Zeitalter ausriefen, haben sich die ideologischen Positionen zugleich vervielfältigt und angenähert. Sowohl links der Sozialdemokratie als auch rechts des Konservatismus haben sich neue Bewegungen und Parteien etabliert. Zugleich aber ist an die Stelle der Gegensätze zwischen Freiheit und Gleichheit, Beharrung und Veränderung eine Vielzahl ideologischer Kombinationen und Vermischungen dieser Grundwerte getreten.
Die noch dem 20. Jahrhundert angehörende, aber bis heute sakrosankte Regel, nach der man Wahlen nur in der Mitte gewinnen kann, hat inzwischen zwei komplementäre Effekte hervorgebracht: Innerhalb des etablierten Parteienspektrums schleifen sich die Unterschiede zwischen linken und rechten Positionen ab, im ewigen Kampf um die Mitte werden die Positionen austauschbar. An den Rändern dagegen hat man den Populismus als neue Strategie entdeckt, die Mitte durch ihre vermeintlich basisdemokratische Mobilisierung für radikale Positionen zu gewinnen. Dieser Appell ans Volk aber, an alle, an die normalen Bürger – auch wenn dabei formal noch zwischen links und rechts unterschieden wird – hat nichts mehr mit einem Spektrum politischer Gestaltungsprogramme zu tun. Der Erfolg des Populismus liegt vielmehr in der Ansprache derjenigen, die sich als ganz ‚normal‘ und damit als die Norm wahrnehmen, an der sich die Politik – jenseits von Links und Rechts – zu orientieren habe. Die klassische Richtungsunterscheidung wird überwölbt bzw. unterlaufen von der nur noch hierarchischen Unterscheidung zwischen Volk und Elite, unten und oben.
So oder so, ob als bürgerliche Vernunfts-Koalition oder wutbürgerlicher Protest: Heute scheint es tendenziell nur noch Varianten der Mitte zu geben. An die je eigene Position innerhalb des klassischen Links-Rechts-Schemas wird bei einzelnen Entscheidungen als Tradition zwar erinnert; insgesamt aber scheint jede Position innerhalb der politischen Lager und jede Koalition zwischen ihnen zumindest denkbar geworden zu sein. Die wesentliche Funktion der Links-Rechts-Unterscheidung, den gesellschaftlichen Grundkonflikt jenseits der multiplen Vorschläge seiner Lösung zu identifizieren, ist lahmgelegt. Freiheit und Gleichheit, Beharrung und Veränderung sind innerhalb wie zwischen den politischen Positionen frei zitierbar geworden, ohne in Widersprüche zu geraten.
Diese Befunde scheinen einerseits zwar einen sehr grundlegenden Strukturwandel anzuzeigen. Andererseits aber lebte die Unterscheidung immer schon von ihrer historischen Modifikation, wie die Trennung von Freiheit und Gleichheit im 19. Jahrhundert, die Aufhebung von Links und Rechts in den totalitären Syntheseideologien des 20. Jahrhunderts, oder ihr Wandel zu identitären Kategorien im Zeitalter der Volksparteien. Ist die heutige Situation daher vielleicht nur eine Fortsetzung dieser Verwandlungsgeschichte? Ist es möglicherweise nur unser nostalgisches Festhalten an der relativen Stabilität der Nachkriegsjahrzehnte, die uns dazu bringt, heute nur Chaos zu sehen?
Neue Mischungen
Auch dann aber wäre zu fragen, in welche neue Konstellation die Unterscheidung zwischen Links und Rechts einzutreten beginnt. Was also liegt vor, wenn es in Österreich, und wahrscheinlich auch in Deutschland demnächst, zu einer schwarz-grünen Koalition kommt? Wenn der Populismus weiterhin die Unterscheidbarkeit von Freiheit, Gleichheit, Beharrung und Veränderung unterläuft? Wenn die konkrete Politik weiterhin von Grundwerten und Zukunftsvisionen auf pragmatische Programme der Krisenbewältigung und Prozesssteuerung umschaltet? Wenn Links und Rechts also immer weniger zur dauerhaften Markierung politischer Identität und Zugehörigkeit taugen?
Was sich hier ankündigt, ist wohl noch nicht das Verschwinden der Unterscheidung, sondern eine nochmalige Verschiebung ihrer Funktionsweise: von Grundüberzeugungen und Zielvisionen hin zu jeweils politisch zu lösenden Aufgaben und Problemen. Man könnte das die ‚Außensteuerung‘ politischer Positionierung und Identität nennen: Je weniger Links und Rechts noch übergreifende Weltbilder markieren, desto heftiger wird – parteipolitisch wie im Alltag – um linke und rechte (oder sich zumindest oft links und rechts nennende) Lösungen bei einzelnen, konkreten Themen gestritten, ohne dass dieser Streit noch eine Kongruenz mit dem Streit um andere Themen aufweisen muss. In Reden derselben Politiker zu unterschiedlichen Themen oder auch im sozial-medialen Dauerstreit ums Politische lässt sich diese Multiplizierung und immer neue Anpassung des Links-Rechts-Schemas an die wechselnden Themen und ‚Herausforderungen‘ täglich beobachten.
Eben daher rührt die eingangs genannte ambivalente Diagnose: Die Unterscheidung von Links und Rechts ist nach wie vor dauerpräsent, doch in strukturell anderer Weise als noch vor 30 Jahren. Zudem liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei ihrer heutigen Vervielfältigung dann doch um die historisch letzte Modifikation der Unterscheidung handelt, um die letzte Stufe ihres langen Abschieds. Umso wichtiger wäre dann aber die Frage, welche neuen politischen Weltbilder und Ideologien daraus hervorgehen werden. Denn: Von denen Abschied zu nehmen, ist noch kein Mittel erfunden worden.