
Wie etwas auf einen gewirkt hat, weiss man erst, wenn es wieder weg ist. Für Vorbilder und Liebesobjekte gilt das ebenso wie für theoretische Gewissheiten und ihre Zauberworte. Was ist passiert seit 1995, als Anthony Appiah und Henry Louis Gates den Sammelband „Identities“ herausbrachten, dem sofort eine Fülle an Zeitschriften, noch mehr Sammelbänden und Sonderforschungsbereichen unter demselben Schlagwort folgte?
Zauberwort Identität
Der Begriff ist ein Stück Geschichte – und das im ganz wörtlichen Sinn. Er stammt aus der mittelalterlichen Logik und bedeutete ursprünglich die vollständige Übereinstimmung zweier Grössen. Seine heutige Bedeutung, so Erich Keller, hat ihm der Sozialpsychologe Erik Erikson nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Identität, schrieb Erikson, geboren als Erich Homburger in Wien, sei subjektive Selbstdefinition und individuelle Weiterentwicklung. Das war 1956: Im Amerika des Kalten Kriegs wurde Identität zur Formel für persönliche Erfüllung und gleichzeitig zu dem, was einen mit der eigenen sozialen Gruppe verband. Diese politische Identität, hat Patricia Purtschert ergänzt, wurde in den 1970ern zum Versprechen auf neue Formen politischer Teilhabe; zu einer kämpferischen Ressource, die eigene Herkunft zu verteidigen und bewusstes politisches Handeln zu entwickeln. Alle Politik sei Identitätspolitik – gerade unter den düsteren Vorzeichen einer ideologischen Wende nach der Wahl von Donald Trump.
Das ist sicher richtig, denn die Berufung auf Identität soll immer etwas reparieren. Das war schon 1976 so, als Daniel Cohn-Bendit in der ersten Nummer des Pflasterstrand auf die angeknackste „Identität“ der Linken verwies, die die neue Zeitschrift wiederherstellen sollte. Und ab den späten 1990er Jahren erhofften sich politische Strömungen von ganz rechts die Reparatur abendländischer christlicher Werte durch Wiederbesinnung auf den Begriff – die „Identitären“. Kann Identität weiterhin die Zauberformel für Selbstfindung und engagierte Wissenschaft sein, wie 1956 und 1995, oder kommen auch Theoriebegriffe ins Rentenalter? Nach seinem Sammelband „Identities“ von 1995 hat Kwame Anthony Appiah 2019 ein Buch herausgebracht, das von seinem deutschen Verlag flott denselben Titel bekam: „Identitäten – die Fiktionen der Zugehörigkeit“. Im englischen Original lautet er etwas anders: „The Lies that Bind“.
Mithu Sanyal ist deutlich jünger als ihr Zauberwort: 1971 geboren, Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Kritikerin. Sie hat Bücher über die Geschichte der Vulva und über Vergewaltigung geschrieben. Und jetzt einen gelehrten Roman, der die Identität leicht verfremdet im Titel trägt. Er handelt von ihrem akademischen Glamour und von postkolonialer Theorie. Die studiert Sanyals Alter Ego-Erzählerin Nivedita an der Uni Düsseldorf. Als ihr leuchtendes Vorbild, die charismatische person of colour-Professorin Sarasvati, als weisse deutsche Sarah Vera Thielmann enttarnt wird, wird die wortgewaltige Bloggerin zur verunsicherten Detektivin. Was ist Sarasvatis wahre Identität, und wo ist sie zu finden?
„Identitti“ präsentiert sich als selbstironisches feministisches Märchen, in dem die Göttinnen immer nur in der weiblichen Mehrzahlform erscheinen und Narzissten ausschliesslich in der männlichen. Gleichzeitig ist es präzise Milieustudie. Schon deswegen lohnt es sich, als männlicher weisser Professor ein Buch zu lesen, in dem es um die Rechte und Kämpfe weiblicher persons of colour geht. Sanyal beschreibt berückend (und bedrückend) genau die rhetorischen Tricks auf dem Planeten Akademia; von der unbeantwortbaren Gegenfrage über das zynische „You tell me“ bis zur erhabenen Technik des Sprechens mit der Stimme der armen Unterdrückten und der allwissenden, aber abwesenden Theoretiker gleichzeitig: Denn wer gleichzeitig im Namen der Unterdrückten und der coolen Theoretikerinnen spricht, so wissen wir aus unseren eigenen Seminaren, der kann sich gar nicht irren.
Werbung im Hühnerhof
Der Gestus des „Lies doch erst einmal diesen Text“ und „Arbeite diese Begriffsdefinition durch, erst dann reden wir weiter“ wird dabei immer wieder vorgeführt, bis er so unerträglich wird wie in der universitären Wirklichkeit auch. Ebenso genau beschrieben wird die Allmachtsfantasie von Universitätslehrern, dass alle ihre Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Stelle bessere und wahrhaftigere Menschen würden, solidarischer und liebesfähiger, wenn sie nur das tun, was die akademische Autorität ihnen vorsagt.
Denn der engagierte Wissenschaftsbetrieb, auch das beschreibt Mithu Sanyal, nimmt trotz grosser Begriffe und noch grösserer Ziele meist die Sozialform des übersichtlichen Hühnerhofs an. Zwischen den Protagonist:innen herrschen Konkurrenz („Schreibt sie das erfolgreiche Buch oder ich?“), kollegiale Zuwendung im Resonanzraum („Kommst Du zu meinem Vortrag?“) und moralischer Wettbewerb („Ich bin solidarischer mit den Unterdrückten der Welt als Du“). Mit Twitter und Facebook lässt sich die eigene Publikumswirkung dabei digital vervielfachen. Demonstrativer Theoriegebrauch durch Zitate, ausführlich und mit Namensangabe und Ausrufezeichen, ist dabei gleichzeitig Anrufung mächtiger Schutzgottheiten und Selbstauszeichnung, Werbung für die eigene Brillanz mit den Worten abwesender grosser Anderer und Reklame für die eigene Besonderheit.
An dieser Stelle berühren sich der Gebrauch akademischer Grosstheorie und die Praxis der Werbung: Wiederholung des Vertrauten als Argument für die eigene Unverwechselbarkeit. Die Werber haben zu dem wissenschaftlichen Zauberwort schon länger ein intensives Verhältnis. Eine Marketingagentur im Zürcher Niederdorf informierte Passanten 2009 auf einem Schild aus teuer poliertem Metall, man entwickele und pflege hier „die Identität von Marken“. Bei mir in Luzern um die Ecke verspricht ein ähnliches Schild Werbedienstleistungen von höchster Effizienz in den Bereichen „Print“, „Internet“ und „Identität“. 65 Jahre nach seiner ersten Verwendung durch Erik Erikson bedeutet das Zauberwort heute vor allem eines, nämlich Selbstvermarktung.
Subalternität als Konzept des Herzens
Die radikale Theorie der 1980er und 1990er Jahre hat mittlerweile ohnehin das Rentenalter erreicht. Stuart Hall ist 1932 geboren, Gayartri Spivak 1942, bell hooks 1952, Kwame Anthony Appiah 1954. Durch intensive Benutzung wurden ihre Texte zuerst allgegenwärtig, dann ausgefranst und – Mithu Sanyal beschreibt auch das unbarmherzig – ausgeblichen. Wie Lieblings-T-Shirts, Fahnen, Abzeichen und coole Kampfanzüge, denn als all das wurden sie ja benutzt: Vorgezeigt, hochgehalten als das, was einen selbst ausmache und wofür man stehe, Theorie als Identitätspolitik. Wer Identität sagt, spricht im Namen des Richtigen. Mit einer Identität aus der Theorie der Identitäten kann man also gar nicht falsch liegen.

Figur der Göttin Kali, die über den liegenden Siva schreitet; Bengalen, spätes 19. Jh.; Quelle: British Museum
„In letzter Instanz“ überlegt Sanyals Ich-Erzählerin deshalb, „schien Subalternität ein Konzept des Herzens zu sein – wie das Gute oder der reine Verstand -, das sich auflöste, wenn man sich ihm zu sehr näherte, das aus der Entfernung aber wie ein Leuchtturm wirkte.“ Sie sei, erklärt eine andere Protagonistin des Romans, zu klug, zu dünn und zu dunkel für ein anständiges indisches Mädchen. Nur ist das ein Zitat, von Arundhati Roy. „Denkt irgend jemand noch originäre Gedanken? Oder zitierten wir uns nur alle gegenseitig in einem Spiegelkabinett von Identitäten, aus dem es kein Entrinnen gibt?“ beschwert sich die Ich-Erzählerin bei ihrem Alter Ego, der Göttin Kali. Die bemerkt nur ungerührt: „Stehle immer bei den besten.“
Mithu Sanyals Analyse von akademischem Charisma ist detailreich, warmherzig und gleichzeitig sagenhaft deutsch in seiner ausschliesslichen Fixierung auf jene universalen Wahrheiten, die offenbar nur in London, Oxbridge und Harvard formuliert werden können. Und nur auf Englisch: in der Sprache der ökonomisch erfolgreichsten Versklavungs- und Kolonialsysteme in der Geschichte des Planeten.
Only English
Diesen akademischen Glamour beschreibt „Identitti“. Die berühmte Professorin im Zentrum von Sanyals Roman „konnte ihren legendären Charme nach Belieben an- und abstellen, wobei ihr ihre eigene Grosszügigkeit so imponierte, dass sie ihn in der Regel anliess. Wenn sie Menschen mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte, dann immer in dem Bewusstsein, dass sie ihnen gerade das Geschenk ihrer kostbaren Zuwendung machte.“
Da bin ich Zeitzeuge. Die glamouröseste Person, der ich je begegnet bin, ist die Soziologin Nilüfer Göle. Als Muslima und Feministin lehrte sie gleichzeitig an der Pariser Ecole des Hautes Etudes und in Istanbul. Wenn sie über das Kopftuch vortrug, zitierte sie Stuart Hall, Etienne Balibar, Mary Wollstonecraft und Aziz Al-Azmeh und trug dabei Couture-Kostüme und Handschuhe, die bis zu den Ellenbogen reichten. 1997 schien in Berlin kein deutscher Soziologe zu wissen, wer sie war (oder traute sich nicht zu fragen), aber alle jungen Türkinnen in den Kreuzberger Bars erkannten sie sofort, die mit und die ohne Kopftuch, und die Kühnsten kamen grossäugig an ihren Tisch. „Effedersiniz, abla, Sie sind Nilüfer Göle, stimmt es?“
Am 29. Juni 1997 sass sie auf dem Podium im grossen Saal des Berliner ‚Haus der Kulturen der Welt‘ Samuel Huntington gegenüber. Huntingtons Buch über den Kampf der Kulturen als inkompatible weltpolitische Zugehörigkeiten war im Herbst zuvor unter maximalem Medientrara erschienen. Verglichen mit Nilüfer Göle sah er allerdings aus wie Dr. Strangelove aus Stanley Kubriks Filmsatire über den Kalten Krieg. Er redete über die globale Gefahr durch den Islam, der deutsche Religionswissenschaftler auf dem Podium war hilflos, Nilüfer Göle vollendet höflich und liess ihn reden. Die Zeit war schon fast vorbei, das Publikum wurde unruhig, da sagte sie plötzlich: „One last little question, Mister Huntington?“ Er nickte. „How many languages do you speak?“ Er senkte den Kopf, räusperte sich und sagte leise: „Only English, I have to confess, apart from a little Latin and French from College“, und die 1200 Leute im Zuschauerraum lachten und trampelten und klatschten. Sie verzog keine Miene, verbeugte sich elegant und ging.
Die Metamorphosen der Theorie

Daniele Krtsch, Solo-Project-Untitled_2011-6: Quelle: pixelle.co / danielakrtsch.com
Mithu Sanyals glamouröse Professorin nimmt am Schluss einen Ruf nach Oxford an, um einen Studiengang zu „Identity and Solidarity“ aufzubauen. Und die Ich-Erzählerin ist sich plötzlich sicher, dass die vermeintlich vom Skandal Bedrohte die Enthüllungen und ihre Demütigung von Beginn an geplant hatte. „Die Erregung, die Diskussionen und die Nicht-Diskussionen, all diese kostenlose Werbung.“ Da ist sie wieder, die Werbung.
Ein bisschen ist es wie mit Regis Débrays Roman „Der Einzelgänger“, der 1976 den revolutionären Kampf in der Dritten Welt verarbeitete, Bodo Morshäusers „Die Berliner Simulation“ (Baudrillard und apokalyptische Medientheorie, 1983), David Lodges „Small World“ (die schicken Grosstheorien der Literaturwissenschaft, 1984), und 2016 „Die siebte Sprachfunktion“, Laurent Binets Roman über Barthes, Foucault und ihre Zeitgenossen. Wenn die Theorien zum Material für schmissige Romane geworden sind, dann sind sie wirklich erfolgreich – und vermutlich auch am Ende ihrer produktiven Rezeption angekommen. Mit dieser amüsanten Superverfügbarkeit werden sie zum flotten und beliebig verwendbaren Etikett. Ihr ursprüngliches Versprechen, die Wirklichkeit zu verändern, hat sich allerdings endgültig aufgelöst – jedenfalls die ausserhalb der Masterseminare.
Das ist der Todeskuss der Unterhaltungsliteratur, umso verheerender, je unterhaltender der Roman ausfällt. Und „Identitti“ ist wirklich lustig – bis die Autorin am Schluss die Toten der Hanauer Ausländermorde vom 19. Februar 2020 auftreten lässt. Ende der Fiktion, ganz real und peinigend, Name für Name. Gegen rechtsradikale Gewalt helfen keine Theorien. Und vermutlich auch keine Identitätspolitik. Sondern Polizisten und Staatsanwältinnen, die diejenigen beschützen, aus deren Steuergeldern sie bezahlt werden – und zwar wirklich alle. Die Steuern werden ja auch ohne Ansehen von Hautfarbe, Nachname, Herkunft und Geschlecht in Rechnung gestellt. Soviel zu Identität.