In den aktuellen Diskussionen wird der «Heimat»-Begriff zum Fetisch. Wenn nun auch die politische Linke die identitäre Lesart zur natürlichen Grundannahme verklärt, arbeitet sie einer plakativen Eindeutigkeit zu, die schon Max Frisch als «Chauvinismus» bezeichnet hat.

  • Jakob Tanner

    Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. 2015 erschien seine „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“.

«Heimat» ist hip. In Deutsch­land hat sie es mitt­ler­weile in offi­zi­elle Amts­be­zeich­nungen geschafft. 2018 wurde das 1949 mit der Grün­dung der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land entstan­dene «Minis­te­rium des Inneren» um den Zusatz «für Bau und Heimat» erwei­tert. Mit der Umbe­nen­nung wollte der neue Minister, der CSU-Hardliner Horst Seehofer, seinen Anspruch auf ein Super­mi­nis­te­rium unter­strei­chen, das nun auch, wie die Website fest­hält, «das Bundesamt für Bauwesen und Raum­ord­nung (BBR) in unseren Reihen begrüsst». Diese insti­tu­tio­nelle Umgrup­pie­rung wird mit dem Kollek­tiv­sin­gular «Bau» auf den Punkt gebracht.

Bundes­mi­nis­te­rium des Innern, für Bau und Heimat; Quelle: bmi.bund.de

Mit «Der Bau» ist eine 1923/24 entstan­dene, unvoll­endete und erst posthum veröf­fent­lichte Erzäh­lung von Franz Kafka beti­telt. Es geht darin um den aussichts­losen Kampf eines unter Tage lebenden Tieres, das sich mit einem weit verzweigten Erdbau vor seinen Feinden zu schützen versucht. Der zwang­hafte Kampf gegen eine einge­bil­dete Bedro­hung kippt in Para­noia. Diese kafka­eske lite­ra­ri­sche Fiktion war bei der admi­nis­tra­tiven Neukon­zep­tion des «Minis­te­rium des Inneren» offenbar durchaus präsent. Frühere Entwürfe spra­chen nämlich noch von einem „Bundes­mi­nis­te­rium des Innern für Bauen und Heimat­schutz“. Deut­li­cher als in der jetzigen Formu­lie­rung brachte dies das Bemühen um die Fusion von «Bauen» und «Heimat» in einem natio­nalen Schutz­pro­jekt mit Abwehr­re­flex zum Ausdruck. Die Verant­wort­li­chen stellten umge­hend klar, dass der in rechts­extremen Kreisen wert­ge­schätzte Aufruf zum «Heimat­schutz» in der akzep­tierten poli­ti­schen Sprache der BRD nichts zu suchen habe. Hingegen wird nach wie vor ganz selbst­ver­ständ­lich eine seman­ti­sche Homo­logie von Heimat, Volk, Nation und Vater­land unterstellt.

Heimat für alle

Heimat ist nicht nur eine staatlich-administrative Ange­le­gen­heit. Das euro­pa­weit gras­sie­rende Reden darüber reicht heute vom rechten Pol des poli­ti­schen Spek­trums bis in dessen linke Sphäre hinein. Im Früh­jahr 2018 hob Marc Saxer, Refe­rats­leiter bei der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Friedrich-Ebert-Stiftung, im IPG-Journal zum Themen­schwer­punkt «Lob der Nation» zu einem fulmi­nanten Plädoyer für eine «sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Heimat» an, die er als «welt­of­fenen Ort mitten in Europa» anpreist. Ausgangs­punkt sei eine Abstiegs- und Verun­si­che­rungs­er­fah­rung, welche die poli­ti­sche Rechte ausnutze. Darauf gelte es zu reagieren, denn «Menschen brau­chen eine Iden­tität, die ihnen Stolz, Aner­ken­nung und Selbst­ach­tung verleiht, um sich auf eine rasant verän­dernde Welt einlassen zu können.» Die Sozi­al­de­mo­kratie habe es versäumt, dem «völki­schen Angebot der Rechts­po­pu­listen ein progres­sives Iden­ti­täts­an­gebot entge­gen­zu­setzen». Die «progres­sive Heimat» wird im Beitrag illus­triert durch einen lustig entfrem­deten Karl Marx in bayri­scher Lederhosen-Tracht vor einer Berg­ku­lisse, der die Heimat­ver­träg­lich­keit des prole­ta­ri­schen Inter­na­tio­na­lismus beweisen soll.

Bild zum Artikel „Linke Heimat“; Quelle: ipg-journal.de

Inzwi­schen ist die Forde­rung nach Heimat dermassen ins Kraut geschossen, dass ein Über­blick über die Diskus­sion nicht mehr zu leisten ist. Gene­ra­li­sie­rende Aussagen dazu finden sich etwa in der März 2019-Ausgabe des Maga­zins der Wissen­schaft­li­chen Buch­ge­sell­schaft (wbg) mit dem Titel­thema «Heimat: Wo fängt sie an und wo hört sie auf». Die ange­kün­digte Analyse des «poli­ti­schen Kampf­be­griffs» endet indessen mit vagen Unter­schei­dungen, etwa zwischen «Heimat­liebe» und «Heimat­tü­melei». Hingegen schlägt sich der Heimat-Hype in diesem wbg-Werbeträger darin nieder, dass gleich dutzend­weise neue Bücher zum Stich­wort, aber auch zum «deut­schen Wald» oder zur «deut­schen Seele» ange­boten werden.

Fast alle Recht­fer­ti­gungen des «Heimat»-Begriffs, die von Autorinnen und Autoren links der Mitte verfasst werden, kommen im Duktus «Wir müssen diesen Begriff neu besetzen» oder «Wir dürfen die Heimat nicht der Rechten über­lassen» daher. Dies verweist auf eine asym­me­tri­sche Situa­tion. Offen­sicht­lich hat der Gegner das Gelände bereits erfolg­reich besetzt. Die natio­nale Rechte und rechts­extreme Kräfte setzten «Heimat» als Schlüs­sel­ka­te­go­rien der poli­ti­schen Mobi­li­sie­rung ein. Sie schmie­deten daraus ein Schutz und Trutz bietendes natio­nales «Wir» im Zeichen der Abwehr, Ausgren­zung und Ausschliessung.

Demge­gen­über sind libe­rale und linke «Wir»-Konzepte euro­pa­weit mit ganz anderen histo­ri­schen Erfah­rungen ange­rei­chert. Die Arbeiter- und die Frau­en­be­we­gungen verbanden ihre poli­ti­schen Aspi­ra­tionen weit stärker mit Begriffen wie «Frei­heit», «Bildung», «Demo­kratie», «Soli­da­rität» und – in ihren libe­r­alem­an­zi­pa­to­ri­schen Vari­anten – mit «Indi­vi­duum». Mit dem Einschwenken der Linken auf einen Heimat-(Dis-)Kurs wird diese Span­nung aufge­löst. Alle kämpfen nun um denselben Fetisch, nämlich um einen Heimat­be­griff, der zur Ermög­li­chungs­be­din­gung persön­li­cher Gebor­gen­heit und kultu­reller Orien­tie­rung aufge­wertet wird.

Mit diesem rheto­ri­schen Tanz um die «Heimat» entsteht so etwas wie eine seman­ti­sche «grosse Koali­tion», die einen intrin­si­schen Rechtsd­rall aufweist, weil ihre Agenda von weit rechts stammt. Die Crux dieses Werbens besteht darin, dass das Bedürfnis nach Zuge­hö­rig­keit hypo­sta­siert wird. Es spricht nichts für die Annahme der «Iden­ti­tären», dass Menschen «eine Iden­tität» haben müssen. Zudem koexis­tieren Heimat­ge­fühle meis­tens mit einem Wunsch nach Ferne. Gerade in der Popu­lär­kultur liegen die Sehn­suchtsorte von Menschen nicht da, wo sie leben, sondern sind in einem imagi­nären Anderen ange­sie­delt. Das Inter­esse am Unbe­kannten, die Lust am Aufbre­chen verschwindet im Schatten eines fiktiven Sicherheits- und Eindeu­tig­keits­an­ge­bots. Die zentrale Einsicht, dass der Frei­heits­grad einer jeden Gesell­schaft sich daran bemisst, ob und wie man die Heimat verlassen und gene­rell aus «herr­schenden Verhält­nissen» wegkommen kann, geht verloren. Das Mantra der Heimat-Apologeten ist die Unter­stel­lung, das einzig Rele­vante im Leben von Menschen sei ein natio­naler Stall­drang und eine darauf beru­hende Gemeinschaftsbildung.

Die Schweiz als Heimat?

Fried­rich Dürren­matt: „Trinkt Schweizer Wein!“, in: ders., Die Heimat im Plakat, Zürich: Diogenes 2005

«Heimat» aus dem poli­ti­schen Voka­bular strei­chen zu wollen, ist keine erfolgs­ver­spre­chende Stra­tegie. Die Geschichte der Lite­ratur und insbe­son­dere die Schrift­stel­le­rinnen und Schrift­steller der Nach­kriegs­zeit bieten Beispiele für einen anderen Umgang mit diesem proble­ma­ti­schen Begriff. Die Autoren Fried­rich Dürren­matt und Max Frisch setzten ihn kritisch ein. Dürren­matt, der sich Zeit seines Lebens an gesell­schaft­li­chen Ambi­va­lenzen abar­bei­tete und dem jede plaka­tive Vereindeu­ti­gung ein Dorn im Auge war, publi­zierte 1963 ein Buch mit Zeich­nungen unter dem Titel «Die Heimat im Plakat». Anlass dazu bot die im selben Jahr in der rasch aufstre­benden Walliser Touris­mus­me­tro­pole Zermatt ausge­bro­chene schwere Typhus­epi­demie. Für Dürren­matt waren die drei Todes­opfer und die über 450 hospi­ta­li­sierten Personen Resultat behörd­li­cher Inkom­pe­tenz und einer zyni­schen Politik.

Sein Buch konfron­tierte die «heile-Welt»-Schweiz, welche der touris­ti­schen Verwer­tung des kultu­rellen Kapi­tals des «Schwei­zeral­pen­landes» dient, mit bitter-bösen Bildern. Es codierte das Ehrlich­keit und Ehrbar­keit verkör­pernde natio­nalen Selbst­ver­ständnis symbo­lisch um – durch die grotesk-entfremdete Darstel­lung von Gemein­de­prä­si­denten, Gene­rälen, Lehrern, aber auch durch die Abbil­dung sich rächender Klavieren und unge­niess­baren Weissweins.

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Zehn Jahre später erhielt Max Frisch den hoch dotierten und äusserst renom­mierten «Grossen Schil­ler­preis»  –  das letzte Mal war dieser 1960 an Dürren­matt verliehen worden. Aus diesem Anlass hielt Frisch am 12. Januar 1974 im Zürcher Schau­spiel­haus eine Rede mit dem fragenden Titel «Die Schweiz als Heimat?». Die Rede ist aufge­zeichnet worden; im Film­vor­spann fehlt bezeich­nen­der­weise das Fragezeichen.

Max Firsch: Rede im Schau­spiel­haus Zürich, 1974; Quelle: youtube.com

Der Redner ging die Heimat-Problematik mit einer Doppel­stra­tegie an. Zum einen distan­zierte er sich deut­lich von jeder Vorstel­lung der «Heimat» als eines heime­ligen Wunsch­ortes. Selbst­ver­ständ­lich, sagt Frisch, «habe ich Heimat», aber daraus folge nicht zwin­gend, dass die Schweiz seine Heimat sei. Wenn er sage, «ICH BIN SCHWEIZER», so könne er sich «nicht mehr begnügen mit Pfan­nen­stiel und Grei­fensee und Lindenhof und Mundart, nicht einmal mit Gott­fried Keller; dann gehört zu meiner Heimat auch die Schande, zum Beispiel die schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­po­litik im Zweiten Welt­krieg und anderes, was zu unserer Zeit geschieht oder nicht geschieht». Das sei «nicht der Heimat-Begriff nach dem Schnitt­muster der Abtei­lung HEER UND HAUS», sondern sein eigener, denn: «Heimat ist nicht durch Behag­lich­keit defi­niert. Wer HEIMAT sagt, nimmt mehr auf sich.» Frisch lenkt den Blick dann auf den Mili­tär­putsch in Chile, rügt die Passi­vität der schwei­ze­ri­schen Diplo­matie, weist darauf hin, dass Oppo­si­tio­nelle mit «Sturm­ge­wehren schwei­ze­ri­scher Herkunft» exeku­tiert werden und fügt an, ange­sichts all dessen «verstehe ich mich als Schweizer ganz und gar, dieser meiner Heimat verbunden – einmal wieder – in Zorn und Scham.»

Heimat und Xenophobie

Mittels dieses kritisch gewen­deten, polare Gefühls­lagen inte­grie­renden Heimat­be­griffs versucht Max Frisch zum anderen, die sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Logik heimat­li­cher Affekte zu dechif­frieren. Im Kleinen begin­nend, entfaltet er die Ambi­va­lenz perso­naler Iden­ti­täts­bil­dung. Die Heimat, in die Menschen hinein­ge­boren werden, ist «der Bezirk (…) wo wir als Kind und als Schüler die ersten Erfah­rungen machen mit der Umwelt, der natür­li­chen und der gesell­schaft­li­chen». Dieser sozial abge­steckte Bereich ermög­licht das Sich-Nicht-Mehr-Fremdfühlen und erfor­dert gleich­zeitig Anpas­sung. Kinder und Jugend­liche werden verge­sell­schaftet. Sie müssen sich ein- und unter­ordnen und werden mit Wider­sprü­chen konfron­tiert. Tenden­ziell ist Fremd­heits­mi­ni­mie­rung die Kehr­seite der Anpas­sungs­ma­xi­mie­rung: «Ist Heimat infol­ge­dessen der Bezirk, wo wir durch unbe­wusste Anpas­sung (oft bis zum Selbst­ver­lust in frühen Jahren) zur Illu­sion gelangen, hier sei die Welt nicht fremd, so ist Heimat ein Problem der Iden­tität, d.h. ein Dilemma zwischen Fremd­heit im Bezirk, dem wir zuge­boren sind, oder Selbst­ent­frem­dung durch Anpassung.»

Dieses Span­nungs­feld löst nun einen kompen­sa­to­ri­schen Mecha­nismus aus: «Je weniger ich, infolge Anpas­sung an den Bezirk, jemals zur Erfah­rung gelange, wer ich bin, um so öfter werde ich sagen: ICH ALS SCHWEIZER, WIR ALS SCHWEIZER; umso bedürf­tiger bin ich, als rechter Schweizer im Sinne der Mehr­heit zu gelten. Iden­ti­fi­ka­tion mit einer Mehr­heit, die aus Ange­passten besteht, als Kompen­sa­tion für die versäumte oder durch gesell­schaft­li­chen Zwang verhin­derte Iden­tität der Person mit sich selbst, das liegt jedem Chau­vi­nismus zugrunde.»

Szene aus „Die Schwei­zer­ma­cher“; Quelle: youtube.com

So rabiat sich diese chau­vi­nis­ti­sche Haltung äussert, so sehr ist sie im Kern das Produkt von Verun­si­che­rung und Verlust­angst: «Chau­vi­nismus ist das Gegen­teil von Selbst­be­wusst­sein. Der primi­tive Ausdruck solcher Angst, man könnte im eigenen Nest der Fremde sein, ist die Xeno­phobie.» Aus dieser Sicht kann es keine unschul­digen Heimat­ge­fühle geben. Und wer «Heimat» an Natio­nal­staaten koppelt, gerät unter Beweis­pflicht. Frisch entwi­ckelt ein syste­ma­ti­sches Senso­rium für jene mäch­tigen Inter­essen, die Vorteile aus dieser Verbin­dung ziehen. Nur allzu rasch entpuppen sich die grossen Erzäh­lungen von der schönen Heimat in einem kleinen Staat als bürger­liche Ideo­logie in einer «Epoche der Herr­schaft multi­na­tio­naler Konzerne» (so Max Frisch im Wortlaut).

Die Inter­ven­tionen von Fried­rich Dürren­matt und Max Frisch sind längst histo­risch geworden und müssen im Kontext des Kalten Krieges der 1960er und 70er Jahre analy­siert werden. Doch noch immer lässt sich aus ihnen die Einsicht gewinnen, dass, «wer Heimat sagt», «mehr auf sich (nimmt)» als die schlichte Vorstel­lung, dass Menschen doch so gerne spüren wollen, wo sie und alle anderen ein für alle Mal hinge­hören. Dieses «Mehr», das Frisch einge­for­dert hat, ist in heutigen Debatten kaum mehr da. Der Ruf nach Heimat ist auf eine eindi­men­sio­nale Ordnungs­be­haup­tung geschrumpft, die, wie schon in der Vergan­gen­heit, auch künftig zwischen schreck­li­cher Lange­weile und erschre­ckender Gewalt oszil­lieren wird.