
Gegenwärtig erleben das gesprochene Wort und damit verbunden auch das Hören einen regelrechten Boom. Das totgesagte Radio ist als Podcast nicht nur wiederauferstanden, sondern hat sich in rasender Geschwindigkeit, was die schiere Anzahl, aber auch die Themenvielfalt und die unterschiedlichen Genres betrifft, verbreitet. Und selbst eindeutig für das Lesen geschriebene Texte, etwa für Zeitungen und andere Medien, werden häufig als Service ebenfalls vorgelesen – wie auch dieser Text, den Sie gerade lesen oder eben wahlweise hören können.
Sinne der Geschichte
In der Geschichtswissenschaft lässt sich ebenfalls eine (neue) Hinwendung zum Gesagten und Gehörten feststellen. Die Sound History interessiert sich seit etwa 20 Jahren für Stimmen und Klang, für Geräusche und Lärm, also dafür, wie sich die Vergangenheit angehört hat, nachdem zunächst in den 1980er Jahren das Bild und die Visualität der Welt „entdeckt“ worden waren. In beiden Fällen braucht es neben der Neuinterpretation bekannter Quellen auch neues Material, also Bilder und Töne, aber auch neue Methoden und Darstellungsformen. Und in beiden Fällen war eine Historisierung der Sinne, schon früh vorangetrieben von der Schule der Annales, notwendige Voraussetzung für diese Erweiterung des historischen Repertoires. Das heißt, es wurde nicht nur die Bedeutung des Hörens und Sehens für die Weltwahrnehmung untersucht und auf der Basis neuer Quellen versucht, die Veränderungen der Geräuschkulissen in den verschiedenen und verklungenen Umwelten von Stadt und Land, Arbeit und Mußezeit zu rekonstruieren, sondern es wurde auch gezeigt, dass die Art und Weise, wie Menschen hören und sehen, und welche Bedeutung sie den jeweiligen Sinnen zumessen, einem historischen und kulturellen Wandel unterliegen.
Diese Thematisierung der Sinne zieht häufig eine Hinwendung zum Alltag und zur Arbeitswelt nach sich, zu Fragen von Macht, Herrschaft und Unterdrückung, gerade weil die geschriebenen Dokumente der staatlichen Archive hier oft „schweigen“ und zudem auch illiterate Menschen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, in Rede und Gesang, in Klagen und Schreien, Spott und Gebet zu Wort kommen. Shane White und Graham White haben schon 2005 in ihrem Buch „The Sounds of Slavery” die soundscape der Sklaverei des 18. und 19. Jahrhunderts in den USA rekonstruiert und dabei ihr Augenmerk auf Lieder, Predigten und Reden gelegt. Noch grundsätzlicher zeigt Mark M. Smith in seiner Studie „How Race is Made“ die Bedeutung aller Sinne bei der Konstruktion von „race“ im amerikanischen Süden, und zwar zu einer Zeit, in der die scheinbare Sicherheit des äußeren Anscheins, wer denn Schwarz bzw. Weiß sei, durch eine Zunahme einer „racially mixed population“ ab den 1850er Jahren verunsichert wurde. „Rasse“ ist niemals ein nur visuelles (und natürlich rechtliches, politisches und soziales) Phänomen gewesen, sondern auch eines des Fühlens, Schmeckens, Hörens und Riechens. Gerade die wirre Ideologie der „one-drop-rule“ musste zwangsläufig andere Kriterien als das Sichtbare ins Feld führen, um eine binäre Rassenzuordnung aufrecht erhalten zu können. Denn nach dieser Regel galt jeder Mensch dann als Schwarz, wenn sich ein afrikanischer bzw. schwarzer Vorfahre irgendwo in der Ahnenreihe finden ließ.
Acoustic Archives – Die Stimmen der Anderen
Auch wenn rassistische Theorien sich etwa über die Besonderheiten der „schwarzen“ Stimmen ausließen, erklingen die Stimmen der Versklavten, der Marginalisierten, der Unterdrückten, der Subalternen selten selbst im Archiv. Sie werden entweder eben doch anhand von schriftlichen Überlieferungen rekonstruiert oder ohnehin nur metaphorisch aufgerufen – im Anspruch auch ihnen „eine Stimme zu geben“. Ganz anders nun arbeitet die Historikerin Anette Hoffmann. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf eine oft genug gewaltsame akustisch-koloniale Wissensproduktion, die sich in historischen Tondokumenten zeigt, welche seit mehr als hundert Jahren in europäischen Archiven liegen und über die Hoffmann unter dem Titel Kolonialgeschichte hören (2020) ein äußerst lesenswertes Buch geschrieben hat. Sie untersucht darin – wie auch in ihrem aktuellen Projekt „Listening to the Archive. Historical Voice Recordings as Sources for Historiographies of the Colonial Period“ – die Bedeutung akustischer Sammlungen als Quellen zur Kolonialgeschichte. Konkret handelt es sich dabei um Wachswalzen und Archivplatten mit Sprachaufnahmen in Beispielsätzen und freier Rede aus der Sammlung des als „Medienpionier“ gefeierten österreichischen Anthropologe Rudolf Pöch (1870-1921).
Das von Pöch aufgezeichnete Naro, eine noch heute in Botswana und Namibia gesprochene Sprache, verstand er allerdings nicht (und er konnte sich offenbar vor Ort zudem nur unzureichend in einem Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Afrikaans verständigen). Obwohl mithin auf den Wachswalzen und Archivplatten die Stimmen der Kolonisierten zu hören sind, ging es kolonialen Forschern wie Pöch, der sich vor allem für die Sprachmelodie und den Sprachfluss interessierte, nicht darum, den Sinn dessen zu erfassen, was sie aufzeichneten; sie verfolgten vielmehr davon unberührte linguistische und (rassen-)anthropologische Fragestellungen.
!Ai-khoë (Naro) Frauen mit Hörschläuchen beim Abhören von Tonaufnahmen, aufgenommen 1908 von Rudolf Pöch (Quelle: Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften)
Hoffmann betont, dass die von ihr untersuchten Tonaufnahmen nicht wie andere kulturelle Artefakte „gesammelt“ wurden, sondern gemeinsam produziert worden seien – in einem eigenartigen, technisch sehr avancierten Zusammenspiel von Körper und Maschine. Vor allem aber wurden diese Tondokumente in einer kolonialen Situation zwischen den ausgewählten Sprecher:innen und den Anthropologen produziert. Sie entstammten damit einer gemeinsamen Wissensproduktion, bei der es jedoch weder um Einvernehmen noch um gemeinsame Interessen ging. Daher waren es gerade das Unwissen und die mangelhaften bis fehlenden Sprachkenntnisse von Anthropologen wie Pöch, die es ermöglichten, dass mit den aufgezeichneten Sprachbeispielen auch subversive, das heißt zornige und kritische Botschaften in die Sammlungen und Archive gelangten – und damit die Stimmen jener, die eigentlich nicht „zu Wort“ kommen sollten…!
Close listening – Widerstand hören
Doch Anette Hoffmann geht es mit dem Hinweis auf die besondere Produktionssituation vor allem darum, die entkörperten „dem Echo verwandten“ Stimmen, die „als Widerhall von ihren SprecherInnen abgelöst und als Wiederholungsstimmen nahezu unsterblich“ sind, wieder in eine konkrete historische Situation zurückzubetten, sie mit Namen und Portraits zu versehen und die Situation zu rekonstruieren, in der die Tonaufnahme entstanden ist. Wie aus Pöchs Tagebüchern deutlich hervorgeht, wusste er selbst genau, unter welchen Umständen die von ihm vor den Grammophontrichter gestellten und zuvor anthropometrisch vermessenen und fotografierten Menschen lebten. Erst in der veröffentlichten Forschungsliteratur wurden die verfolgten, proletarisierten und marginalisierten Naro-Sprecher:innen zu Vertreter:innen der letzten „Naturvölker“.
In dieser Forschungssituation fand keine Kommunikation statt, sondern eine Bemächtigung, eine Extraktion von Wissen. Dabei gehört es zum Paradox des Kolonialarchivs, dass es sehr viel mehr über den Wissenschaftler selbst zu zeigen vermag – auch wenn er sich als „neutrale Instanz“ ohne körperliche Bedürfnisse und Subjektivität zu präsentieren versuchte – als über die untersuchten Menschen, die zwar Gegenstand der Forschung waren, aber als Individuen gleichsam durchgestrichen wurden.
Hans Lichtenecker: Unbekannte Frau spricht in den Phonographen; Sammlung Hans Lichtenecker © Namibian Scientific Society in Windhoek; Quelle: altertuemliches.at
Unsichtbar werden in den wissenschaftlichen Texten auch die in Briefen und Tagebüchern zumindest erwähnten, manchmal auch eingehend beschriebenen „Helfer“: botanische und zoologische Expertinnen, Köche, Träger, Scouts, Vermittlerinnen, Übersetzerinnen, technische Assistenten, die Geräte einrichteten und Filme entwickelten – das heißt all die Menschen, welche die koloniale Wissensproduktion erst ermöglichten, und deren Stimmen in Einzelfällen auch auf den Wachswalzen von Pöch überliefert sind.
Dass diese Tonaufnehmen heute noch zu hören sind, mag zu der Idee verführen, hier könnte durch die Zeit hindurch etwas Verlorenes wiedergewonnen werden. Allerdings, so der Klanghistoriker Frieder Missfelder in einem ausgezeichneten Einführungstext zur Klanggeschichte: „Walzen, Tonbänder, Schallplatten oder mp3-Dateien suggerieren zwar den Realitätseffekt einer naturgetreuen Wiedergabe des Verklungenen, sind aber prinzipiell nicht weniger medial form(at)iert als andere Medien der akustischen Inskription“ – wie zum Beispiel Notenschriften.

Nicht namentlich benannter Mann, vielleicht ein Lehrer aus Berseba, hört eine Tonaufnahme. Bildausschnitt aus einer Fotografie von Hans Lichtenecker, Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia), 1931; © Namibian Scientific Society in Windhoek; Quelle: kultur-online.net
Dieser „Formatierung“ begegnet Anette Hoffmann mit der Methode des „close listening“, bei der sie nicht nur auf die gesprochenen Wörter achtet, sondern alle Hintergrund- und Nebengeräusche einbezieht, „das Räuspern oder Husten, die Ansage des Aufnehmenden, das Rumpeln des Phonografen und die Melodie des Gesagten. Close listening“, so Hoffmann weiter, „beachtet alle akustischen Signale und kann so die Aufmerksamkeit verschieben“ – und zwar von den aufgesagten Sprachbeispielen hin zu den expressiven und performativen Sprechsituationen, zu denen auch die akustischen Spuren der Zuhörerschaft gehören, ihre Zustimmung, ihr Aufmerken, ihr Murren. Aber erst durch die – manchmal aufgrund der Tonqualität nur schwer zu bewerkstelligenden – Neuübersetzungen durch Job Morris, Naro-Sprecher aus D’kar und Aktivist für San-Rechte in Botswana, ist auch der Inhalt der Sprachaufnahmen genauer zu entschlüsseln, den Pöch oft nur sehr oberflächlich zusammenfasste und oft stark verzerrt wiedergab.
In einer dieser Aufnahmen ist zu hören, dass ein Mann zornig und immer wieder und wieder sein Messer zurückfordert. Unklar bleibt, wann und wie Pöch es in seinen Besitz gebracht hat, doch der Blick auf die angeblich eher unwichtigen Alltagsgegenstände in kolonialen Sammlungen verändert sich schlagartig, wenn anhand der Übersetzung der geradezu verzweifelten Rückforderung und durch Anette Hoffmanns Erläuterungen deutlich wird, wie extrem wertvoll ein solches Metallwerkzeug in der damaligen Situation war. Pöch hingegen behauptet in seiner Zusammenfassung, der Mann wünsche sich ein Messer.
Die folgenden, als Beispielsätze aufgenommenen Worte bedürfen wohl kaum einer Interpretation:
Ich fürchte mich zu reden.
Warum lachst du?
Ich bin durstig und will Wasser.
Ich bin hungrig.
Das Archiv verschlingt Wörter

Quelle: mandelbaum.at
Wenn von einer geteilten Wissensproduktion und geteiltem Wissen die Rede ist, heißt dies wie gesagt nicht, dass das Wissen bzw. die Quellen oder Daten einvernehmlich produziert oder im Sinne eines sharing miteinander geteilt wurden. Wie Anette Hoffmann schreibt, steht daher auch heute noch die Gewaltsamkeit, mit der Wortbedeutungen, Mitteilungen und Kritiken „vom Archiv verschlungen“ wurden, unversöhnlich jener Sorgfalt gegenüber, mit der die Tonobjekte bis heute konserviert wurden. Direkter Zwang und indirekte Zwangssituationen dürfen also keinesfalls unterschlagen werden, vielmehr soll auf die Besonderheit dieser kolonialen Wissensproduktion hingewiesen werden, die allerdings ganz analog zu den Sammelpraktiken von Objekten verlief: Die in Sammlungsobjekte verwandelten Alltagsgegenstände, spirituellen Objekte und sterblichen Überreste wurden ebenfalls in deutlich nicht-symmetrischen Situationen der Befragung und Erklärungen, der Verweigerung oder auch Überlassung zuerst zu „Quellen“, bevor sie, der Systematik des Kolonialarchivs unterworfen, in Sammlungen landeten.
In diesem Sinne wurde auch das von den kolonialen Ton-Anthropologen erhobene indigene Wissen mit Aufzeichnungsgeräten und der nachfolgenden Archivierung in die Wissensordnung der Kolonialherren transferiert. Es verstand sich immer zugleich als universell gültiges Wissen – zum Beispiel über „Naturvölker“ – und als spezifisch europäische Leistung und Errungenschaft. Eine radikale Kritik und Dekolonisierung eines solchen Wissens kann nicht darin bestehen, solche Archive insgesamt zu verbrennen und mit den schmelzenden Wachswalzen auch die Stimmen derer zu verlieren, die bereits sorgfältig aus den veröffentlichten wissenschaftlichen Publikationen herausgeschrieben wurden: Die einheimischen Expert:innen und Helfer:innen und auch diejenigen, die nur gezwungenermaßen etwas preisgegeben haben, die aber im Archiv in den Winkeln und Nischen der Tagebücher, Briefe oder eben auch auf nie untersuchten Tonträgern zu finden sind.
Vielmehr kann es zum Beispiel zur wissenschaftlichen Selbstkritik gehören, die im Fall von Pöch auf fünf Wiener Institutionen verteilten Objekte wieder zusammenzubringen und aufeinander zu beziehen. Dadurch würde nicht nur die subalterne Kritik aus dem Tonarchiv auch in der Objektausstellung hörbar, sondern es würde zum Beispiel deutlich, wie eng Kolonialkrieg und Wissenschaft auch in dieser konkreten Sammlung zusammenhängen. Immer dann, wenn Pöch von deutschen Soldaten begleitet wurde, deren Ausrüstung und Gebärden auf alten Fotografien zu sehen sind, schwoll die Anzahl der Objekte im Gepäck deutlich an. Obwohl es kritische Kommentare zur europäischen Sammlungspraxis in den von Pöch gesammelten Tonaufnahmen gibt, die ein wichtiger historischer Beitrag zur gegenwärtigen Restitutionsdebatte sein könnten, sind diese – das gilt auch für andere Tonarchive – bisher wenig untersucht.
Die mangelnde Beschäftigung mit Tondokumenten und die Absenz der Stimmen haben auch damit zu tun, dass die Tonaufnahmen oft nicht transkribiert und übersetzt sind, ihr Inhalt falsch verzeichnet ist, oder sie aufgrund mangelhafter Verschlagwortung nicht in Katalogen und Registern aufgefunden werden können. Die Restitution von Tonaufnahmen – was in digitalisierter Form sehr einfach wäre – erschließt allerdings eine große Chance, denn solange sie in europäischen Archiven „interniert“ bleiben, wie Anette Hoffmann schreibt, können sie kaum durch Mitglieder der Herkunftsgesellschaften zum Sprechen gebracht werden, und der aufzeichnende Forscher bleibt der alleinige autorisierte Interpret.
Anette Hoffmann hat ein zorniges Buch geschrieben, in dem sie ganz im Sinne von Ann Stoler das Archiv nicht als Ort der Wissensabfrage, sondern zurecht als einen Ort der Wissensproduktion betrachtet.
Anette Hoffmann: Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in historischen Tondokumenten aus dem südlichen Afrika, Mandelbaum Verlag Wien 2020