Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.

  • A. Dirk Moses

    A. Dirk Moses ist Anne und Bernard Spitzer Professor für Politikwissenschaft am City College of New York.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Der Kate­chismus der Deutschen
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Die hitzigen Debatten über Achille Mbembes angeb­li­chen Anti­se­mi­tismus, über Michael Roth­bergs Buch Multi­di­rek­tio­nale Erin­ne­rung oder auch Jürgen Zimme­rers Von Windhuk nach Ausch­witz?, lassen einen als Beob­achter aus der Ferne ratlos zurück. Denn die Frage nach dem Zusam­men­hang zwischen dem Kolo­nia­lismus des Deut­schen Reichs und dem Vernich­tungs­krieg der Nazis wird außer­halb Deutsch­lands schon seit zwei Jahr­zehnten unauf­ge­regt verhan­delt. Bereits 2003 haben Roth­berg und Zimmerer in Sydney an einer von mir orga­ni­sierten Konfe­renz mit dem Titel „Geno­cide and Colo­nia­lism“ teil­ge­nommen. Im darauf­fol­genden Jahr hat Zimmerer einen seiner vielen Aufsätze zur Verbin­dung von Kolo­nia­lismus und Holo­caust in einem von mir heraus­ge­ge­benen Sammel­band veröf­fent­licht. Wenige Jahre später hatte sich unter vielen Wissenschaftler:innen die Annahme etabliert, dass wesent­liche Aspekte des NS-Regimes und des Holo­caust durch deren Bezie­hung zum impe­ria­lis­ti­schen Kolo­nia­lismus über­haupt erst erfassbar werden.

Was also ist neu? Die Gegen­ar­gu­mente sind es sicher nicht. Es sind dieselben, die bereits in den 2000er Jahren von Historikern:innen wie Birthe Kundrus, Robert Gerwarth und Stefan Mali­nowski vorge­bracht wurden. Die dama­lige Debatte entpro­vin­zia­li­sierte die histo­ri­sche Holo­caust­for­schung und zwang alle Teilnehmer:innen zu schär­ferem Nach­denken. Heute liegen die Dinge anders. Die Heftig­keit der Reak­tionen auf den Artikel, den Roth­berg und Zimmerer am 31. März 2021 unter dem Titel „Entta­bui­siert den Vergleich!“ in der Zeit veröf­fent­licht haben, ihr denun­zia­to­ri­scher, sarkas­ti­scher, herab­wür­di­gender Ton – all dies erin­nert an Häre­sie­pro­zesse. Empö­rung tritt an die Stelle von Nüch­tern­heit, vermut­lich noch poten­ziert durch die Fähig­keit der Sozialen Medien, poli­ti­sche Emotionen zu lenken und für diese Öffent­lich­keit zu schaffen. Es scheint, als ob wir zuneh­mend zu Zeugen von nicht weniger als öffent­li­chen Exor­zismen werden, die unter der Aufsicht selbst­er­nannter „Hohe­priester“ den „Kate­chismus der Deut­schen“ bewachen.

Der Kate­chismus

Dieser Kate­chismus besteht aus fünf Überzeugungen:

  1. Der Holo­caust ist einzig­artig, da er die unein­ge­schränkte Vernich­tung von Juden um deren Vernich­tung willen zum Ziel hatte, im Unter­schied zu den prag­ma­ti­schen und begrenzten Zielen, um derent­willen andere Geno­zide unter­nommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließ­lich aus ideo­lo­gi­schen Gründen auszulöschen.
  2. Da er die zwischen­mensch­liche Soli­da­rität beispiellos zerstörte, bildet die Erin­ne­rung an den Holo­caust als Zivi­li­sa­ti­ons­bruch das mora­li­sche Funda­ment der deut­schen Nation, oft gar der Euro­päi­schen Zivilisation.
  3. Deutsch­land trägt für die Juden in Deutsch­land eine beson­dere Verant­wor­tung und ist Israel zu beson­derer Loya­lität verpflichtet: „Die Sicher­heit Israels ist Teil der Staats­räson unseres Landes.“
  4. Der Anti­se­mi­tismus ist ein Vorur­teil und Ideo­logem sui generis und er war ein spezi­fisch deut­sches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwech­selt werden.
  5. Anti­zio­nismus ist Antisemitismus.

Dieser Kate­chismus verdrängte um die Jahr­tau­send­wende den voran­ge­gan­genen Kate­chismus, der seiner­seits Werten wie der natio­nalen Ehre und Tradi­tion verpflichtet war. Die Anhänger des „alten Kate­chismus“ verstanden den Holo­caust als ein histo­ri­sches Unglück, für das ledig­lich eine kleine Gruppe ideo­lo­gi­scher Fana­tiker verant­wort­lich gemacht werden könne. Diese kleine Gruppe werde nun von „Nest­be­schmut­zern“ instru­men­ta­li­siert, um Schmach und Schande über die Nation als Ganzes zu bringen.

Alan Moore, Blind Man in Bergen-Belsen, 1947

Viele deut­sche Fami­lien durch­lebten im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre den Gene­ra­tio­nen­kon­flikt, bei dem diese ältere Vorstel­lung von natio­naler Iden­tität auf ein neues Selbst­ver­ständnis traf, das von den jüngeren Kohorten der 68er Gene­ra­tion getragen wurde. Das bedeutet nicht, dass die 68er bereits an die Einzig­ar­tig­keit des Holo­caust geglaubt hätten: In ihrem anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Furor vergli­chen seiner­zeit viele die Verei­nigten Staaten ausdrück­lich mit Nazi-Deutschland, da diese in Vietnam Krieg führten („USA-SA-SS“).

Mit den 1980er Jahren begann sich die Deutung des Holo­caust als ein histo­risch einzig­ar­tiges Geschehen dann aber allge­mein durch­zu­setzen. Viele linke und libe­rale Deut­sche begriffen nun, dass sie nach dem Holo­caust nur dann als „gute Menschen“ gelten können, wenn sie diese Deutung in das eigene Selbst­ver­ständnis einglie­derten, und dies auch gegen­über einer inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit doku­men­tierten. Im Histo­ri­ker­streit Mitte der 1980er Jahre, in dem es um die Frage ging, ob der Holo­caust als „asia­ti­sche Tat“ von den Bolsche­viken provo­ziert wurde, setzte sich der neue Kate­chismus aber noch nicht durch. Er war ledig­lich eine frühe Episode in einer ganzen Reihe von Debatten  – etwa jener der 1990er Jahre über den Multi­kul­tu­ra­lismus, Daniel Gold­ha­gens Buch „Hitlers willige Voll­stre­cker“, die Wehr­machts­aus­stel­lung oder das Holo­caust Mahnmal in Berlin. In diesen Debatten führten Konser­va­tive ein Rück­zugs­ge­fecht im Namen des alten Kate­chismus, bei dem ihnen in erster Linie die Frank­furter Allge­meine Zeitung ein öffent­li­ches Forum bot.

Letzt­lich aber mussten irgend­wann auch sie einsehen, dass Deutsch­lands geopo­li­ti­sche Legi­ti­mität davon abhing, ob der neue, im Austausch mit ameri­ka­ni­schen, briti­schen und israe­li­schen Eliten ausge­han­delte Kate­chismus von ihnen akzep­tiert wurde.

Dessen fünf Elemente sind für eine ganze Gene­ra­tion zu Glau­bens­ar­ti­keln geworden. Millionen Deut­sche haben während der vergan­genen Jahr­zehnte verin­ner­licht, dass für die sündige Vergan­gen­heit ihrer Nation nur über den Kate­chismus Verge­bung zu erlangen ist. Kurz gefasst impli­ziert der Kate­chismus eine Heils­ge­schichte, in der die „Opfe­rung“ der Juden durch die Nazis im Holo­caust die Voraus­set­zung für die Legi­ti­mität der Bundes­re­pu­blik darstellt. Deshalb ist der Holo­caust für sie weit mehr als ein wich­tiges histo­ri­sches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereig­nisse – etwa durch nicht­jü­di­sche Opfer oder andere Völker­morde – konta­mi­niert werden darf, da dies seine sakrale Erlö­sungs­funk­tion beein­träch­tigen würde. Für den Histo­riker Dan Diner etwa nimmt der Holo­caust als Zivi­li­sa­ti­ons­bruch den Platz ein, der vormals Gott zukam. Das Bezeugen der univer­salen Bedeu­tung der Leiden der jüdi­schen Opfer des Völker­mords wird hier zum Funda­ment für eine neue Welt, die, so Diner, notwen­di­ger­weise all jenen verschlossen bleibt, die durch einen „sakralen Zeit­stau“ in der Vergan­gen­heit vor der „Opfe­rung“ verweilen. Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Moral muss negiert werden: statt „erlö­sender Anti­se­mi­tismus,“ (Saul Fried­länder) – „erlö­sender Philosemitismus.“

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Ein Erlö­sungs­nar­rativ

Eine zentrale Rolle in diesem chris­to­lo­gisch geprägten Erlö­sungs­nar­rativ kommt hier auch der „Wieder­auf­er­ste­hung“ des Opfers bei. Seit der Wieder­ver­ei­ni­gung der beiden deut­schen Staaten und dem Kollaps der Sowjet­union unter­nimmt der deut­sche Staat diverse Maßnahmen, die eine „Wieder­auf­fors­tung“ von Juden in Deutsch­land hervor­bringen sollen. So zieht sich auch durch die Diskurse, die beispiels­weise die Migra­tion von Juden und Jüdinnen aus der ehema­ligen Sowjet­union beglei­teten, ein Erlö­sungs­nar­rativ, in dem die jüdi­schen Migranten mit den Opfern des Holo­caust zu einer Figur verschmelzen und die „deutsch-jüdische Symbiose“ als bour­geoise Kultur­bürger wieder­her­stellen sollen. Nachdem Deutsch­land nun nicht nur die gründ­lichste „Aufar­bei­tung der Geschichte in der Geschichte“ hinter sich gebracht hat, sondern auch Juden und Jüdinnen „wieder­be­lebt“ hat, kann es im Bewusst­sein seiner Rolle als Leucht­turm der Zivi­li­sa­tion wieder stolz unter den anderen Nationen stehen und sich von der poli­ti­schen Klasse Israels, Groß­bri­tan­niens und den USA aner­ken­nend den Kopf tätscheln lassen.

Den Glauben nicht zu verlieren verlangt jedoch stän­dige Wach­sam­keit. Ange­führt von offi­zi­ellen Amts­trä­gern mit dem beein­dru­ckenden Titel Beauftragte:r der Bundes­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus auf Bundes- und Länder­ebene halten die Hüter der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Ortho­doxie ständig Ausschau nach anti­se­mi­ti­schen Häre­sien und Anzei­chen für den Glauben an den alten Kate­chismus, etwa die Wieder­kehr von Schluss­strich­de­batten. Obwohl die Nazis als Ergebnis einer ganzen Reihe von NS-Vergangenheits-Skandalen, die bis in die 1960er Jahre zurück­rei­chen, längst symbo­lisch aus der Nation-auf-Wiedergutmachungskurs ausge­stoßen worden sind, hat sich die Anspan­nung bis heute nicht gelegt. Heute entde­cken die Glau­bens­wächter neue Nazis, etwa Palästinenser:innen und ihre nicht-zionistischen israe­li­schen Freunde, die Alli­anzen in Deutsch­land und anderswo schaffen und mit den Modi des Zusam­men­le­bens jenseits natio­nal­staat­li­cher Grenz­zie­hungen experimentieren.

Das bislang unheil­vollste Signal dafür ist der BDS-Beschluss des Deut­schen Bundes­tags von 2019. Er verur­teilt die Pales­ti­nian Boycott, Dive­st­ment and Sanc­tions Bewe­gung, weil sie – wie es in der Begrün­dung etwas provin­ziell heißt – die Abge­ord­neten „an die schreck­lichste Phase der deut­schen Geschichte“ erin­nere. Der Beschluss und die breite Unter­stüt­zung, auf die er traf, lässt darauf schließen, dass der poli­ti­sche Konsens in dieser Frage ein Spek­trum von den Anti­deut­schen bis hin zur AfD umfasst. Welche alter­na­tiven Möglich­keiten Palästinenser:innen ergreifen können, um sich der Kolo­ni­sie­rung ihres Landes zu wider­setzen, schien diese Politiker:innen nicht zu kümmern: Sie fühlen, dass sie die Zustim­mung der Palästinenser:innen für ihr ethisch aufrich­tiges Selbst­bild und ihre inter­na­tio­nale Repu­ta­tion nicht benötigen.

Diese mora­li­sche Hybris führt zu der bemer­kens­werten Situa­tion, dass nicht­jü­di­sche Deut­sche ameri­ka­ni­sche und israe­li­sche Juden und Jüdinnen mit erho­benem Zeige­finger über korrekte Gedenk­kultur und Loya­lität zu Israel belehren. Das hielt jene Deut­sche nicht davon ab, Diszi­plin zu wahren – einer­seits um zu verhin­dern, dass Juden und Paläs­ti­nenser gemeinsam Bünd­nisse und Alli­anzen schmieden, ande­rer­seits, um sogar die AfD zur Konfor­mität zu bringen: Nach einigen Wieder­be­le­bungs­ver­su­chen des alten Kate­chismus hatte diese schließ­lich erkannt, dass das öffent­liche Erschei­nungs­bild wichtig ist, um einem Verbots­ver­fahren aus dem Weg zu gehen. Davon abge­sehen bringt die AfD Israel als ethno-nationalistischem und anti-islamischem Staat mit einer restrik­tiven Einwan­de­rungs­po­litik eine gewisse Bewun­de­rung entgegen. Das Klima ist mitt­ler­weile derart ange­spannt, dass der oder die deut­sche Autor:in eines Beitrags zu einem von mir im Journal of Geno­cide Rese­arch veröf­fent­li­chen Forum zur Mbembe-Debatte ausdrück­lich darum bat, anonym bleiben zu dürfen.

Der Erfolg der Glau­bens­wächter hat aber auch eine Reak­tion provo­ziert. Die Jagd auf Häre­tiker hat unter den libe­ralen Geis­tern, die Deutsch­lands Kultur­in­sti­tu­tionen leiten, den Verdacht aufkommen lassen, dass die Gedanken womög­lich doch nicht ganz so frei sind und sie selbst als nächstes an die Reihe kommen könnten. Deshalb star­teten sie im Dezember die Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit, eine Erklä­rung über Meinungs­frei­heit und das Recht, die Politik Israels zu kriti­sieren. Obwohl viele der Betei­ligten Gegner des BDS sind, denken sie, dass man deshalb nicht um seinen Arbeits­platz oder die Teil­nahme am öffent­li­chen Leben fürchten müssen sollte. Aus demselben Grund unter­stützen einige von ihnen auch die Jeru­sa­lemer Erklä­rung zum Anti­se­mi­tismus. Letz­tere tritt den erschre­ckenden Auswir­kungen der IHRA Defi­ni­tion entgegen, für die sich die israe­li­sche Regie­rung stark macht. 

Die andere Perspek­tive der Migrant:innen

Aufgrund der demo­gra­fi­schen und gene­ra­tio­nellen Umbrüche wird es zugleich immer schwie­riger, die Bevöl­ke­rung zu diszi­pli­nieren. Für immer mehr jüngere Deut­sche spie­gelt der Kate­chismus ihre Lebens­welt nicht wider – unab­hängig von den Mühen schu­li­scher Vermitt­lung. Wie ihre Alters­ge­nossen und Genos­sinen, die in den USA und in anderen Ländern für Black Lives Matter auf die Straße gegangen sind, verstehen viele, dass Rassismus gegen Deut­sche mit „Migra­ti­ons­hin­ter­grund“ – und nicht nur wenn er anti­se­mi­tisch ausge­richtet ist – ein allge­meines Problem ist. Sie beob­achten zugleich, dass in Israel konti­nu­ier­lich rechts­ge­rich­tete Regie­rungen an der Macht sind, die durch eine aggres­sive Sied­lungs­po­litik die Illu­sion von der Zwei-Staaten-Lösung ad absurdum führen. Diese hatte es Deut­schen (und US- Ameri­ka­nern) lange erlaubt, den Traum von der Verein­bar­keit von Zionismus und Gerech­tig­keit für Paläs­tina zu träumen.

Selbst­ver­ständ­lich bringen Einwanderer:innen Erfah­rungen und Perspek­tiven auf Geschichte und Politik mit, die den von Euro­päern so oft rezi­tierten, selbst­ge­fäl­ligen Geschichten über die Verbrei­tung der Zivi­li­sa­tion durch die Jahr­hun­derte hindurch nicht anhängen. Viele von ihnen dürften die Rede vom Zivi­li­sa­ti­ons­bruch als schal empfinden, selbst wenn sie die unbe­streitbar spezi­fi­schen Eigen­schaften des Holo­caust aner­kennen. Wurden im Namen der west­li­chen Zivi­li­sa­tion nicht weite Teile der Welt von Euro­päern und US-Amerikanern erobert und Millionen von Menschen getötet, auch von Ange­stellten der deut­schen Kolonialverwaltungen?

In Berlin treffen diese jungen Deut­schen mitt­ler­weile auf tausende junger Israelis (mit und auch ohne deut­sche Staats­bür­ger­schaft), die hoffen, hier dem Alptraum in ihrer Heimat zu entfliehen. Berlin ist außerdem Heimat der größten paläs­ti­nen­si­schen Diaspora Europas, die sich seit den 50er Jahren durch Flucht und Vertrei­bung formiert hat. Zugleich sorgt die demo­kra­ti­sche Anar­chie des Internet dafür, dass die pries­ter­li­chen Zensoren, anders als noch in den 1980er und 90er Jahren, die öffent­liche Meinung kaum mehr kontrol­lieren können. Die Sozialen Medien schaffen Diskurs­räume, in die man schlecht hinein­re­gieren kann. Obwohl ein „spea­king back to power“ durch das über­par­tei­liche Bekenntnis zum Kate­chismus im Zaum gehalten wird, entstehen durch die Sozialen Medien subal­terne Diskursräume.

Gleich­zeitig schlossen sich deut­sche Akademiker:innen ihren Kolleg:innen andern­orts an: Nicht länger ausschließ­lich an den Gedanken und Taten weißer Menschen inter­es­siert, widmeten sie der impe­rialen Geschichte und der Kolo­ni­al­li­te­ratur zuneh­mend Aufmerk­sam­keit. Die „Post­co­lo­nial Studies“ sind als Feld zu komplex, um sie kurz zusam­men­zu­fassen. Ein zentraler Punkt besteht jedoch in dem Verständnis von Metro­pole und Kolonie als einer Einheit, in der Infor­ma­tionen zirku­lieren, und Menschen und Kulturen durch ungleiche Macht­ver­hält­nisse konsti­tu­iert werden. Ein weiterer Punkt besteht darin, sich Rechen­schaft darüber abzu­legen, wie sehr Politik noch bis vor kurzem in impe­rialen Kate­go­rien verstanden wurde: in Begriffen der Hier­ar­chie von Kulturen und Zivi­li­sa­tionen und in histo­ri­schen Analo­gien, beispiels­weise der Nach­ah­mung Roms.

Opfer eines Massa­kers an mutmass­li­chen Mau-Mau-Aufständischen in Kenya, frühe 1950er Jahre.

Viele Historiker:innen halten darum das Beharren darauf, der Holo­caust habe nichts mit der Kolo­ni­al­ge­schichte zu tun, für genauso pervers wie die Behaup­tung, Anti­se­mi­tismus sei etwas grund­sätz­lich anderes als Rassismus. Wie Claudia Bruns gezeigt hat, über­la­gerten sich „Schwarz“-Sein und „Jüdisch“-Sein in den Aufklä­rungs­de­batten über die jüdi­sche Eman­zi­pa­tion, in denen kolo­niale Lösungen für die Juden­frage vorge­schlagen wurden. Wilhelm Marr, der berüch­tigte Erfinder des Begriffs Anti­se­mi­tismus, war von den rigiden Rassen-Hierarchien, die er auf seinen Reisen über den ameri­ka­ni­schen Konti­nent in den 1850er Jahren beob­ach­tete, inspi­riert. Das Verständnis jüdi­scher Präsenz in Deutsch­land stand im Kontext einer von Rassen­theorie geprägten Welt­sicht, in deren Rahmen Erobe­rung und Kolo­ni­sie­rung fremder Völker, Vorstel­lungen von einer Hier­ar­chie der Zivi­li­sa­tion, Fort­schritt und Nieder­gang, Über­leben und Auslö­schung zentrale Elemente darstellten. Jahr­zehnte nach Marr lieferte, wie Histo­riker fest­ge­stellt haben, die deut­sche Herr­schaft über afri­ka­ni­sche Menschen mit dem Alldeut­schen Verband das Modell rassi­scher Unter­jo­chung, Segre­ga­tion und Gewalt­herr­schaft. So verlangten jene Anti­se­miten in den 1890er Jahren etwa, dass Juden unter ein spezi­elles Auslän­der­recht fallen sollten, während sie zur selben Zeit dafür kämpften, auf Afri­kaner ein geson­dertes Einge­bo­re­nen­recht in den Kolo­nien anzuwenden.

Nichts ist „rein

In Anbe­tracht dieser Verbin­dungen ist die Rede von der „Rela­ti­vie­rung“  sinnlos: Sie scheint eher einer theo­lo­gisch imprä­gnierten Vorstel­lung von der Einzig­ar­tig­keit des jüdi­schen „Opfers“ verpflichtet, als einer Betrach­tung des Holo­caust in seinem histo­ri­schen Kontext. Wenn Michael Roth­berg die Erin­ne­rung an den Holo­caust mit anderen histo­ri­schen Trau­mata in Bezie­hung setzt, dann zeigt er dadurch, wie sehr dieses „in Bezie­hung setzen“ seit dem Holo­caust eine globale Praxis darstellt. Erin­ne­rung ist notwen­di­ger­weise durch rekur­sive Prozesse von Inklu­sion und Exklu­sion konsti­tu­iert, durch das Herstellen von Analo­gien und Unter­schei­dungen. Nichts ist „rein. Der Holo­caust ist Teil vieler Geschichten: des Anti­se­mi­tismus, der massen­haften Verskla­vung, von Aufständen in den Kolo­nien und von Vertrei­bungen, um nur einige Beispiele zu nennen.

In der Verbin­dung von Akti­vismus „von unten“ und Wissen­schaft „von oben“ hat der Zeit­geist in den letzen Jahren eine neue Befas­sung mit dem Erbe des Kolo­nia­lismus in den Ländern des Westens erzwungen. Wie sind kolo­niale Objekte in Museen gelangt und wie können ihre Geschichten multi­di­rek­tional aus Sicht von Einwander:innen der Diaspora, People of Colour und Vertreter:innen der Herkunfts­länder erzählt werden? Warum sind Straßen nach „Kolo­ni­al­helden“ benannt und warum stehen ihre Statuen auf promi­nenten Plätzen in euro­päi­schen Städten? Wie haben Insti­tu­tionen, ja ganze Ökono­mien von der syste­ma­ti­schen Verskla­vung afri­ka­ni­scher Menschen profi­tiert oder waren sogar abhängig von ihr? Was hatten euro­päi­sche Mächte über­haupt in Afrika und in anderen Teilen der Welt zu suchen, und sollten Repa­ra­tionen an die Nach­fahren der Opfer dieser geno­zi­dalen Feld­züge und Hyper-Ausbeutungen gezahlt werden? 

Diese Entwick­lungen haben die regel­mäßig zu beob­ach­tende Reak­tion provo­ziert, die ich an anderer Stelle „Ängste in der Holocaust- und Genozid-Forschung“ genannt habe: Eine Panik, der ikoni­sche Status des Holo­caust würde dadurch auf einen „einfach weiteren“ Genozid in der Geschichte redu­ziert, und das Heilige durch das Profane verun­rei­nigt. Manche, wie Thomas Schmid in der Zeit, machen sich Sorgen über einen „Gene­ral­ver­dacht gegen den weißen Mann“. Die alternde 68er-Generation erlebt den Einfluss der Post­co­lo­nial Studies als Einfall der Barbaren in Rom. Eine Debatte über diese Dinge ist an der Zeit. Anstatt aber Argu­mente zu liefern, wollen die Hohe­priester sie als Inqui­si­tion führen, Häre­tiker denun­zieren und den Kate­chismus herunterbeten.

Deut­sche Eliten instru­men­ta­li­sieren den Holo­caust, um andere histo­ri­sche Verbre­chen auszu­blenden. Nehmen wir Clau­dius Seidl, der in der FAZ fragte: „War der Holo­caust eine kolo­niale Tat?“. In seiner nega­tiven Antwort beharrt er darauf, dass den Deut­schen wegen des Holo­caust eine beson­dere Verpflich­tung gegen­über den Juden zukommt. Von vergleich­baren Verpflich­tungen gegen­über Nami­biern spricht er nicht. Als sie Repa­ra­tionen für Ange­hö­rige der Opfer verlangten, verwei­gerte Ruprecht Polenz  diese mit dem Verweis darauf, dass man die in Namibia began­genen Verbre­chen nicht mit dem Holo­caust verglei­chen könne. Schmid erklärt ausdrück­lich: „Der Holo­caust war kein Kolo­ni­al­ver­bre­chen,“ zudem sei „der ‘globale Süden‘ den Beweis schuldig geblieben, dass er für einen neuen, besseren Entwick­lungsweg steht“. Kein Wunder, dass diese Nach­fahren der Opfer des deut­schen Staats, deren Entwick­lungs­mög­lich­keiten durch die geno­zi­dale kolo­nia­lis­ti­sche Kriegs­füh­rung zerstört wurden, die deut­sche Erin­ne­rungs­kultur als rassis­tisch empfinden: Sie behauptet eine Hier­ar­chie des Leidens, Abstu­fungen von Huma­nität und bietet gleich­zeitig wenig Ansätze für Selbstreflektion.

Gerecht­fer­tigt wird diese Hier­ar­chie mit dem Verweis auf die vermeint­liche empi­ri­sche Einzig­ar­tig­keit des Holo­caust: Nur Juden seien um des Tötens willen und einzig aus Hass getötet worden, während alle anderen Opfer von Geno­ziden aus „prag­ma­ti­schen Gründen“ ermordet wurden. Während die Nazis die Slawen durch die kolo­niale Brille gesehen haben mögen, sahen sie die Juden durch die anti­se­mi­ti­sche Brille, was zu ihrem entgrenzten, in der Geschichte einzig­ar­tigen Kampf geführt habe. Zudem, so geht das Argu­ment weiter: Wenn der Kolo­nia­lismus ein so bedeu­tender Faktor gewesen sei, warum hätten dann Frank­reich und Groß­bri­tan­nien mit ihren weit größeren Impe­rien keinen Holo­caust begangen?

Der Kolo­nia­lismus der Nationalsozialisten

In meinem neuen Buch The Problems of Geno­cide argu­men­tiere ich, dass diese vertrauten Einwände auf einem falschen Geschichts­ver­ständnis beruhen. Sie igno­rieren die Tatsache, dass alle Geno­zide durch Sicherheits-Paranoia betrieben werden. Das Nazi-Reich war ein kompen­sa­to­ri­sches Unter­nehmen, das perma­nente Sicher­heit für das deut­sche Volk anstrebte: nie wieder sollte das Volk z.B. einer Hungersnot erleiden müssen, wie es sie in der Blockade der Alli­ierten während des Ersten Welt­kriegs erlebt hatte. Es ging also um den utopi­schen Ehrgeiz der Kontrolle über ein autarkes Terri­to­rium und seine Ressourcen und der damit verbun­denen Ausschal­tung innerer Gefahren für die eigene Sicher­heit. Viele Deut­sche gaben den Juden und der Linken die Schuld an der Nieder­lage von 1918. Die Natio­nal­so­zia­listen betrach­teten Juden von Anfang an als Volks­feinde, die das kommende Reich durch ihre angeb­liche Verbin­dung mit den inter­na­tio­nalen Ideo­lo­gien des Libe­ra­lismus und Kommu­nismus gefähr­deten. Historiker:innen wissen, dass eine solche Elimi­nie­rung ganzer Gruppen in para­no­iden und rach­süch­tigen Kämpfen gegen „Erbfeinde“ keines­wegs einzig­artig und in der Welt­ge­schichte ein verbrei­tetes Muster ist. Hitler und andere führende Natio­nal­so­zia­listen haben derar­tige Muster in den Impe­rien der Antike wie der Moderne studiert und eine rück­sichtslos moderne Version davon entworfen, um nach der Ernied­ri­gung durch die mili­tä­ri­sche Nieder­lage einem wieder­ge­bo­renen deut­schen Volk eine Heimat zu geben.

Wie Rom und die alten Germanen würde auch das neue Deut­sche Reich die euro­päi­sche Zivi­li­sa­tion vor der „asia­ti­schen Barbarei“ bewahren: „dem drohenden Ansturm des inner­asia­ti­schen Ostens, dieser ewig latenten Gefahr für Europa.“ Das war in der Tat eine histo­ri­sche deut­sche Mission, wie Hitler noch im November 1944 versi­cherte: „Jahr­hun­der­te­lang mußte das alte Reich seinen Kampf gegen Mongolen und später Türken mit eigenen und wenigen verbün­deten Kräften führen, um Europa vor einem Schicksal zu bewahren, das in seinen Ergeb­nissen genauso unaus­denkbar gewesen wäre, wie es heute der Vollzug einer Bolsche­wi­sie­rung sein würde.“ Dieser Orien­ta­lismus gehörte untrennbar zu einer dauer­haften Tradi­tion des deut­schen Okzi­den­ta­lismus.

Quelle: cjh.org

Unter den jüdi­schen Gelehrten, die in die Emigra­tion gingen, waren diese Verbin­dungen allge­mein bekannt. Mehr als ein Jahr­zehnt, bevor Aimé Césaire und Frantz Fanon darüber schrieben, verstanden sie, dass die Nazis einen euro­päi­schen Herr­schafts­stil impor­tierten, den Euro­päer zur Herr­schaft über ihre Impe­rien einge­setzt hatten. Kein Zufall, dass Raphael Lemkin, der das Konzept des Geno­zids 1944 einführte, diesen in Begriffen des Kolo­nia­lismus defi­nierte (es geht um die Erset­zung der ursprüng­li­chen Bewohner durch Siedler) und dass Franz Neumann in seinem Buch Behe­moth. Struktur und Praxis des Natio­nal­so­zia­lismus 1933-1944 (1942, 1944) den Natio­nal­so­zia­lismus als „rassi­schen Impe­ria­lismus“ bezeich­nete, der die Bevöl­ke­rung zu einen versuche, indem er ihr die Beute der „Welt­erobe­rung“ versprach, was bedeu­tete, dass „die besiegten Staaten und ihre Satel­liten auf den Status von Kolo­ni­al­völ­kern redu­ziert“ würden.

Es ist Zeit für ein inklu­sives Denken

Der deut­sche Kate­chismus begreift histo­ri­sche Gerech­tig­keit als Trans­ak­tion zwischen iden­ti­fi­zier­baren und stabilen Völkern: Statt Jüdinnen und Juden zu ermorden, sollten die Deut­schen nett und welt­offen sein. Dieser Philo­se­mi­tismus sieht Juden und Jüdinnen in Deutsch­land weiterhin als Gäste, nicht völlig deutsch, und er begreift die jüdi­sche Gemein­schaft als Reprä­sen­tanten eines auslän­di­schen Staats, nämlich Israels. Während diese Verbin­dung in der deut­schen poli­ti­schen Klasse sehr geschätzt wird, sollen musli­mi­sche Migrant:innen sich gefäl­ligst nicht mit Muslimen im Ausland iden­ti­fi­zieren, um nicht dem Dschihad Vorschub zu leisten. Die Bewäl­ti­gung des Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs erlaubt es, eine neue Zivi­li­sie­rungs­mis­sion zu prokla­mieren, in deren Rahmen Migrant:innen und deren Nach­fahren dazu ange­halten werden, sich mit dem deut­schen Kate­chismus zu iden­ti­fi­zieren, und nicht nur formell, sondern auch mora­lisch zu deut­schen Staats­bür­gern zu werden. Man fragt sich, wie diese Migrant:innen und ihre Nach­fahren den deut­schen Sinn für histo­ri­sche Gerech­tig­keit empfinden, wenn er die Vertei­di­gung einer seit mehr als fünfzig Jahren herr­schenden Mili­tär­dik­tatur, unter der die Palästinenser:innen zu leben haben, mit einschließt.

Keine Frage, der Kate­chismus hat bei der Entna­zi­fi­zie­rung des Landes eine wich­tige Rolle gespielt. Es ist gut, dass in Berlin ein Holocaust-Mahnmal exis­tiert. Aber das Land hat sich verän­dert. Der Kate­chismus ist nicht nur nicht mehr nütz­lich, er gefährdet inzwi­schen gerade die Frei­heit, die die Deut­schen zu schätzen vorgeben. In seinen völki­schen Voran­nahmen und seiner Feti­schi­sie­rung der euro­päi­schen Zivi­li­sa­tion gegen­über den asia­ti­schen Barbaren steckt der Kate­chismus voller Wider­sprüche, auf die jüngere deut­sche und nicht-deutsche Stimmen den Finger legen. Es ist an der Zeit, diesen Kate­chismus zu verab­schieden und die Forde­rungen nach histo­ri­scher Gerech­tig­keit auf eine Weise neu zu verhan­deln, die alle Opfer des deut­schen Staats und alle Deut­schen – auch BPoC, inkl. Juden und Jüdinnen und Muslime und Muslimas, Einwander:innen und ihre Nach­fahren – respektiert.