Lichtverschmutzung in den Städten, 24 Stunden Ladenöffnungszeiten, 24 Stunden Onlinepräsenz. Es soll rund um die Uhr konsumiert werden – allein, der Schlaf mit seiner behäbigen Physiologie hindert uns daran. Die Verlockung, ihn zu überlisten, ist gross.

  • Melitta Breznik

    Melitta Breznik ist als Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und als Leitende Ärztin einer psychosomatischen Klinik in der Schweiz tätig. Ihre Prosabücher erscheinen im Luchterhandverlag München.

Wenn sie es sich aussu­chen könnten, würden viele Menschen erst um halb zehn zur Arbeit gehen, viel­leicht auch später. Denn erst abends werden sie aktiv, und es fällt ihnen dies oder jenes ein, was sich bei durch­ge­tak­teter Tages­be­las­tung einfach nicht aus den Tiefen heben lässt – oder sich gar nicht zu rühren getraut, weil der Deckel der Müdig­keit alles erdrückt. Die Nutzung des Tages­lichtes ist in den meisten Ländern der Welt keine Richt­linie mehr,  denn inzwi­schen wird bei ausrei­chend vorhan­dener Elek­tri­zität Tag und Nacht rund um den Globus gear­beitet. Diese Erzie­hung zum gestörten Schlaf beginnt früh. Wer 1980 noch als Sieb­zehn­jäh­riger am Samstag um 24 Uhr zu Hause sein musste, der sieht heute „alt“ aus, denn vor 23 Uhr beginnt am Wochen­ende keine Party, und wenn man als Jugend­li­cher unter der Woche endlich die lästigen Eltern oder die kleine Schwester los ist, kann man im Bett Face­book mit persön­li­chen Daten füttern…

James Dean, schlaflos, Foto Dennis Stock, Quelle: tumblr.com

James Dean, schlaflos, Foto Dennis Stock, Quelle: tumblr.com

Mit dem Thema des schwin­denden Schlafes in unserer Gesell­schaft beschäf­tigen sich in den letzten Jahren welt­weit zuneh­mend Wissen­schaft­le­rinnen, Jour­na­listen, Philo­so­phen und Medi­zi­ne­rinnen unter­schied­li­cher Fach­rich­tungen, um das Phänomen zu beschreiben, die Ursa­chen zu erkennen und auch die Auswir­kungen in ihrer Viel­falt zu erfassen. Teresa Brennan zum Beispiel, eine austra­li­sche Geis­tes­wis­sen­schaft­lerin, setzt sich in Globa­li­sa­tion and Its Terrors (2002) mit der Globa­li­sie­rung und ihren Schat­ten­seiten ausein­ander. Schnelle Produk­tion für schnellen Profit fordert nach Brennans Analyse ihren Tribut in Form von Umwelt­zer­stö­rung und gesund­heit­li­chen Schäden: “… the faster produc­tion is the more short-term profit it makes (and the sicker we and the world become)“; Natur und Mensch brau­chen Zeit zur Erho­lung, zur Rekrea­tion, um Neues erschaffen zu können, folgert die Autorin. Auch Jona­than Crary, Professor für Kultur und Theorie in New York, beschäf­tigt sich in 24/7, Schlaflos im Spät­ka­pi­ta­lismus (2014), mit der Viel­falt des allge­mein akzep­tierten Schlaf­ent­zugs und hat ein Pamphlet für die Rettung des Schlafes verfasst. Noch einen Schritt weiter geht die ameri­ka­ni­sche Jour­na­listin Jane Mayer in The Dark Side (2008): Sie hat die Folter­tech­niken in exter­ri­to­rialen Gefäng­nissen der USA recher­chiert und zeigt das Extrem von Schlaf­entzug als Folter auf.

Es fehlt aber auch nicht an prak­ti­schen Ratschlägen: Peter Spork, ein deut­scher Wissen­schafts­jour­na­list, fasst in Wake up (2014) die neuesten wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse zur biolo­gi­schen Rhyth­mus­for­schung zusammen und bietet prak­ti­sche Anre­gungen, wie man zu mehr und gesün­derem Schlaf kommen kann. Anna Wirz-Justice schliess­lich, emeri­tierte Profes­sorin für Chro­no­bio­logie in Basel und Vorkämp­ferin für Licht- und Wach­the­rapie (Schlaf­ent­zugs­the­rapie) im Bereich der Psych­ia­trie, disku­tiert  in Chro­no­the­ra­peu­tics for Affec­tive Disor­ders (gemeinsam mit F. Bene­detti und M. Terman, 2009)  den Einsatz von Licht und Dunkel­heit in der Behand­lung von Depressionen.

Robert de Niro, schaflos, Taxi Driver (1976)

Robert de Niro, schlaflos: „Taxi Driver“ (1976)

„Nur im Schlaf zum Kern des Lebens vordringen

Medi­ziner fassen die Anpas­sung des Menschen an den Wechsel von Tag und Nacht, von Akti­vität und Ruhe, unter dem Begriff des Biorhythmus zusammen, ein Phänomen, über das wir immer mehr wissen, das uns jedoch zuneh­mend abge­wöhnt werden soll und wird. Licht­ver­schmut­zung in den Städten, 24 Stunden Laden­öff­nungs­zeiten, 24 Stunden Online­prä­senz. Es soll rund um die Uhr konsu­miert werden – allein, der Schlaf mit seiner behä­bigen Physio­logie hindert den Menschen daran. Daher wird, in einer ansonsten eroberten Welt, auch im Schlaf wirt­schaft­li­ches Wachs­tums­po­ten­tial geortet; es gilt, die dunkle Seite des Lebens in Geld umzu­setzen. So zum Beispiel durch die Phar­ma­in­dus­trie: Einer­seits mit Schlaf­mit­teln, die immer mehr Menschen abhängig machen – in der Schweiz schlu­cken fast 10% der Bevöl­ke­rung regel­mässig und über Jahre hinweg Schlaf- und Beru­hi­gungs­mittel. Und andrer­seits: Wer nicht gut ausge­schlafen ist, kann wiederum mehr Schwung in seinem langen Arbeitstag errei­chen durch allerlei leis­tungs­stei­gernde Pillen, die verbes­serte Arbeits- und Denk­leis­tungen (neudeutsch „Neuro-Enhancement“) verspre­chen, oder durch Wach­ma­cher, wie sie in der Party­szene einge­setzt werden, um den Schlaf zu überlisten.

Brad Pitt, nachts: "Fight Club" (1999)

Brad Pitt, nachts: „Fight Club“ (1999)

Wer gerade nicht online arbeitet, kann sich die Zeit mit Compu­ter­spielen vertreiben, wie ein Plakat eines Telefon-Anbieters sugge­riert, auf dem ein kleiner Junge mit seinem Gross­vater bei Regen­wetter in einem Zelt über ein Tablet gebeugt beim „Gamen“ abge­bildet ist, frei nach dem Motto “Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Verbin­dung ins Internet“. So wird uns abge­wöhnt, die zeit­li­chen Zwischen­räume als sinn­voll zu empfinden, als geschenkte Zeit, in der etwas entstehen kann, aus einer Lange­weile heraus, in der sich das Hirn neu posi­tio­nieren kann, um aus Erlebtem Neues zu gene­rieren. Es findet sich zuneh­mend weniger Zeit für Ruhe, Stille, für Anwe­sen­heit im gegen­wär­tigen Moment. Handy in der Tram, im Zug, auf dem Zebra­streifen, beim Auto­fahren, im Bett. Stän­dige Beschäf­ti­gung mit Irgend­etwas und noch mehr ist ange­sagt; der post­mo­derne Mensch braucht keine Pausen, er hat sie verlernt, sie werden ihm ausge­trieben, um zu konsu­mieren – oder sie werden so gestaltet, dass ganze Wirt­schafts­zweige davon leben, wie die Entspan­nungs­in­dus­trie mit Licht­dusch­ses­seln, Sphä­ren­musik, Biofeed­back­ge­räten, Meditations-Apps und Acht­sam­keits­kursen. Man kann mit dem Schlaf anderer Leute viel Geld verdienen.

Der Beginn der Geschichte des schlei­chenden Schlaf­dieb­stahls liegt weit zurück. Die Menschen in Mittel­eu­ropa schliefen zu Beginn des zwan­zigsten Jahr­hun­derts noch zehn Stunden, während sie in Nord­ame­rika heute nur mehr sechs­ein­halb Stunden täglich schlafen, in Mittel­eu­ropa sieben Stunden. Seit dem Beginn der Indus­tria­li­sie­rung wurde der Schlaf als unpro­duk­tive Phase und scheinbar notwen­diges Übel betrachtet, er schien irrele­vant für die Entwick­lung des Verstandes und für die Erkenntnis. Arthur Scho­pen­hauer hingegen versuchte den Schlaf zu würdigen, indem er meinte, wir würden „nur im Schlaf zum Kern des Lebens vordringen“, und Sigmund Freud nutzte die Träume als Quelle zur Deutung des Unbewussten.

Edward Norton vor dem Bildschirm: "Fight Club" (1999)

Edward Norton vor dem Bild­schirm, schlaflos: „Fight Club“ (1999)

Inzwi­schen steigt die Zahl der Menschen, die nachts aufstehen, um zum Beispiel Mails abzu­ar­beiten, stetig an. Das mag in manchen Fällen notwendig erscheinen, um einen wich­tigen Deal nicht zu versäumen und den Handels­part­nern in Übersee gerecht zu werden. Doch zugleich verfliesst die Grenze zwischen privaten und geschäft­li­chen Akti­vi­täten im virtu­ellen Raum zuneh­mend. Der Sucht­faktor, der diesen Akti­vi­täten inne­wohnt, und der dem allseits legi­ti­mierten Narzissmus dient, ist enorm, sowohl im Beruf, wo es um das geeig­nete Netz­werk für die zukünf­tige Karriere geht, als auch in der Frei­zeit, wenn das Selfie, auf dem Berg­gipfel mit dem neuesten Moun­tain­bike, für den männ­li­chen und weib­li­chen „Freun­des­kreis“ gepostet werden muss, um dann auch dem Chef noch einen Link dazu zu senden. Die Crux bei der Sache ist, dass die Gerät­schaften, mit denen das Geschäft der Kommu­ni­ka­tion betrieben wird, über LED Bild­schirme verfügen, die einen hohen Anteil an blauem Licht abstrahlen. Dieser Anteil des Lichts beein­flusst die Bildung des Schlaf­hor­mons Mela­tonin negativ, das wir für einen ruhigen Nacht­schlaf benö­tigen. Wer sich nach getaner Facebook-, Mail-, Twitter- und Whatsapp-Arbeit dann recht­schaffen müde, viel­leicht bereits zum wieder­holten Mal in dieser Nacht, ins Bett legt und darauf wartet, endlich ruhig einschlafen zu können, hat sich daher verrechnet. Auch ist es nicht ratsam, immer wieder auf die LED-erleuchtete Scheibe des Handy zu sehen, das auf dem Nacht­tisch liegt, um heraus­zu­finden, wie spät es ist. Doch es gibt inzwi­schen Abhilfe mit soge­nannten Blueblocker-Brillen oder man kann sich Programme auf den PC laden, die den Blau­licht­an­teil regu­lieren. Aber auch auf Herstel­ler­ebene ist man sich des Problems zuneh­mend bewusst und gibt Gegen­steuer mit Betriebs­sys­temen, die nachts den Anteil des roten Lichtes für mobile Geräte erhöhen.

Unent­behr­lich­keits­fan­ta­sien und Mütter­ge­schwätz

Zu wenig Schlaf macht krank, macht unglück­lich und macht auch letzt­end­lich phantasie- und willenlos, wobei dies der Konsum­be­reit­schaft zwei­fels­ohne entge­gen­kommt. Schlaf­entzug ist nach der ersten Nacht eupho­ri­sie­rend und wird auch in der Psych­ia­trie als Initi­al­zün­dung für eine anti­de­pres­sive Therapie einge­setzt, doch dauert der Schlaf­entzug zu lange, kommt es zu schweren Beschwerden bis hin zu psycho­ti­schen Zustands­bil­dern, nach unge­fähr 10 Tagen stirbt der schlaf­lose Mensch.

Wiona Ryder gibt Gena Rowland Feuer, nachts im Taxi: "Night on Earth" (1991)

Winona Ryder gibt Gena Rowlands Feuer, nachts, im Taxi: „Night on Earth“ (1991)

Doch abge­sehen vom Extrem des totalen Schlaf­ent­zuges, der als Folter­me­thode einge­setzt wird, zeigt auch der chro­ni­sche Mangel an Schlaf Lang­zeit­schäden, wobei dieses Gefah­ren­po­ten­tial zwar erkannt, diese Erkenntnis aber noch nicht ausrei­chend Einzug in Erzie­hung, Gesund­heits­be­ra­tung und Präven­tion gefunden hat. Was soll man zu einem intel­li­genten Topma­nager sagen, der nach drei Jahren stän­digen Rhyth­mus­wech­sels durch Jetlags, durch lange Arbeits­tage mit flexi­blem Büro, neudeutsch „Home-office“ genannt, und der Unent­behr­lich­keits­fan­tasie, die solche Spezia­listen antreibt, mit asch­grauem Gesicht, tiefen Augen­ringen und von zahl­rei­chen Infekten geplagt, über eine Gewichts­zu­nahme trotz Kalo­rien­re­strik­tion berichtet, sich über Kopf­schmerzen beklagt und nebenbei erwähnt, in Tren­nung von seiner Frau zu leben, weil sie seine Reiz­bar­keit nicht länger erträgt…? Und wenn es dann weiter heisst, dies alles dauere bereits mehrere Monate, doch neulich hätten ihn die Konzen­tra­ti­ons­pro­bleme und Wort­fin­dungs­stö­rungen, während wich­tiger Verhand­lungen mit einem chine­si­schen Gross­kon­zern, durch sein unglaub­wür­diges Auftreten fast um den hoch­do­tierten Arbeits­platz gebracht. Was tun?

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Maggie Cheung und Tony Leung Chiu Wai nachts, im Taxi: "In the Mood for Love" (2000)

Maggie Cheung und Tony Leung Chiu Wai nachts, im Taxi: „In the Mood for Love“ (2000)

Dieser Mann wird dem Arzt nicht glauben, wenn der ihm sagt, er solle sich strikt an Bett­zeiten halten, soll seinen Laptop und das Screen­phone abschalten und vor allem auf regel­mäs­sige Essens­zeiten achten. Er wird dem Arzt nicht glauben, denn obwohl die oben aufge­lis­teten Symptome inzwi­schen weit­ver­brei­tete Phäno­mene darstellen, gibt es um sie so etwas wie eine Tabu­zone. Sie riechen nach persön­li­chem Versagen, denn der Mensch kann doch nicht so altmo­disch sein, das alte Rezept der Mutter befolgen zu müssen, die ihn damals, als der Kerl noch am Anfang seiner Karriere stand, fragte „…..schläfst Du wohl genug und hast Du regel­mässig gegessen?“ Müttergeschwätz.

The Stanford Prison Experiment, 1971; Bild: Chuck Painter / The Crime Museum

The Stan­ford Prison Expe­ri­ment, 1971; Bild: Chuck Painter / The Crime Museum

Wenn der Arzt Gefahr läuft, in dieselbe Schub­lade wie die Mutter gesteckt zu werden, hilft der Hinweis auf Schlaf­entzug als Folter­me­thode: Fens­ter­lose Zellen unter stän­diger Beleuch­tung. Die Verwei­ge­rung des Schlafes ist die gewalt­same Enteig­nung des Selbst durch eine äussere Macht und dient der plan­mäs­sigen Vernich­tung des Indi­vi­duums. Weisse Folter, eine saubere Sache: nicht nach­weisbar am Körper und auch nicht bei nach­träg­li­chen neuro­psy­cho­lo­gi­schen Tests.

Die psych­ia­tri­sche Erfahrung

Doch die Beein­träch­ti­gung des freien Willens beginnt bereits bei einer harmlos erschei­nenden mehr­wö­chigen Verkür­zung der Schlaf­dauer auf vier bis sechs Stunden. Bei der Beob­ach­tung von Menschen auf einer Burnout-Abteilung, die über längere Zeit durch­gängig unter Störung ihres circa­dianen (Tag/Nacht-) Rhythmus litten, zeigt sich, dass ein Mensch vier bis sechs Wochen normale Schlaf­dauer benö­tigt, bevor wieder Lebens­freude und die Bereit­schaft, Neues aufzu­nehmen, zum Vorschein kommen. Anfäng­lich beklagen sich diese Pati­enten über angeb­liche Mängel auf der Abtei­lung; es wird an allem herum­ge­krit­telt, sei es am Essen, oder der Zimmer­ein­rich­tung. Ein Symptom: Der Status durch Dinge erscheint wichtig, um dem Selbst noch genü­gend Halt hinter der bröckelnden Fassade zu sichern.

Jürgen Teller: Young Pink Kate, London 1991; Quelle: esel.at

Jürgen Teller: Young Pink Kate, London 1991; Quelle: esel.at

Diese Haltung verliert sich, wenn die Pati­enten ausge­schlafen sind, sich selbst wieder spüren und genü­gend Kraft entwi­ckeln, um die Umge­bung diffe­ren­ziert und neugierig zu betrachten und zudem sagen können, was sie wollen und was nicht. Grund­lage der Selbst­be­stim­mung, Grund­lage eines gesell­schaft­li­chen Mitein­an­ders und dafür, selbst­be­stimmt Zeit zu verbringen, viel­leicht in der Natur, ohne „Gadgets“, um resis­tenter zu werden gegen die verlo­ckenden Anfech­tungen der Zeit­fress­ma­schinen, die Selbst­ent­frem­dung portieren.

Der Druck, Schlaf und Erho­lung für Produk­tion oder Konsum zu nutzen, trifft aller­dings auch die Ärzte selbst. Es gibt zum Beispiel Über­le­gungen, dass ein Arzt, der in der Nacht Dienst auf einer Station versieht, in den Stunden, in denen er nicht von Pati­enten in Anspruch genommen wird, andere Tätig­keiten verrichten soll, und sei es, Admi­nis­tra­tives für die Verwal­tung des Spitals zu erle­digen. Auch der Arbeitstag des Arztes ist extrem durch­ge­plant, und es darf nichts Unvor­her­ge­se­henes geschehen, wie etwa ein Gespräch mit einem unein­sich­tigen Pati­enten, der nicht versteht, dass er das Spital verlassen soll, weil die Kosten­gut­sprache seit zwei Tagen abge­laufen ist. Ganz zu schweigen von „Zeit­fres­sern“, wenn ein Patient unge­plant an der Brüs­tung der Dach­ter­rasse steht, um sich in die Tiefe zu stürzen. Der Beruf des Arztes besteht in der Bewäl­ti­gung solcher Situa­tionen. Ein Planungs­pro­gramm, das versucht, Leer­zeiten zu verhin­dern und die vorge­ge­bene Termin­fre­quenz verdichtet, zerstört die beruf­liche Zufrie­den­heit. Die Entwick­lung eines krea­tiven, hoch­pro­fes­sio­nellen Eigen­rhythmus, der sich virtuos an die Anfor­de­rungen anzu­passen versteht und der zwischen schnell und langsam, viel und wenig, laut und leise zu unter­scheiden vermag, wird abge­schafft. Unzu­frie­den­heit gene­riert auch eine Vertei­lung der Aufgaben im Arbeits­alltag mit 2/3 Doku­men­ta­tion und Orga­ni­sa­tion, zu 1/3 Pati­en­ten­kon­takt, wobei Ersteres haupt­säch­lich der Abbil­dung von Letz­terem mit elek­tro­ni­schen Mitteln dient. Es ist kaum möglich, solche Vorgaben ohne Verlust von mensch­li­cher Begeg­nungs­qua­lität zu erfüllen. Der Arzt ist hier nur Stell­ver­treter für andere Berufs­gruppen, die der gras­sie­renden Struk­tu­rie­rungswut unter­worfen sind. Am schmerz­lichsten spürbar jeden­falls sind die Auswir­kungen des Neoli­be­ra­lismus in den Arbeits­be­rei­chen, die mit Menschen, Bezie­hungen, Erzäh­lungen und Dialogen zu tun haben.

Krea­ti­vität braucht Schlaf

Tilda Swinton schläft in einer Vitrine des MoMa, New York, 2013; Quelle: sueddeutsche.de

Tilda Swinton schläft in einer Vitrine des MoMa, New York, 2013; Quelle: sueddeutsche.de

Die Fähig­keit, kreativ zu sein, und das ist nicht nur im künst­le­ri­schen Sinn gemeint, braucht Pausen. Eine weitere Voraus­set­zung für diese Fähig­keit kreativ zu sein, besteht darin, im Schlaf mit etwas in uns und um uns in Berüh­rung zu kommen, was nicht normiert, durch­struk­tu­riert und konsum­ori­en­tiert ist. Krea­ti­vität birgt auch „Eigen­sinn“ in der Bedeu­tung, das physi­sche und psychi­sche „Selbst“ besser wahr­nehmen zu können, um zu einer selbst­be­stimmten Willens­äus­se­rung im Stande zu sein. Diese ausge­schla­fene und bewusste, von Konsum und Ansprü­chen unbe­ein­flusste Willens­äus­se­rung ist unter anderem eine Voraus­set­zung für ein hoch­ent­wi­ckeltes demo­kra­ti­sches Sozi­al­ge­füge. Krea­ti­vität braucht als Grund­be­din­gung ebenso eine Zone, in der wir dem stän­digen „Dabei­sein“ entrinnen können. Gewalt, Terror und Kriege auf unserem Planeten sind medial omni­prä­sent und sickern in unser Unbe­wusstes, das dazu auffor­dern möchte, nicht untätig zu sein. Die Naivität des Schlafes erscheint als unpas­sende physio­lo­gi­sche Reak­tion, was nicht zuletzt auch die gras­sie­rende Schlaf­lo­sig­keit erklärt. Viel­leicht brau­chen wir wieder weniger Infor­ma­tionen, um wirk­lich mitreden und mitge­stalten zu können, und sollten uns den Luxus leisten, die Geräte abzu­schalten, Pausen zu machen, nicht ständig online und durch­ge­taktet zu sein. Wir verschwenden uns selbst und die Ressourcen der Erde, auf der wir leben, wenn wir 24 Stunden produ­zieren, konsu­mieren, Müll anhäufen und alles bis in den letzten Winkel ausleuchten, um nicht das geringste Geheimnis mehr zu finden in den dunklen Stunden des Lebens, die vor langen Zeiten so dunkel waren, dass man im Licht der Sterne wandern konnte.