Die Alpen haben Konjunktur. Corona hat das Interesse an Immobilien in den Bergen nochmals steigen lassen. Da ist es aufschlussreich, mit Fredi M. Murer zurückzublicken in die Bergwelt der 1970er Jahre, als er diese unter anderem Vorzeichen neu entdeckte.

Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Der goldene Ring. Warum Fredi M. Murer in die Urner Berg­welt aufbrach
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Maien­sässe mit Ruhe, Aussicht, Beson­nung und direktem Anschluss an die Skipiste stehen derzeit hoch im Kurs. Regel­mässig gerät die touris­ti­sche Umnut­zung von Alphütten und Berg­scheunen indes auch in die Kritik. Meist geht es nicht nur um Verstösse gegen das Baurecht oder die Umge­hung von Zweit­woh­nungs­quoten, sondern auch um die Frage, inwie­fern sie vereinbar ist mit dem Inter­esse, das „kultu­relle Erbe“ des alpinen Raums zu wahren und weiter­zu­ent­wi­ckeln. Wie aber ist dieses Erbe zu fassen und was würde es in die Gegen­wart hinüber­zu­retten geben? Eine Antwort der Gegen­wart doku­men­tiert sich in der einge­spielten Praxis des sanften Tourismus und der Musea­li­sie­rung. Sie besteht darin, die Funk­tion bestehender Bauten durch Umnut­zung im Inneren zu ändern, die äussere Form aber – das optisch an die Vergan­gen­heit erin­nernde Bild – zu erhalten.

Als der Filmer Fredi M. Murer in den 1970er Jahre ähnliche Fragen stellte, kam er zu anderen Antworten und Ansichten. Sein Doku­men­tar­film Wir Bergler in den Bergen sind eigent­lich nicht schuld, dass wir da sind von 1974 folgt dem bäuer­li­chen Alltag im Kanton Uri und erhebt die gelebte Kultur – die Formen des Zusam­men­le­bens und der in Liedern und Ritualen aufschei­nende Gemein­sinn – in den Rang eines bewah­rens­werten Erbes. In drei Sätzen entfaltet der noch immer äusserst sehens­werte Film das Bild des entbeh­rungs­rei­chen und von harter Arbeit geprägten Lebens der Berg­be­völ­ke­rung, das durch den Wechsel der Jahres­zeiten, das Wetter und die herbe Natur bestimmt wird.

Von Alaska nach Uri

Die Film­e­quipe unter­wegs im Schä­chental (von links): Iwan Schu­ma­cher, Fredi M. Murer und Benjamin Lehmann; Quelle: fredi-murer.ch

Fast vier Jahre lang näherte sich Murer seinen Darsteller:innen, zunächst nur mit einem Tonband, später auch mit der Kamera ausge­stattet, um sie – unter Verzicht auf eine Kommen­tar­stimme aus dem Off – selbst zum Spre­chen zu bringen und sie ihre Welt­sicht und ihre Probleme darstellen zu lassen. Ohne je in die Totale zu gehen, folgt die Kamera den Protagonist:innen auf Augen­höhe durch ihren Alltag, in dem Gewohn­heiten und Bräuche auf eine archai­sche Tief­en­kultur durch­bli­cken lassen.

Nichts im experimentell-subversiven Früh­werk von Fredi M. Murer hätte indes darauf hinge­deutet, dass er sich dann als Dreis­sig­jäh­riger den Berg­bauern der Inner­schweiz zuwenden würde. In Altdorf im Kanton Uri aufge­wachsen, war er einer drohenden Herren­schnei­der­lehre mit 15 Jahren nach Zürich an die Kunst­ge­wer­be­schule entflohen und absol­vierte dort die Foto­fach­klasse. Nach ersten Schritten als Filme­ma­cher und Porträ­tist der jugend­be­wegten Subkultur Zürichs siedelte er nach London über, wo ihn 1970, mitten in den Vorbe­rei­tungen zu einer Doku­men­ta­tion über eine Inuit-Siedlung in Alaska, die Nach­richt vom Tod seines Vaters erreichte. Im Berg­dorf Bristen, wohin er zur Beer­di­gung reiste, stand Murer uner­wartet einer exoti­schen Welt gegen­über. Unter den Trau­er­gästen waren viele Berg­bauern, die aus einer gleichsam vorin­dus­tri­ellen Lebens­welt zu stammen und nach Regeln zu leben schienen, die der west­li­chen Ratio­na­lität im strengen Sinne nicht entspra­chen. Der Land­arzt von Silenen, mit dem sich Murer austauchte, schenkte dem Filme­ma­cher zum Abschied das Buch Golde­nener Ring über Uri des Erst­felder Berg­arztes Eduard Renner. 1941 hatte dieser eine Samm­lung von Urner Sagen und Legenden heraus­ge­geben, die das magi­sche Welt­bild im alpinen Raum und die Verwur­ze­lung der Bergler:innen in ihrer Sagen­welt eindrück­lich beschreibt. Zurück in London vertiefte sich Murer stau­nend in das Buch. Die geplante Expe­di­tion nach Alaska fiel ins Wasser.

Gegen die Bilder­welt des Kalten Kriegs

„Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittel­meer!“ verlangten die Zürcher Jugend-Bewegten der acht­ziger Jahre. Mit absicht­lich grotesken Parolen wie dieser machten sie damals auf sich und ihre Forde­rungen nach mehr kultu­rellen Frei­räumen aufmerksam. Die Gleich­set­zung der Alpen mit Enge, Rück­stän­dig­keit und Denk­blo­ckaden hat eine Geschichte, die in die 1960er Jahre zurück­reicht. In ikono­klas­ti­scher Absicht wandten sich linke Intel­lek­tu­elle, Kultur­schaf­fende und auch der Neue Film damals gegen die Bilder­welten der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung mit ihren Alpen-Mythen und Réduit-Gesinnung, die beide aus den 1930ern bezie­hungs­weise den Kriegs­jahren in die Nach­kriegs­zeit hinein verlän­gert worden waren. Auch Fredi M. Murer kratzte am ideo­lo­gi­schen Lack der Réduit-Schweiz und wollte dieser eine andere Schweiz gleichsam von unten entgegensetzen.

Quelle: fredi-murer.ch

Als er 1972 erneut in den Kanton Uri aufbrach, weil er sich entschieden hatte, einen Doku­men­tar­film über das Welt­bild und das Alltags­leben der „Bergler“ zu drehen, folgte er jedoch zunächst einem ethnologisch-volkskundlichen Skript. Sein Film war eine „Notfil­mung“, die eine von der Indus­trie­ge­sell­schaft zum Sterben verur­teilte Lebens­welt kurz vor ihrem Verschwinden fest­zu­halten suchte. Das Versinken des Dorfes Gösche­nenalp in den Fluten eines 1960 fertig gestellten Stau­sees ist im Film ein Sinn­bild für die Gefähr­dung einer ganzen Kultur, die durch Zivi­li­sa­tion und Hoch­tech­no­logie vom Unter­gang bedroht wird. Natür­lich wollte Murer auch einen poli­ti­schen Film drehen, der sich einmischte in die Ikono­grafie des Kalten Kriegs und deren Verein­nah­mung der alpinen Kultur für patrio­ti­sche Zwecke, indem er diese Bilder mit dem modernen Alltag von Auto­ver­kehr, Stras­sen­tun­neln und Stau­werken konfrontierte.

Die von Murer porträ­tierte Welt war gerade nicht jene beschaulich-stabile Idylle, welche die Film­tra­di­tion der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung vom „Bauern­stand“ entworfen hatte, sondern war hoch­gradig mobil und dyna­misch, gerade auch weil sie einem archai­schen Zeit- und Sinn­re­gime folgte, das zum Takt der modernen Maschinen einen Gegen­satz markierte. Ihre Protagonist:innen waren jeden­falls keine Moder­ni­sie­rungs­ge­winner. Nur wenige Kilo­meter von den Städten entfernt, erin­nerte ihr Alltag mehr an Dritte Welt und vorin­dus­tri­elle Armut. Und doch blieb Murer nicht beim sozio­lo­gi­schen Thesen­film stehen, wie ihn beispiels­weise Kurt Gloor vorge­legt hatte. Dessen Doku­men­tar­film Die Land­schafts­gärtner von 1969 spielt zwar eben­falls in den Urner Bergen und kriti­siert die staat­liche Bevor­mun­dung der Berg­bauern, erteilt aber keinem der scheinbar sprach­losen Menschen jemals das Wort –  das Spre­chen über­nimmt eine Kommentar-Stimme aus dem Off. Murer war von diesen auto­ri­tären und über­heb­li­chen Methoden seines Kollegen scho­ckiert und zugleich bestärkt im Entschluss, selbst einen Film auf Augen­höhe mit den Berg­lern und nicht von oben herab über sie drehen zu wollen.

Der goldene Ring

Murers Urner Berg­film, der nach eigener Ansage die „Probleme eines inner­schwei­ze­ri­schen Entwick­lungs­ge­bietes“ zur Darstel­lung bringen wollte, ging von den Selbst­dar­stel­lungen und Selbst­er­klä­rungen der Portrai­tierten aus und orien­tierte sich an ihrer münd­li­chen Kultur der Sagen, Lieder und Mythen. Wie Murer im Rück­blick betonte, hatte ihn Eduard Renners Sagen­buch die Augen geöffnet für das elementar Mensch­liche der Bergler, die ihm früher so exotisch und irra­tional vorge­kommen waren wie Inuits und Indianer. Dank Renner sah Murer Zusam­men­hänge zwischen der magisch ausge­tra­genen Exis­tenznot im natur­ge­wal­tigen Hoch­ge­birge und der weiterhin bestehenden Exis­tenz­angst in den anonymen Welt­städten der Moderne.

Natür­lich stand dieses Senso­rium nicht allein im Raum und war filmisch etwa in Italien, bei Ermanno Olmi oder Pier Paolo Paso­lini, ausge­prägter fassbar als in der Schweiz. Als Teil dieser Strö­mung folgte Murer seinem Gegen­stand eben­falls nicht einfach ideo­lo­gie­kri­tisch. Sein Anliegen erschöpfte sich nicht darin, die armse­lige Realität hinter den Mythen zu enthüllen und Letz­tere zu zertrüm­mern. Viel­mehr war sein Film – neben vielem anderen – auch eine Suche nach den verwischten Spuren eines alten Wissens und nach einer elemen­taren Tradi­tion des Gemein­schaft­li­chen. Durch den schmalen Spalt des Alltags hindurch lässt Murer die Zuschauer:innen in die urzeit­liche Tiefen­schicht eines magisch-existentiell anmu­tenden Welt­bildes blicken. Gröss­ten­teils schon zuge­schüttet vom Wirtschafts- und Werte­wandel der Moderne, zeigt der Film, wie ein vor Zeiten mass­ge­bender Lebens­zu­sam­men­hang – der „Ring“ nämlich – im Alltag zuweilen mit lyri­scher Kraft hervor­tritt: bei der Pflege des Viehs, bei der Verei­di­gung der Alphirten im Rathaus von Altdorf oder in der wahr­schein­lich schönsten Szene des Films, beim Alpsegen während des Einnach­tens auf der höchsten Staffel. Zur glei­chen Zeit, da die Mutter in der Hütte die Kinder zu Bett bringt, ruft draussen der Vater den Schutz des Allmäch­tigen und seiner Heiligen an: „Hier auf dieser Alp ist ein goldener Ring.“

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In den Relikten und Frag­menten dieser schwin­denden Lebens­welt liess Murer, verkör­pert durch den „Ring“, das utopi­sche Element eines urzeit­li­chen Gemein­schafts­sinns aufblitzen, dessen Geist er in die Gegen­wart hinüber­retten wollte. Es ist dieses ambi­va­lente Erbe, dessen Wahrung und Weiter­ent­wick­lung Murer inter­es­sierte und welches er auch in den zwei weiteren Filmen seiner Berg-Trilogie aufgriff. Im Spiel­film „Höhen­feuer“ von 1985 unter ebenso klaus­tro­pho­bi­schen wie exis­ten­ti­ellen Vorzei­chen, im Inter­ven­ti­ons­film „Der Grüne Berg“ von 1990 dann jedoch hoff­nungs­voll: Der „goldene Ring“ als Symbol und Beschwö­rung von Soli­da­rität und ursprüng­li­chem Gemein­sinn auf einer gefähr­deten, aber immer noch taug­li­chen Grundlage.

Fredi M. Murer: Die Berg-Trilogie, Trigon-Film: 2015 (DVD-Box mit den Filmen „Wir Bergler in den Bergen sind eigent­lich nicht schuld, dass wir da sind“, „Höhen­feuer“, „Der grüne Berg“ und ein Begleitbuch).