
Quelle: wdr.de
Jüngst ließ sich in Echtzeit die Entstehung eines neuen Mythos beobachten: die ‚Schlacht um Lützerath‘. Während auf den Feldern um den Weiler Demonstrant:innen mit Polizist:innen rangen, tobte in den Medien der Kampf um die Deutungshoheit. Grüne Politiker und Politikerinnen von Robert Habeck über Mona Neubaur und Oliver Krischer bis Ricarda Lang verteidigten eine im Herbst 2022 mit RWE getroffene Vereinbarung, den sogenannten Kohlekompromiss: Für einen geopferten Weiler seien fünf Dörfer gerettet worden und zudem würden erhebliche Mengen Braunkohle im Boden bleiben, statt wie zuvor geplant abgebaut zu werden. Zugleich sei der für 2038 geplante Kohleausstieg zumindest in Westdeutschland auf 2030 vorverlegt worden. Damit versuchen sie das mit RWE ausgehandelte Ergebnis als einen wichtigen Etappensieg auf dem Weg zum Klimaschutz zu kommunizieren.
Umgekehrt kritisierten Klimaschützerinnen wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg diese Vereinbarung als nicht-akzeptablen Deal. Sie kritisieren die Grundlagen der Vereinbarung mit RWE und verweisen auf wissenschaftliche Gegenexpertisen, wonach die Kohlevorkommen von Lützerath zur Herstellung von Versorgungssicherheit gar nicht benötigt würden. Überdies insistierten sie auf dem unbedingten Vorrang des Klimaschutzes, der keine Kompromisse (mehr) zulasse.

Greta Thunberg im Interview mit Anne Will; Quelle: ardmediatek.de
Von Anne Will vor der Kulisse eines durch die Einigung mit RWE vor dem Abriss geretteten Bauernhofes mit gackernden Hühnern ins Kreuzverhör genommen, erklärte Greta Thunberg: „Als Aktivistin ist es nicht meine Rolle, Kompromissen zwischen Regierungen und sehr zerstörerischen Unternehmen zuzusehen“.
Untergangsszenarien rund um die ‚Schlacht um Lützerath‘
Doch es geht hier nicht nur um unterschiedliche Rollen politischer Akteure zwischen Aktivismus und Regierungsverantwortung. Denn zugleich treffen bei der der öffentlichen Verteidigung oder Kritik des „Kohlekompromisses“ zwei konkurrierende Krisenbeschreibungen aufeinander: Auf der einen Seite gilt Lützerath als unverzeihlicher Verstoß gegen die klimapolitischen Verpflichtungen der Bundesrepublik, der es unmöglich mache, die vereinbarten Ziele zur Begrenzung der Erderwärmung einzuhalten. Andere Stimmen sehen in der radikalen Ablehnung des Kohlekompromisses dagegen einen weiteren Schritt in die gesellschaftliche Spaltung und imaginieren damit mittelbar den Niedergang der liberalen Demokratie. So kritisierte etwa der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul am 15. Januar bei „Anne Will“ (ARD) den Kampf gegen den Kohlekompromiss als Symptom allgemein schwindender Ambiguitätstoleranz in der deutschen Gesellschaft. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hatte am Tag zuvor im Spiegel manchen Teilen der Klimaaktivist:innen Manichäismus vorgeworfen und daran die Frage geknüpft, ob man mit der Apokalypse überhaupt noch Politik machen könne, denn politische Positionen müssten in der Demokratie prinzipiell verhandelbar sein. Grüne Politikerinnen und Politiker sitzen somit zwischen beiden Stühlen. Denn einerseits fühlen sie sich dem politischen Milieu der Klimaschützer verbunden und teilen deren politischen Ziele, andererseits verteidigen auch sie den Kompromiss als Grundlage politischen Handelns in der Demokratie.
In der Debatte um Lützerath stoßen somit zwei Positionen aufeinander, von denen die eine als Sachwalterin wissenschaftlicher Erkenntnisse auftritt und die andere als Hüterin demokratischer Spielregeln. Die klimapolitische Logik des „Kipppunktes“, die keinen Aufschub und keine Halbheiten duldet, trifft somit auf die bundesrepublikanische Tradition der Konfliktvertagung durch Kompromiss.
Theorie und Praxis von Konflikt und Kompromiss

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In der politischen Theorie und Philosophie des Kompromisses, wie sie etwa Ulrich Willems und Veronique Zanetti betreiben, wird dieser als eine Konfliktlösung definiert, die eine zumindest vorübergehende Befriedung prinzipiell unüberbrückbarer Standpunkte herbeizuführen vermag. Dabei verzichten beide Seiten ein Stück weit auf die Umsetzung ihrer Ziele, ohne dabei ihre Standpunkte prinzipiell aufzugeben. Deshalb ist der Kompromiss notwendig mit Schmerzen auf beiden Seiten verbunden. Die Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang twitterte dies mit jener emotionalen Expressivität, die zum Markenzeichen grünen Regierens in Deutschland geworden ist: „Warum der Kompromiss zu Kohleausstieg 2030 und #Lützerath für mich schmerzhaft aber richtig ist.“
Obwohl die Begriffsverwendung im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals verschwimmt, ist es hilfreich, den Kompromiss vom Konsens und vom Deal abzugrenzen: Der Konsens bezeichnet im Gegensatz zum Kompromiss, der die Gegensätze nicht aufhebt, sondern lediglich stilllegt, eine geglückte Annäherung zwischen strittigen Positionen. Beim Deal hingegen wiegen die normativen Aspekte, bei denen jeweils Abstriche gemacht werden, weniger schwer gegenüber den beidseitig erlangten Vorteilen. Damit ist die Grenze zwischen Kompromiss und Deal fließend, hängt es doch von der jeweiligen Perspektive ab, wie diese Balance gewichtet wird. Diejenigen, die nicht am Zustandekommen des Kompromisses beteiligt waren, betonen in der Regel die prinzipielle Seite stärker.
Zudem hängt es von historisch wandelbaren Voraussetzungen ab, ob Kompromisse als akzeptabler Weg zur Lösung antagonistischer Konflikte gelten. Im Gefolge der Parlamentarisierung erlangte der Kompromiss seit dem 19. Jahrhundert zunehmende Prominenz, da er eng mit der Frage verbunden ist, wie parlamentarische Mehrheiten mit der Minderheit umgehen sollten. Allerdings entwickelte sich im Deutschen Kaiserreich eine Tradition, die den Kompromiss vor allem als Ausdruck charakterlicher Schwäche verstand: Dafür stand insbesondere die Wortverbindung des „faulen Kompromisses“. Der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen, der sich vor allem auf den kultursoziologischen Essay von Norbert Elias Über die Deutschen stützte, erklärte diese traditionelle deutsche Kompromissfeindlichkeit mit einer weit verbreiteten Kultur des dezisionistischen Entweder-Oder, die auch nach dem Ende des Kaiserreichs noch lange dominiert habe.
Dezisionistische Diskurse der alten Bundesrepublik
Nach der Gründung der Bundesrepublik klang der alte dezisionistische Diskurs noch einige Zeit nach. Einerseits blieb er stark im protestantischen Milieu verankert, andererseits gingen von dort aber auch Initiativen aus, die mit dieser Tradition brechen wollten und für den Kompromiss als tragendes Element der politischen Kultur plädierten. Im Bundestag wurde der Kompromiss schließlich zu einer Bekenntnisformel, mit der Demokrat:innen ihr gemeinsamen Einstehen gegen die totalitäre Bedrohung unterstrichen, womit sie immer zugleich die Abgrenzung gegenüber den politischen Rändern manifestierten. Darunter befanden sich neben den Kommunisten, die aber nur bis 1953 im Bundestag saßen, auch radikale rechte Positionen.

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Die empathische Beschwörung des politischen Kompromisses, der in der parlamentarischen Praxis vor allem in nicht-öffentlichen Ausschüssen erarbeitet wurde, entwickelte sich zugleich zu einem wichtigen Element jener Haltung, die der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 auf die prägnante Formel „Bonn ist nicht Weimar“ brachte. Zumindest als Oppositionsführer gehörte Helmut Schmidt zu jenen, die im Bundestag die Bereitschaft zum politischen Kompromiss immer wieder zum zentralen Kriterium der Demokratiefähigkeit überhaupt erhoben. Damit attackierte er explizit auch die Wendung vom „faulen Kompromiss“. Beim Kompromiss handelt es sich somit nicht nur um ein Verfahren oder ein Ergebnis politischer Konfliktlösung, sondern auch um ein Element der politischen Rhetorik: „Von faulem Kompromiß wird immer dann gesprochen, wenn der Kompromiß einem nicht passt“, konstatierte Otto Graf Lambsdorff 1973 im Bundestag.
Je länger sich aber im Bundestag die Parteienlandschaft auf die seit den 1960er Jahren herrschende „klassische“ Dreierkonstellation von CDU/CSU, SPD und FDP konzentrierte und je mehr sich der Kompromiss als parlamentarische Praxis durchsetzte, desto größer wurde zugleich die Kritik außerhalb der Parlamente, wofür paradigmatisch die APO stand. Der „Scheißliberale“, der Prinzipien zugunsten von Kompromissen verrate, wurde dort zur politischen Hassfigur, gewissermaßen als Gegenfigur zum „Extremisten“, der sich aus Sicht der etablierten politischen Kräfte gerade dadurch auszeichnete, dass er sich dem Verfahren des Kompromisses verweigere.

Konstituierende Sitzung des Bundestages 1983; grüne Abgeordnete mit einem Transparent zur Poliitk der USA in Nicaragua; Quelle: rhein-zeitung.de
Als nun die Grünen, die nicht zuletzt in den neuen sozialen Bewegungen wurzelten, 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, stellten sie zunächst diese politischen Spielregeln infrage. Vor allem prangerten sie an, dass Kompromisse in nichttransparenter Weise ausgehandelt und anschließend im Bundestag nur noch kommuniziert würden, statt dort hergestellt zu werden. Damit kritisierten sie ein Kernelement des Selbstverständnisses der repräsentativen Demokratie, das sich seit 1949 in der Bundesrepublik durchgesetzt hatte. Entsprechend warfen die anderen Parteien den Grünen nach ihrem Einzug in den Bundestag mangelndes Demokratieverständnis vor. Dieses Spiel gegenseitiger Vorwürfe wiederholte sich in ähnlicher Weise, als die PDS/Die Linke 1990 in den Bundestag einzog. Während den Grünen in den folgenden Jahrzehnten jedoch attestiert wurde, dass sie kompromissbereit und damit zugleich demokratiefähig seien, gilt dies für die Linke zumindest auf Bundesebene und vor allem für die AfD bis zuletzt nur sehr eingeschränkt.
Alte Worte, neue Konfliktlage
Die aktuelle Auseinandersetzung um den sogenannten „Kohlekompromiss“ steht im Schatten dieser Geschichte: Das alte, bundesrepublikanische Lob des Kompromisses trifft nun auf eine Position, die gerade das Element des Vertagens des Konflikts, das jedem Kompromiss innewohnt, für fatal erachtet. Für die Grünen bedeutet dies gefangen zu sein zwischen einer Politik des Entweder-Oder und einer Politik des Kompromisses, die ihre Ziele allenfalls schrittweise zu erreichen vermag. Dies zeigt sich schon daran, dass ihr Spitzenpersonal im sprachlichen Umgang mit dem „Kohlekompromiss“ gelegentlich auch schwankt.

»Was ist in die Partei gefahren?« – »Was hättest du an meiner Stelle gemacht, Luisa?« Klima-Aktivistin Luisa Neubauer im Streigespräch mit der Co-Fraktionschefin der Grünen im Deutschen Bundestag Katharina Dröge am 17.01.2023 im SPIEGEL Büro in Berlin; Quelle: spiegel.de
So verwenden etwa in einem am 20. Januar veröffentlichten Spiegel-Interview mit Luisa Neubauer und Katharina Dröge neben den beiden Journalisten nicht nur die Klimaaktivistin, sondern auch die Grünen-Fraktionschefin permanent den Begriff des Deals. Anders als in der politischen Theorie schwingt bei diesem Begriff in der politischen Sprache stets unterschwellig das Adjektiv „dreckig“ mit. Damit ging Dröge situativ auf ihre Gesprächspartner zu, auch wenn sie zugleich die Einigung mit der RWE verteidigte. Aber indem sie gleichfalls von einem „Deal“ sprach, akzeptierte sie stillschweigend die Prämisse der anderen Gesprächsteilnehmer:innen, welche den Kompromisscharakter der Vereinbarung mit RWE bestreiten. Auf der anderen Seite wissen aber auch die Klimaaktivist:innen sich der Sprache des Kompromisses zu bedienen. So bezeichnete etwa Lisa Neubauer am 3. Januar 2023 in einem Tweet die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Grenze von 1,5 Grad Celsius Erderwärmung als Grund-Kompromiss, gegen den der Lützerath-„Deal“ verstoße.
Kompromiss oder Deal? Die Frage, wie man das Abkommen mit RWE nennt, ist nicht unerheblich – allein schon, weil dieses eine wesentliche Voraussetzung eines fairen Kompromisses kaum zu erfüllen scheint: Er muss beiden Seiten weh tun. Während grüne Politiker:innen ihre Schmerzen bei jeder Gelegenheit zur Schau stellen, ist bislang noch nicht klar erkennbar geworden, wo genau dieser Kompromiss dem Essener Energiekonzern weh tut. Doch zugleich verdecken die alten Begriffe Kompromiss und Deal, dass an Lützerath eine neue Konstellation entsteht: die Verkoppelung zweier Krisen – des Klimas und der liberalen Demokratie. Sie gewinnt seine Schärfe erstens daraus, dass hier zwei unterschiedliche Zeitlichkeiten aufeinanderstoßen: Fünf vor Zwölf trifft auf Übermorgen. Zweitens gewinnt dieser Konflikt aber in Deutschland seine besondere Schärfe daraus, dass der Kompromiss in der Bundesrepublik zu einem Gütesiegel der geglückten Demokratisierung geworden ist. Dies lässt sich dazu gebrauchen, Klimaschützer:innen aus der „Gemeinschaft der Demokraten“ zu exorzieren und zu „Extremisten“ zu deklarieren. So zitierte die Bild-Zeitung am 3. November 2022 die „Terrorismus-Expertin“ Bettina Röhl, deren Expertise vor allem darauf beruht, dass es sich um die Tochter von Ulrike Meinhoff handelt: „Die Klima-Kleber sind auf dem Weg der RAF“.
Solche bizarren Anschuldigungen, die mehrfach sogar von Seiten der Justiz und des Verfassungsschutzes als unverhältnismäßig kritisiert wurden, enthalten einen erheblichen emotionalen Überschuss, der jedoch nicht auf einen von Medien wie der Bild-Zeitung orchestrierten populistischen Abwehrreflex der „Gemeinschaft der Autofahrer“ reduziert werden sollte. Vielmehr speisen sich diese negativen Energien auch aus jener Tiefenschicht der bundesrepublikanischen politischen Kultur, in der der Stolz auf eine gelungene Transformation in eine liberale Demokratie verankert ist. Und dafür besitzt das Bekenntnis zum Kompromiss als Weg zur Lösung antagonistischer Konflikte hohen symbolischen Wert. Vor diesem Hintergrund wird dann die Verweigerung des Kompromisses durch Klimaschützer:innen im äußersten Fall geradezu als Bruch mit dem Prozess der erfolgreichen Rezivilisierung der Bundesrepublik nach 1945 skandalisiert, während umgekehrt die „Gemeinschaft der Autofahrer“ gewissermaßen mit der „Gemeinschaft der Demokraten“ verschmilzt. Und so hat die Form der Auseinandersetzung um Lützerath vielleicht auch damit zu tun, dass hier die Zukunftsherausforderung des Klimawandels auf eine bislang wenig reflektierte Folge der deutschen Vergangenheitspolitik trifft.
Den letzten Satz würd ich gerne umwenden. Auf eine bisher wenig reflektierte Ebene: Der Renaissance einer deutschen Haltung, die sich als belehrender Mittelpunkt globalen Geschehens versteht. Lützerath ist real-ökologisch, global, ein Sandkorn im Weltwind. Parallel wird mit Abschreckungsaufrüstung jeder Ansatz global-solidarischer Anstrengung gegen Erderwärmung und Umweltvergiftung zunichte gemacht.Die explodierende deutsche Rüstungsindustrie weist den Weg in die reale Zukunft …