Der Roman "Identitti" von Mithu Sanyal ist eine ironische Reflexion über ein in die Jahre gekommenes Zauberwort – und Grund zum Nachdenken über akademische Autoritäten, intellektuelle Spielregeln und die Halbwertszeit von Theorien.

  • Valentin Groebner

    Valentin Groebner lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Im März 2023 erscheint sein neues Buch zum Thema: "Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen" bei Wallstein / konstanz university press.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Der Glamour der Identität
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Wie etwas auf einen gewirkt hat, weiss man erst, wenn es wieder weg ist. Für Vorbilder und Liebes­ob­jekte gilt das ebenso wie für theo­re­ti­sche Gewiss­heiten und ihre Zauber­worte. Was ist passiert seit 1995, als Anthony Appiah und Henry Louis Gates den Sammel­band „Iden­ti­ties“ heraus­brachten, dem sofort eine Fülle an Zeit­schriften, noch mehr Sammel­bänden und Sonder­for­schungs­be­rei­chen unter demselben Schlag­wort folgte?

Zauber­wort Identität

Der Begriff ist ein Stück Geschichte – und das im ganz wört­li­chen Sinn. Er stammt aus der mittel­al­ter­li­chen Logik und bedeu­tete ursprüng­lich die voll­stän­dige Über­ein­stim­mung zweier Grössen. Seine heutige Bedeu­tung, so Erich Keller, hat ihm der Sozi­al­psy­cho­loge Erik Erikson nach dem Zweiten Welt­krieg gegeben. Iden­tität, schrieb Erikson, geboren als Erich Homburger in Wien, sei subjek­tive Selbst­de­fi­ni­tion und indi­vi­du­elle Weiter­ent­wick­lung. Das war 1956: Im Amerika des Kalten Kriegs wurde Iden­tität zur Formel für persön­liche Erfül­lung und gleich­zeitig zu dem, was einen mit der eigenen sozialen Gruppe verband. Diese poli­ti­sche Iden­tität, hat Patricia Purtschert ergänzt, wurde in den 1970ern zum Verspre­chen auf neue Formen poli­ti­scher Teil­habe; zu einer kämp­fe­ri­schen Ressource, die eigene Herkunft zu vertei­digen und bewusstes poli­ti­sches Handeln zu entwi­ckeln. Alle Politik sei Iden­ti­täts­po­litik – gerade unter den düsteren Vorzei­chen einer ideo­lo­gi­schen Wende nach der Wahl von Donald Trump.

Das ist sicher richtig, denn die Beru­fung auf Iden­tität soll immer etwas repa­rieren. Das war schon 1976 so, als Daniel Cohn-Bendit in der ersten Nummer des Pflas­ter­strand auf die ange­knackste „Iden­tität“ der Linken verwies, die die neue Zeit­schrift wieder­her­stellen sollte. Und ab den späten 1990er Jahren erhofften sich poli­ti­sche Strö­mungen von ganz rechts die Repa­ratur abend­län­di­scher christ­li­cher Werte durch Wieder­be­sin­nung auf den Begriff – die „Iden­ti­tären“. Kann Iden­tität weiterhin die Zauber­formel für Selbst­fin­dung und enga­gierte Wissen­schaft sein, wie 1956 und 1995, oder kommen auch Theo­rie­be­griffe ins Renten­alter? Nach seinem Sammel­band „Iden­ti­ties“ von 1995 hat Kwame Anthony Appiah 2019 ein Buch heraus­ge­bracht, das von seinem deut­schen Verlag flott denselben Titel bekam: „Iden­ti­täten – die Fiktionen der Zuge­hö­rig­keit“. Im engli­schen Original lautet er etwas anders: „The Lies that Bind“. 

Mithu Sanyal ist deut­lich jünger als ihr Zauber­wort: 1971 geboren, Kultur­wis­sen­schaft­lerin, Jour­na­listin, Kriti­kerin. Sie hat Bücher über die Geschichte der Vulva und über Verge­wal­ti­gung geschrieben. Und jetzt einen gelehrten Roman, der die Iden­tität leicht verfremdet im Titel trägt. Er handelt von ihrem akade­mi­schen Glamour und von post­ko­lo­nialer Theorie. Die studiert Sanyals Alter Ego-Erzählerin Nive­dita an der Uni Düssel­dorf. Als ihr leuch­tendes Vorbild, die charis­ma­ti­sche person of colour-Profes­sorin Saras­vati, als weisse deut­sche Sarah Vera Thiel­mann enttarnt wird, wird die wort­ge­wal­tige Blog­gerin zur verun­si­cherten Detek­tivin. Was ist Saras­vatis wahre Iden­tität, und wo ist sie zu finden?

„Iden­titti“ präsen­tiert sich als selbst­iro­ni­sches femi­nis­ti­sches Märchen, in dem die Göttinnen immer nur in der weib­li­chen Mehr­zahl­form erscheinen und Narzissten ausschliess­lich in der männ­li­chen. Gleich­zeitig ist es präzise Milieu­studie. Schon deswegen lohnt es sich, als männ­li­cher weisser Professor ein Buch zu lesen, in dem es um die Rechte und Kämpfe weib­li­cher persons of colour geht. Sanyal beschreibt berü­ckend (und bedrü­ckend) genau die rheto­ri­schen Tricks auf dem Planeten Akademia; von der unbe­ant­wort­baren Gegen­frage über das zyni­sche „You tell me“ bis zur erha­benen Technik des Spre­chens mit der Stimme der armen Unter­drückten und der allwis­senden, aber abwe­senden Theo­re­tiker gleich­zeitig: Denn wer gleich­zeitig im Namen der Unter­drückten und der coolen Theo­re­ti­ke­rinnen spricht, so wissen wir aus unseren eigenen Semi­naren, der kann sich gar nicht irren.

Werbung im Hühnerhof

Der Gestus des „Lies doch erst einmal diesen Text“ und „Arbeite diese Begriffs­de­fi­ni­tion durch, erst dann reden wir weiter“ wird dabei immer wieder vorge­führt, bis er so uner­träg­lich wird wie in der univer­si­tären Wirk­lich­keit auch. Ebenso genau beschrieben wird die Allmachts­fan­tasie von Univer­si­täts­leh­rern, dass alle ihre Zuhö­re­rinnen und Zuhörer auf der Stelle bessere und wahr­haf­ti­gere Menschen würden, soli­da­ri­scher und liebes­fä­higer, wenn sie nur das tun, was die akade­mi­sche Auto­rität ihnen vorsagt.

Denn der enga­gierte Wissen­schafts­be­trieb, auch das beschreibt Mithu Sanyal, nimmt trotz grosser Begriffe und noch grös­serer Ziele meist die Sozi­al­form des über­sicht­li­chen Hühner­hofs an. Zwischen den Protagonist:innen herr­schen Konkur­renz („Schreibt sie das erfolg­reiche Buch oder ich?“), kolle­giale Zuwen­dung im Reso­nanz­raum („Kommst Du zu meinem Vortrag?“) und mora­li­scher Wett­be­werb („Ich bin soli­da­ri­scher mit den Unter­drückten der Welt als Du“). Mit Twitter und Face­book lässt sich die eigene Publi­kums­wir­kung dabei digital verviel­fa­chen. Demons­tra­tiver Theo­rie­ge­brauch durch Zitate, ausführ­lich und mit Namens­an­gabe und Ausru­fe­zei­chen, ist dabei gleich­zeitig Anru­fung mäch­tiger Schutz­gott­heiten und Selbst­aus­zeich­nung, Werbung für die eigene Bril­lanz mit den Worten abwe­sender grosser Anderer und Reklame für die eigene Besonderheit. 

An dieser Stelle berühren sich der Gebrauch akade­mi­scher Gross­theorie und die Praxis der Werbung: Wieder­ho­lung des Vertrauten als Argu­ment für die eigene Unver­wech­sel­bar­keit. Die Werber haben zu dem wissen­schaft­li­chen Zauber­wort schon länger ein inten­sives Verhältnis. Eine Marke­ting­agentur im Zürcher Nieder­dorf infor­mierte Passanten 2009 auf einem Schild aus teuer poliertem Metall, man entwi­ckele und pflege hier „die Iden­tität von Marken“. Bei mir in Luzern um die Ecke verspricht ein ähnli­ches Schild Werbe­dienst­leis­tungen von höchster Effi­zienz in den Berei­chen „Print“, „Internet“ und „Iden­tität“. 65 Jahre nach seiner ersten Verwen­dung durch Erik Erikson bedeutet das Zauber­wort heute vor allem eines, nämlich Selbstvermarktung.

Subal­ter­nität als Konzept des Herzens

Die radi­kale Theorie der 1980er und 1990er Jahre hat mitt­ler­weile ohnehin das Renten­alter erreicht. Stuart Hall ist 1932 geboren, Gayartri Spivak 1942, bell hooks 1952, Kwame Anthony Appiah 1954. Durch inten­sive Benut­zung wurden ihre Texte zuerst allge­gen­wärtig, dann ausge­franst und – Mithu Sanyal beschreibt auch das unbarm­herzig – ausgeb­li­chen. Wie Lieblings-T-Shirts, Fahnen, Abzei­chen und coole Kampf­an­züge, denn als all das wurden sie ja benutzt: Vorge­zeigt, hoch­ge­halten als das, was einen selbst ausmache und wofür man stehe, Theorie als Iden­ti­täts­po­litik. Wer Iden­tität sagt, spricht im Namen des Rich­tigen. Mit einer Iden­tität aus der Theorie der Iden­ti­täten kann man also gar nicht falsch liegen.

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Figur der Göttin Kali, die über den liegenden Siva schreitet; Bengalen, spätes 19. Jh.; Quelle: British Museum

„In letzter Instanz“ über­legt Sanyals Ich-Erzählerin deshalb, „schien Subal­ter­nität ein Konzept des Herzens zu sein – wie das Gute oder der reine Verstand -, das sich auflöste, wenn man sich ihm zu sehr näherte, das aus der Entfer­nung aber wie ein Leucht­turm wirkte.“ Sie sei, erklärt eine andere Prot­ago­nistin des Romans, zu klug, zu dünn und zu dunkel für ein anstän­diges indi­sches Mädchen. Nur ist das ein Zitat, von Arund­hati Roy. „Denkt irgend jemand noch origi­näre Gedanken? Oder zitierten wir uns nur alle gegen­seitig in einem Spie­gel­ka­bi­nett von Iden­ti­täten, aus dem es kein Entrinnen gibt?“ beschwert sich die Ich-Erzählerin bei ihrem Alter Ego, der Göttin Kali. Die bemerkt nur unge­rührt: „Stehle immer bei den besten.“

Mithu Sanyals Analyse von akade­mi­schem Charisma ist detail­reich, warm­herzig und gleich­zeitig sagen­haft deutsch in seiner ausschliess­li­chen Fixie­rung auf jene univer­salen Wahr­heiten, die offenbar nur in London, Oxbridge und Harvard formu­liert werden können. Und nur auf Englisch: in der Sprache der ökono­misch erfolg­reichsten Versklavungs- und Kolo­ni­al­sys­teme in der Geschichte des Planeten.

Only English

Diesen akade­mi­schen Glamour beschreibt „Iden­titti“. Die berühmte Profes­sorin im Zentrum von Sanyals Roman „konnte ihren legen­dären Charme nach Belieben an- und abstellen, wobei ihr ihre eigene Gross­zü­gig­keit so impo­nierte, dass sie ihn in der Regel anliess. Wenn sie Menschen mit unge­teilter Aufmerk­sam­keit zuhörte, dann immer in dem Bewusst­sein, dass sie ihnen gerade das Geschenk ihrer kost­baren Zuwen­dung machte.“ 

Da bin ich Zeit­zeuge. Die glamou­rö­seste Person, der ich je begegnet bin, ist die Sozio­login Nilüfer Göle. Als Muslima und Femi­nistin lehrte sie gleich­zeitig an der Pariser Ecole des Hautes Etudes und in Istanbul. Wenn sie über das Kopf­tuch vortrug, zitierte sie Stuart Hall, Etienne Balibar, Mary Woll­stone­craft und Aziz Al-Azmeh und trug dabei Couture-Kostüme und Hand­schuhe, die bis zu den Ellen­bogen reichten. 1997 schien in Berlin kein deut­scher Sozio­loge zu wissen, wer sie war (oder traute sich nicht zu fragen), aber alle jungen Türkinnen in den Kreuz­berger Bars erkannten sie sofort, die mit und die ohne Kopf­tuch, und die Kühnsten kamen grossäugig an ihren Tisch. „Effe­der­siniz, abla, Sie sind Nilüfer Göle, stimmt es?“

Am 29. Juni 1997 sass sie auf dem Podium im grossen Saal des Berliner ‚Haus der Kulturen der Welt‘ Samuel Huntington gegen­über. Hunting­tons Buch über den Kampf der Kulturen als inkom­pa­tible welt­po­li­ti­sche Zuge­hö­rig­keiten war im Herbst zuvor unter maxi­malem Medi­en­trara erschienen. Vergli­chen mit Nilüfer Göle sah er aller­dings aus wie Dr. Stran­gelove aus Stanley Kubriks Film­sa­tire über den Kalten Krieg. Er redete über die globale Gefahr durch den Islam, der deut­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaftler auf dem Podium war hilflos, Nilüfer Göle voll­endet höflich und liess ihn reden. Die Zeit war schon fast vorbei, das Publikum wurde unruhig, da sagte sie plötz­lich: „One last little ques­tion, Mister Huntington?“ Er nickte. „How many languages do you speak?“ Er senkte den Kopf, räus­perte sich und sagte leise: „Only English, I have to confess, apart from a little Latin and French from College“, und die 1200 Leute im Zuschau­er­raum lachten und tram­pelten und klatschten. Sie verzog keine Miene, verbeugte sich elegant und ging. 

Die Meta­mor­phosen der Theorie

Daniele Krtsch, Solo-Project-Untitled_2011-6: Quelle: pixelle.co / danielakrtsch.com

Mithu Sanyals glamou­röse Profes­sorin nimmt am Schluss einen Ruf nach Oxford an, um einen Studi­en­gang zu „Iden­tity and Soli­da­rity“ aufzu­bauen. Und die Ich-Erzählerin ist sich plötz­lich sicher, dass die vermeint­lich vom Skandal Bedrohte die Enthül­lungen und ihre Demü­ti­gung von Beginn an geplant hatte. „Die Erre­gung, die Diskus­sionen und die Nicht-Diskussionen, all diese kosten­lose Werbung.“ Da ist sie wieder, die Werbung. 

Ein biss­chen ist es wie mit Regis Débrays Roman „Der Einzel­gänger“, der 1976 den revo­lu­tio­nären Kampf in der Dritten Welt verar­bei­tete, Bodo Mors­häu­sers „Die Berliner Simu­la­tion“ (Baudril­lard und apoka­lyp­ti­sche Medi­en­theorie, 1983), David Lodges „Small World“ (die schi­cken Gross­theo­rien der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, 1984), und 2016 „Die siebte Sprach­funk­tion“, Laurent Binets Roman über Barthes, Foucault und ihre Zeit­ge­nossen. Wenn die Theo­rien zum Mate­rial für schmis­sige Romane geworden sind, dann sind sie wirk­lich erfolg­reich – und vermut­lich auch am Ende ihrer produk­tiven Rezep­tion ange­kommen. Mit dieser amüsanten Super­ver­füg­bar­keit werden sie zum flotten und beliebig verwend­baren Etikett. Ihr ursprüng­li­ches Verspre­chen, die Wirk­lich­keit zu verän­dern, hat sich aller­dings endgültig aufge­löst – jeden­falls die ausser­halb der Masterseminare.

Das ist der Todes­kuss der Unter­hal­tungs­li­te­ratur, umso verhee­render, je unter­hal­tender der Roman ausfällt. Und „Iden­titti“ ist wirk­lich lustig – bis die Autorin am Schluss die Toten der Hanauer Auslän­der­morde vom 19. Februar 2020 auftreten lässt. Ende der Fiktion, ganz real und peini­gend, Name für Name. Gegen rechts­ra­di­kale Gewalt helfen keine Theo­rien. Und vermut­lich auch keine Iden­ti­täts­po­litik. Sondern Poli­zisten und Staats­an­wäl­tinnen, die dieje­nigen beschützen, aus deren Steu­er­gel­dern sie bezahlt werden – und zwar wirk­lich alle. Die Steuern werden ja auch ohne Ansehen von Haut­farbe, Nach­name, Herkunft und Geschlecht in Rech­nung gestellt. Soviel zu Identität.

 

Mithu Sanyal liest am 10. März aus „Iden­titti“ im Lite­ra­tur­haus Zürich