
Maiensässe mit Ruhe, Aussicht, Besonnung und direktem Anschluss an die Skipiste stehen derzeit hoch im Kurs. Regelmässig gerät die touristische Umnutzung von Alphütten und Bergscheunen indes auch in die Kritik. Meist geht es nicht nur um Verstösse gegen das Baurecht oder die Umgehung von Zweitwohnungsquoten, sondern auch um die Frage, inwiefern sie vereinbar ist mit dem Interesse, das „kulturelle Erbe“ des alpinen Raums zu wahren und weiterzuentwickeln. Wie aber ist dieses Erbe zu fassen und was würde es in die Gegenwart hinüberzuretten geben? Eine Antwort der Gegenwart dokumentiert sich in der eingespielten Praxis des sanften Tourismus und der Musealisierung. Sie besteht darin, die Funktion bestehender Bauten durch Umnutzung im Inneren zu ändern, die äussere Form aber – das optisch an die Vergangenheit erinnernde Bild – zu erhalten.
Als der Filmer Fredi M. Murer in den 1970er Jahre ähnliche Fragen stellte, kam er zu anderen Antworten und Ansichten. Sein Dokumentarfilm Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind von 1974 folgt dem bäuerlichen Alltag im Kanton Uri und erhebt die gelebte Kultur – die Formen des Zusammenlebens und der in Liedern und Ritualen aufscheinende Gemeinsinn – in den Rang eines bewahrenswerten Erbes. In drei Sätzen entfaltet der noch immer äusserst sehenswerte Film das Bild des entbehrungsreichen und von harter Arbeit geprägten Lebens der Bergbevölkerung, das durch den Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter und die herbe Natur bestimmt wird.
Von Alaska nach Uri

Die Filmequipe unterwegs im Schächental (von links): Iwan Schumacher, Fredi M. Murer und Benjamin Lehmann; Quelle: fredi-murer.ch
Fast vier Jahre lang näherte sich Murer seinen Darsteller:innen, zunächst nur mit einem Tonband, später auch mit der Kamera ausgestattet, um sie – unter Verzicht auf eine Kommentarstimme aus dem Off – selbst zum Sprechen zu bringen und sie ihre Weltsicht und ihre Probleme darstellen zu lassen. Ohne je in die Totale zu gehen, folgt die Kamera den Protagonist:innen auf Augenhöhe durch ihren Alltag, in dem Gewohnheiten und Bräuche auf eine archaische Tiefenkultur durchblicken lassen.
Nichts im experimentell-subversiven Frühwerk von Fredi M. Murer hätte indes darauf hingedeutet, dass er sich dann als Dreissigjähriger den Bergbauern der Innerschweiz zuwenden würde. In Altdorf im Kanton Uri aufgewachsen, war er einer drohenden Herrenschneiderlehre mit 15 Jahren nach Zürich an die Kunstgewerbeschule entflohen und absolvierte dort die Fotofachklasse. Nach ersten Schritten als Filmemacher und Porträtist der jugendbewegten Subkultur Zürichs siedelte er nach London über, wo ihn 1970, mitten in den Vorbereitungen zu einer Dokumentation über eine Inuit-Siedlung in Alaska, die Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte. Im Bergdorf Bristen, wohin er zur Beerdigung reiste, stand Murer unerwartet einer exotischen Welt gegenüber. Unter den Trauergästen waren viele Bergbauern, die aus einer gleichsam vorindustriellen Lebenswelt zu stammen und nach Regeln zu leben schienen, die der westlichen Rationalität im strengen Sinne nicht entsprachen. Der Landarzt von Silenen, mit dem sich Murer austauchte, schenkte dem Filmemacher zum Abschied das Buch Goldenener Ring über Uri des Erstfelder Bergarztes Eduard Renner. 1941 hatte dieser eine Sammlung von Urner Sagen und Legenden herausgegeben, die das magische Weltbild im alpinen Raum und die Verwurzelung der Bergler:innen in ihrer Sagenwelt eindrücklich beschreibt. Zurück in London vertiefte sich Murer staunend in das Buch. Die geplante Expedition nach Alaska fiel ins Wasser.
Gegen die Bilderwelt des Kalten Kriegs
„Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!“ verlangten die Zürcher Jugend-Bewegten der achtziger Jahre. Mit absichtlich grotesken Parolen wie dieser machten sie damals auf sich und ihre Forderungen nach mehr kulturellen Freiräumen aufmerksam. Die Gleichsetzung der Alpen mit Enge, Rückständigkeit und Denkblockaden hat eine Geschichte, die in die 1960er Jahre zurückreicht. In ikonoklastischer Absicht wandten sich linke Intellektuelle, Kulturschaffende und auch der Neue Film damals gegen die Bilderwelten der Geistigen Landesverteidigung mit ihren Alpen-Mythen und Réduit-Gesinnung, die beide aus den 1930ern beziehungsweise den Kriegsjahren in die Nachkriegszeit hinein verlängert worden waren. Auch Fredi M. Murer kratzte am ideologischen Lack der Réduit-Schweiz und wollte dieser eine andere Schweiz gleichsam von unten entgegensetzen.

Quelle: fredi-murer.ch
Als er 1972 erneut in den Kanton Uri aufbrach, weil er sich entschieden hatte, einen Dokumentarfilm über das Weltbild und das Alltagsleben der „Bergler“ zu drehen, folgte er jedoch zunächst einem ethnologisch-volkskundlichen Skript. Sein Film war eine „Notfilmung“, die eine von der Industriegesellschaft zum Sterben verurteilte Lebenswelt kurz vor ihrem Verschwinden festzuhalten suchte. Das Versinken des Dorfes Göschenenalp in den Fluten eines 1960 fertig gestellten Stausees ist im Film ein Sinnbild für die Gefährdung einer ganzen Kultur, die durch Zivilisation und Hochtechnologie vom Untergang bedroht wird. Natürlich wollte Murer auch einen politischen Film drehen, der sich einmischte in die Ikonografie des Kalten Kriegs und deren Vereinnahmung der alpinen Kultur für patriotische Zwecke, indem er diese Bilder mit dem modernen Alltag von Autoverkehr, Strassentunneln und Stauwerken konfrontierte.
Die von Murer porträtierte Welt war gerade nicht jene beschaulich-stabile Idylle, welche die Filmtradition der Geistigen Landesverteidigung vom „Bauernstand“ entworfen hatte, sondern war hochgradig mobil und dynamisch, gerade auch weil sie einem archaischen Zeit- und Sinnregime folgte, das zum Takt der modernen Maschinen einen Gegensatz markierte. Ihre Protagonist:innen waren jedenfalls keine Modernisierungsgewinner. Nur wenige Kilometer von den Städten entfernt, erinnerte ihr Alltag mehr an Dritte Welt und vorindustrielle Armut. Und doch blieb Murer nicht beim soziologischen Thesenfilm stehen, wie ihn beispielsweise Kurt Gloor vorgelegt hatte. Dessen Dokumentarfilm Die Landschaftsgärtner von 1969 spielt zwar ebenfalls in den Urner Bergen und kritisiert die staatliche Bevormundung der Bergbauern, erteilt aber keinem der scheinbar sprachlosen Menschen jemals das Wort – das Sprechen übernimmt eine Kommentar-Stimme aus dem Off. Murer war von diesen autoritären und überheblichen Methoden seines Kollegen schockiert und zugleich bestärkt im Entschluss, selbst einen Film auf Augenhöhe mit den Berglern und nicht von oben herab über sie drehen zu wollen.
Der goldene Ring
Murers Urner Bergfilm, der nach eigener Ansage die „Probleme eines innerschweizerischen Entwicklungsgebietes“ zur Darstellung bringen wollte, ging von den Selbstdarstellungen und Selbsterklärungen der Portraitierten aus und orientierte sich an ihrer mündlichen Kultur der Sagen, Lieder und Mythen. Wie Murer im Rückblick betonte, hatte ihn Eduard Renners Sagenbuch die Augen geöffnet für das elementar Menschliche der Bergler, die ihm früher so exotisch und irrational vorgekommen waren wie Inuits und Indianer. Dank Renner sah Murer Zusammenhänge zwischen der magisch ausgetragenen Existenznot im naturgewaltigen Hochgebirge und der weiterhin bestehenden Existenzangst in den anonymen Weltstädten der Moderne.
Natürlich stand dieses Sensorium nicht allein im Raum und war filmisch etwa in Italien, bei Ermanno Olmi oder Pier Paolo Pasolini, ausgeprägter fassbar als in der Schweiz. Als Teil dieser Strömung folgte Murer seinem Gegenstand ebenfalls nicht einfach ideologiekritisch. Sein Anliegen erschöpfte sich nicht darin, die armselige Realität hinter den Mythen zu enthüllen und Letztere zu zertrümmern. Vielmehr war sein Film – neben vielem anderen – auch eine Suche nach den verwischten Spuren eines alten Wissens und nach einer elementaren Tradition des Gemeinschaftlichen. Durch den schmalen Spalt des Alltags hindurch lässt Murer die Zuschauer:innen in die urzeitliche Tiefenschicht eines magisch-existentiell anmutenden Weltbildes blicken. Grösstenteils schon zugeschüttet vom Wirtschafts- und Wertewandel der Moderne, zeigt der Film, wie ein vor Zeiten massgebender Lebenszusammenhang – der „Ring“ nämlich – im Alltag zuweilen mit lyrischer Kraft hervortritt: bei der Pflege des Viehs, bei der Vereidigung der Alphirten im Rathaus von Altdorf oder in der wahrscheinlich schönsten Szene des Films, beim Alpsegen während des Einnachtens auf der höchsten Staffel. Zur gleichen Zeit, da die Mutter in der Hütte die Kinder zu Bett bringt, ruft draussen der Vater den Schutz des Allmächtigen und seiner Heiligen an: „Hier auf dieser Alp ist ein goldener Ring.“
In den Relikten und Fragmenten dieser schwindenden Lebenswelt liess Murer, verkörpert durch den „Ring“, das utopische Element eines urzeitlichen Gemeinschaftssinns aufblitzen, dessen Geist er in die Gegenwart hinüberretten wollte. Es ist dieses ambivalente Erbe, dessen Wahrung und Weiterentwicklung Murer interessierte und welches er auch in den zwei weiteren Filmen seiner Berg-Trilogie aufgriff. Im Spielfilm „Höhenfeuer“ von 1985 unter ebenso klaustrophobischen wie existentiellen Vorzeichen, im Interventionsfilm „Der Grüne Berg“ von 1990 dann jedoch hoffnungsvoll: Der „goldene Ring“ als Symbol und Beschwörung von Solidarität und ursprünglichem Gemeinsinn auf einer gefährdeten, aber immer noch tauglichen Grundlage.