Kirill Medvedev gilt schon länger als Aushängeschild der Neuen Linken in Russland. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges und der Repressionswelle gegen Oppositionelle flüchtete er mit seiner Familie nach Marseille. Ein Gespräch über politischen Widerstand in Russland und im Exil.

  • Kirill Medvedev

    Kirill Medvedev, geb. 1975, ist Lyriker und Essayist, Übersetzer und Gründer des Freien Marxistischen Verlags, Aktivist der Russländischen Sozialistischen Bewegung und Sänger und Gitarrist der Gruppe Arkadiy Kots, die sich unter anderem der Wiederbelebung des lyrischen und musikalischen Erbes internationalen linken Widerstands widmen. Derzeit lebt er mit vorübergehender Aufenthaltserlaubnis in Marseille und Brüssel.
  • Matthias Meindl

    Matthias Meindl ist Slavist und habilitiert sich an der Universität Zürich mit einer Arbeit zur sexuellen Revolution in Jugoslawien um 1968. Zuletzt hat er mit Georg Witte Kirill Medvedevs "Antifaschismus für alle" herausgegeben.

Matthias Meindl: Wir haben dieses Gespräch in Marseille begonnen. Erzähl doch bitte, wie Du dort gelandet bist. Marseille war eine Metro­pole der Emigra­tion jüdi­scher Intel­lek­tu­eller und kommu­nis­ti­scher Wider­stands­kämpfer im Zweiten Welt­krieg, aber auch sozia­lis­ti­scher russi­scher Revo­lu­tio­näre nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion. Fühlst du dich als Exilant?

Kirill Medvedev: Ich bin aus fami­liären Gründen in Europa gelandet, die aller­dings mit dem Krieg verbunden sind. Im Februar arbei­tete meine Frau Anna Moiseenko in Brüssel an ihrem Film über die system­kri­ti­sche Comic­zeich­nerin Viktoria Lomasko, im Sommer stand die Geburt unseres Kindes bevor. Wir haben entschieden, dass wir nicht auf die Geburt des Kindes warten können, während wir gleich­zeitig damit rechnen müssen, dass die Polizei bei uns in Moskau an die Tür klopft. Ich habe nie an Emigra­tion gedacht und ich denke auch heute noch nicht daran. In der Emigra­tion kann man viele nütz­liche Dinge tun, aber für einen Akti­visten und Dichter des Protestes, als welcher ich mich fühle, ist die Erfah­rung der Isola­tion vom heimi­schen Boden qual­voll. Es gibt eine Menge inter­es­santer Dinge in Europa, unter anderem im Bereich des Akti­vismus und der Politik, um sich aber hierein zu vertiefen, bräuchte ich ein weiteres Leben. Ich lebe das, was in Russ­land passiert, und ich denke, ich werde sehr bald zurückkehren.

Du machst dich in deinen kultur­po­li­ti­schen Essays seit langen für eine grass-roots-Politik stark und befürch­test eine Entpo­li­ti­sie­rung der russi­schen Bevöl­ke­rung. Die Stra­tegie linker grass-roots-Politik kam Vielen in der Ära der Putin’schen Stabi­lität in den 2000er Jahren noch verrückt vor. Aber ich habe doch das Gefühl, dass nun klar wird, dass diese realis­ti­scher war als alle oppo­si­tio­nellen Träume eines Staats­um­schwungs in Präsi­dent­schafts­wahlen. Was denkst Du darüber? Waren, vom heutigen Stand­punkt aus, die Stra­te­gien der neuen linken Bewe­gung in Russ­land richtig, im Beson­deren Deine? Und worin besteht heute die Aufgabeledig­lich im Überleben?

Ja, in der Mitte der 2000er Jahre hatte ich die große Befürch­tung, dass unter den sanften (damals noch sanften) Fitti­chen der Putin’schen Diktatur in Russ­land eine neue Bour­geoisie aufge­kommen sei, eine neue Mittel­klasse, die sich endlich entpo­li­ti­siert darstellen und ganz dem consu­me­rism widmen könne, die gerne Norma­li­sie­rung und Stabi­lität wolle und deswegen zu konser­va­tiven Welt­an­schau­ungen und zu Loya­lität neige. Deswegen ist es die Aufgabe der progres­siven Künstler:innen und Intel­lek­tu­ellen, die Norma­li­sie­rung zu verhin­dern, d.h. sich selbst in poli­tisch enga­gierte Subjekte zu verwan­deln, den eigenen Platz in diesem System zu analy­sieren und sich nicht ins künst­le­ri­sche Schaffen und in Wissen­schaft als private Prak­tiken zurück­zu­ziehen. Demo­kratie wird in Russ­land weder von der Wirt­schaft noch vom Macht­ap­parat hervor­ge­bracht werden. Demo­kra­ti­sche Insti­tu­tionen kann man nur mit unauf­hör­li­chen Anstren­gungen von unten aufbauen, das ist die Aufgabe sozialer Bewe­gungen, von Gewerk­schaften, von jegli­chen selbst­or­ga­ni­sierten Initia­tiven. In diesem meinem Programm gibt es einen großen Glauben an Akti­vismus und Verzichts­hal­tung, aber Alter­na­tiven sehe ich nach wie vor nicht. Deswegen habe ich mich all die Jahre in diesem Fahr­wasser bewegt.

Die Stra­tegie, sich an allge­meinen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Protesten zu betei­ligen, an einem gemein­samen Block gegen die Diktatur, und gleich­zeitig die Betei­li­gung in den Gewerk­schaften, die Unter­stüt­zung der regio­nalen Bewe­gungen und Proteste, war richtig. Die letzten zehn Jahre gab es in Russ­land einige Schlüs­sel­er­eig­nisse und -trends. Dazu gehören die Recher­chen Naval’nyjs, die den Hass im Volk gegen die reichen Nutz­nießer der Korrup­tion geschürt haben, dazu gehören die femi­nis­ti­sche Bewe­gung, die Bewe­gung der kommu­nalen Abge­ord­neten. Dazu gehören die regio­nalen Proteste gegen Müll­de­po­nien und gegen die Vorherr­schaft Moskaus, die Proteste der Ange­stellten im öffent­li­chen Dienst (der Gewerk­schaft der Sani­täter „Aktion“) und der Gewerk­schaften in der Plattform-Ökonomie („Kurier“), das Aufkommen radi­kaler städ­ti­scher Poli­tiker in und außer­halb der KPRF (die meisten von ihnen werden heute von der Partei für ihre über­mä­ßige Radi­ka­lität oder für ihren Anti-Kriegs-Standpunkt verdammt). Und schließ­lich gehört auch dazu, dass die Unzu­frie­denen gelernt haben, mit Smart Voting den Kandidat:innen der Regie­rung Stimmen zu entziehen. Gerade die Linken haben sich entwi­ckelt, die sich in diesen Kontexten bewegt haben, und die sich nicht in Dogmatik einge­sponnen haben. Ich bin über­zeugt, dass dieser Krieg eine Reak­tion auf das Auftau­chen einer neuen Oppo­si­tion in Russ­land war, in die Linke eine große Rolle spielte.

Das macht mich neugierig – im Westen herrscht die Wahr­neh­mung vor, dass es nach 2013 gar keinen Wider­stand und keine Oppo­si­tion mehr gab in Russ­land. Nun hat in der Tat Naval’nyj große Aufmerk­sam­keit hervor­ge­rufen, aber von einer linken Oppo­si­tion in Russ­land hat wirk­lich kaum jemand gehört. Denkst Du, diese west­liche Wahr­neh­mung, die ich schil­dere, ist falsch? Und was den Krieg anbe­langt, könnte es nicht wohl­mög­lich umge­kehrt der Fall sein, dass Putin aufgrund der Abwe­sen­heit einer Oppo­si­tion Gele­gen­heit fand, sich seinem Projekt einer Selbst­ein­schrei­bung in die Geschichts­lehr­bü­cher zu widmen?

Die zweite Hälfte der 2010er Jahre sah einen großen Bedeu­tungs­zu­wachs lokaler und regio­naler Politik, in der führende Persön­lich­keiten schritt­weise Bekannt­heit erlangen konnten. Für die Linke etwa bedeu­tete Michail Loba­novs erfolg­reiche Wahl­kam­pagne bei den Wahlen zum Abge­ord­ne­ten­haus 2021 einen großen Aufbruch. Lobanov ist ein Gewerk­schaftler, ein Akti­vist in seinem Bezirk und ein Hoch­schul­lehrer an der Staat­li­chen Univer­sität, der von der Kommu­nis­ti­schen Partei aufge­stellt wurde, aber eine sehr breite Unter­stüt­zer­gruppe bilden konnte: von Links­ra­di­kalen und urbanen Ökoaktivist:innen bis hin zu bekannten Meinungs­füh­rern der libe­ralen Oppo­si­tion. In der Konkur­renz mit einem bekannten Fern­seh­mo­de­rator von der Partei Einiges Russ­land gewann er nach Stimmen in den Wahl­büros, erhielt sein Mandat indes nicht wegen des Fakes mit der „elek­tro­ni­schen Wahl“, wie übri­gens noch einige andere Oppo­si­tio­nelle. Den Namen Lobanov kennt man zuneh­mend auch im Westen.

Zu Deiner zweiten Frage: 2021 hatte Putin das schlech­teste Ergebnis seiner Lauf­bahn. Die Vergif­tung Naval’nyjs und die Entfes­se­lung des Kriegs sind hoch­ris­kante Schritte, die er nicht unter­nommen hätte, wäre alles in Ordnung gewesen und hätte er keine Konkur­renz gehabt.

Die Bedin­gungen für oppo­si­tio­nelle poli­ti­sche Akti­vität in Russ­land sind jetzt extrem gefähr­lich und wahr­schein­lich wird alles noch schlimmer. Welche Formen des Protests und der Akti­vität ist den Aktivist:innen nun über­haupt geblieben? Und glaubst Du, dass das Regime mit Repres­sionen alle Ergeb­nisse von dreißig Jahren Oppo­si­ti­ons­ar­beit wird auslö­schen können, oder eher nicht?

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Die Aufgabe der Aktivist:innen ist es, mit ihrem Beispiel zu zeigen, dass die Prak­tiken der Soli­da­rität und Selbst­or­ga­ni­sa­tion funk­tio­nieren, und dass wir uns darauf im rich­tigen Moment stützen können. Aber ich denke, vieles hängt nicht unbe­dingt von den Aktivist:innen ab, sondern von denen, die in Russ­land bleiben, die den Krieg nicht akzep­tieren, die zwar nicht bereit sind, öffent­lich zu demons­trieren, die aber bereit sind, ihre Posi­tion im privaten Rahmen oder im Berufs­leben zu vertei­digen. Je mehr es von diesen Leuten geben wird, desto geringer ist die Chance, dass es dem Regime Putins gelingt, eine neue, teil­weise durch die Propa­ganda vorge­stanzte, teil­weise einfach entpo­li­ti­sierte Nation zu schaffen.

Aber um solche Leute zu unter­stützen und um zu verhin­dern, dass sie verzwei­feln oder sich auf die Seite des Bösen schlagen, müssen Aktivist:innen, die sich im Exil frei äußern können, eine gemein­same posi­tive Platt­form formu­lieren. Zu sagen, dass wir als Nation nicht mehr exis­tieren, dass wir voll­ständig verstummen oder uns selbst canceln müssen, dass alle Russ:innen die gleiche Verant­wor­tung tragen, dass unsere Geschichte eine unun­ter­bro­chene Anein­an­der­rei­hung von Verbre­chen ist, dass Russ­land über­haupt aufhören müsse zu exis­tieren – all das hilft nicht dabei, Putin von innen zu stürzen. Viel­mehr spielt es ihm in die Hände, denn es bringt die Zwei­felnden dazu, sich an die Macht­haber zu schmiegen. Die Aufar­bei­tung unser aller Verant­wor­tung für diesen Krieg, wie und warum wir zusammen mit unseren soge­nannten Führern dort gelandet sind, ist unab­dingbar. Aber das braucht viel Zeit und wird viel­leicht erst später möglich sein, nachdem dieses Regime von der Bild­fläche verschwunden ist.

Bis dahin brau­chen wir eine einfache allge­meine Platt­form – wir sind gegen diesen Krieg, gegen den Mord an Ukrainer:innen, gegen das Sterben von Russ:innen. Es gibt Dinge in der Vergan­gen­heit, die uns inspi­rieren, auf die wir uns jetzt stützen können, und es gibt Dinge, auf die man in der Zukunft hoffen kann.

Du wurdest schon am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem mili­tä­ri­schen Über­fall auf die Ukraine, verhaftet für eine Mahn­wache: „Gegen den Krieg gegen die Ukrainer:innen und Russ:innen“, und das Lied Deiner Band Arkadij Koc „Fuck the War!“ lässt auch keinen Zweifel daran, wie Du zu diesem Krieg stehst. Man mag sich erin­nern, dass einst Serhij Žadan Gedichte in der Serie „kraft“ Deines Freien Marxis­ti­schen Verlags veröf­fent­licht hat. Aber sind Dir Bezie­hungen mit Ukrainer:innen, im Beson­deren mit Linken, geblieben, nach fast einem vollem Jahr­zehnt des bewaff­neten Konflikts? 

Plakat der Band Arkady Kots

Ja, Verbin­dungen sind geblieben, sowohl persön­liche als auch poli­ti­sche, zum Beispiel stehen meine Parteigenoss:innen aus der Russ­län­di­schen Sozia­lis­ti­schen Bewe­gung in engem Austausch mit der ukrai­ni­schen Bewe­gung „Social’nyj Ruch“ [Soziale Bewe­gung], die klar für die Vertei­di­gung der Ukraine gegen den russi­schen Impe­ria­lismus eintritt. Aber man kann nicht sagen, alles verliefe glatt – dieser Krieg zwingt dazu, sehr vieles neu zu über­denken. Was ist Inter­na­tio­na­lismus, was ist Patrio­tismus, was ist natio­nale Selbst­be­stim­mung, was ist Dekolonisierung?

Ich halte diesen Krieg für ein Verbre­chen der Macht­haber, die sich zuge­ge­be­ner­maßen nicht nur auf ihre eigenen Ideen und Inter­essen stützen, sondern auf die impe­rialen Gefühle eines großen Teils der Bevöl­ke­rung. Ich habe großen Respekt vor den ukrai­ni­schen Linken, die ihr Land vertei­digen. Ich hoffe sehr, dass ihre Kampf­erfah­rung und ihr Ruf als Vaterlandsverteidiger:innen ihnen in der Nachkriegs-Konkurrenz mit Ultra­rechten inner­halb des Landes helfen wird. Aber ich kann meine Posi­tion nicht pro-ukrainisch nennen, ich habe eine pro-russische Posi­tion, und zwar bin ich für ein Russ­land, das seine Nach­barn nicht angreift, ich bin gegen ein Russ­land, das sich in dreißig Jahren des kapi­ta­lis­ti­schen Aufbaus stetig faschi­siert hat und nun erfolglos versucht, mit Gewalt in der Welt­elite mitzu­mi­schen – auf Kosten ukrai­ni­schen und russi­schen Lebens. In Russ­land will die Mehr­heit dieses Schlachten nicht, und ich denke, uns eint der Gedanke, dass derje­nige, der diesen Angriffs­krieg am 22. Februar letzten Jahres begonnen hat, auch derje­nige sein sollte, der ihn beenden muss.

Du sprichst einer­seits von einer demo­kra­ti­schen Bewe­gung von unten. Aber wer bildet dieses ‚Wir‘, wenn nicht Menschen, die im Zentrum des Impe­riums loka­li­siert sind? Viel­leicht wollen ja jetzt viele Vertreter:innen der natio­nalen Minder­heiten in der Russi­schen Föde­ra­tion diesem „wir“ nicht mehr ange­hören, und träumen eher davon, dass die RF zerfällt. Und wozu sollten sie jetzt warten, bis die RF sich demo­kra­ti­siert und refor­miert, damit eine sozia­lis­ti­sche Demo­kratie unter der Hege­monie russi­scher Sozialist:innen einträfe. Dafür gibt es ja m.E. wenig Anzei­chen, oder nicht? Muss man nicht unbe­dingt bemerken, dass auch der linke Anti-Imperialismus über­prüft werden muss, und dass selbst die Parole „Sozia­lismus oder Barbarei“, die 1914 durch die radi­kale Inter­na­tio­na­listin und Impe­ria­lis­mus­theo­re­ti­kerin Rosa Luxem­burg popu­la­ri­siert wurde und die Du in einem Deiner Essays 2007 zitiert hast, einen kolo­nialen Beigeschmack bewahrt, weil voraus­ge­setzt wird, dass ‘die Barbaren’ keinen Sozia­lismus schaffen können?

„Wir“ – das sind die Bürger Russ­lands, die gegen diesen Krieg sind und meinen, dass er von der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion selbst beendet werden sollte. Perspek­tiven auf die zukünf­tige Ordnung des Landes kann es dabei unter­schied­lichste geben. Ob sich die Trends zur Abspal­tung des einen oder anderen Terri­to­riums verstärken werden, ist eine Frage der Zukunft, denn jetzt kennen wir die realen Stim­mungen in den Repu­bliken der RF gar nicht, und das Thema der Abspal­tung disku­tieren kleine Gruppen in der Emigra­tion. Ich meine, dass die Linken jetzt nicht für und nicht gegen terri­to­riale Abspal­tungen eintreten sollten, sondern für eine neue föde­ra­tive Repu­blik, begründet auf größt­mög­li­chen Rechten für die Regionen und der Aufar­bei­tung des impe­rialen Erbes. Ob es gelingt, ein solches Programm gemeinsam mit Linken und Demokrat:innen aus den Regionen und Repu­bliken voran­zu­bringen, ist im Moment nur schwer zu sagen. Aber wenn die Frage der Unab­hän­gig­keit des einen oder anderen Terri­to­riums sich plötz­lich wirk­lich stellt, dann dürfen die Linken natür­lich nicht gegen diese sein, sondern müssen für die größt­mög­liche Respek­tie­rung der Rechte aller Gruppen und der Arbeiter:innenrechte auf diesen Terri­to­rien eintreten. Was das Wort „Barbarei“ anbe­langt, so ziehe ich in der Tat das Wort „Archaik“ vor.

Um noch einmal auf Deine vorher­ge­hende Frage zurück­zu­kommen – Ich würde meine Posi­tion auch gerne eine inter­na­tio­na­lis­ti­sche nennen, aber ich spüre, dass dieser Begriff mit neuem Leben gefüllt werden müsste. Inter­na­tio­na­listen – so nennen sich heute auch die marxis­ti­schen Scho­las­tiker, die Russ­land und die Ukraine, den Aggressor und das Opfer, über einen Kamm scheren, auf der Grund­lage dessen, dass beide „bour­geoise Staaten“ sind, und die, die glauben, dass die Abchas:innen wegen der impe­ria­lis­ti­schen Politik der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion gegen­über Geor­gien kein Recht auf ihre Selbst­be­stim­mung haben. Ein neuer Inter­na­tio­na­lismus und ein neuer Univer­sa­lismus sind lebens­not­wen­dige Forde­rungen, aber wie der aussehen wird, das bleibt eine Frage für die Zukunft.

Welche Rolle, wenn über­haupt, erfüllen jetzt die russi­sche Lite­ratur und Kunst in Russ­land selbst und im Ausland? Hast Du eine Meinung zum Thema des vermeint­li­chen Cancel­lings der Russi­schen Kultur, oder findest Du dieses Thema eher uninteressant?

Die Lite­ratur und die Kunst erfüllen in jedem Fall idea­ler­weise die Aufgabe, die Wirk­lich­keit in maximal unab­hän­giger Weise zu reflek­tieren, ohne zu vergessen, dass die Kunst eine poli­ti­sche Rolle erfüllt, auch wenn das Autor:innen nicht unbe­dingt wahr­haben wollen. Eine wich­tige Aufgabe für die Russländer:innen, die auf die eine oder andere Weise mit der Kultur verbunden sind, ist es, in ihrem eigenen Schaffen, ihrer Forschung oder Aufklä­rungs­ar­beit die russi­sche Kultur mit ihrem starken impe­rialen und konser­va­tiven Ausgangs­punkt aufzu­rüt­teln und umzu­bauen. Die progres­siven, im Beson­deren die anti­bel­li­zis­ti­schen und anti­pa­tri­ar­chalen Tradi­ti­ons­li­nien, die es in unserer Kultur auch im Über­fluss gibt, zu beleuchten, zu entwi­ckeln oder zu schaffen.

Über­haupt habe ich den Eindruck, dass in den kommenden Jahr­zehnten die Kunst als Schaf­fung und Umschaf­fung der Gemein­schaften zum Main­stream wird. Darin besteht ein riesiges schöp­fe­ri­sches und gleich­zeitig radikal poli­ti­sches Poten­zial. Einst haben wir viel disku­tiert und diagnos­ti­ziert, wie ein Exit aus der Post­mo­derne genau ausschauen könnte. Viel­leicht ist es gerade so – wir können nicht zur direkten Aussage und den übrigen großen Narra­tiven zurück­kehren, aber die mediale und histo­ri­sche Logik im 21. Jahr­hun­dert führt uns zur Schöp­fung neuer Iden­ti­täten, neuer Gemein­schaften, neuer Bünd­nisse – und die krea­tive Phan­tasie ist hier kurz­ge­schlossen mit der poli­ti­schen Realität, mit allen Risiken, die einer solchen Verbin­dung entspringt.

Die Putin’schen Ideo­logen widmen sich ja derzeit der Rekon­struk­tion dieses loyalen, reli­giösen, auto­kra­ti­schen Russ­lands, das es nie gegeben hat. Und hier gibt es kein schöp­fe­ri­sches Poten­zial, das ist eine tote Zone, ein Versuch, den häss­li­chen Traum von der Macht und dem Gehorsam zu konser­vieren, den niemand braucht, auch die Russländer:innen nicht. Und eine Antwort auf die Frage zu suchen, was es eigent­lich heißt, russisch zu sein, heute und morgen, was es heißt, Tatar:in oder Jakut:in zu sein, worin genau man dem sowje­ti­schen Projekt die Treue halten sollte, was es heißt, inter­na­tio­na­lis­tisch zu sein, wie die Träge­rinnen dieser Iden­ti­täten im Leben verbunden sein werden, in der Politik und in der Kultur, das sind reale Fragen.

Aber viel­leicht muss man dem sowje­ti­schen Projekt in Garnichts die Treue halten? Die Gewalt, die wir nun in der Ukraine sehen – lauerte sie nicht immer hinter der falschen folk­lo­ris­ti­schen Völker­freund­schaft, hinter der verlo­genen Viel­völ­ker­po­litik in der UdSSR? Denn diese war eigent­lich immer auf die Elimi­nie­rung der natio­nalen Minder­heiten ausge­richtet, oder doch zumin­dest darauf, ihren Selbst­aus­druck zu kana­li­sieren und aus dem Fahr­wasser der grossen Kultur und Politik herauszuhalten?

Die Aufmerk­sam­keit den natio­nalen Kulturen und ihrer Entwick­lung gegen­über, unter anderem auch zum Nach­teil einer domi­nie­renden Kultur, ist eine früh­so­wje­ti­sche Idee. Unlängst fand eine Konfe­renz in Marseille zum Thema der Utopie statt, und natür­lich waren dabei nicht wenige Beiträge der Revo­lu­tion von 1917 und der früh­so­wje­ti­schen Utopie gewidmet. Die Geschichte des Femi­nismus etwa wäre nicht möglich ohne Alek­sandra Kollontaj und die ganze früh­so­wje­ti­sche Erfah­rung der Frau­en­eman­zi­pa­tion. Sogar die offi­ziöse sowje­ti­sche Rhetorik des „Kampfs um den Frieden“ ist heute für uns zu einem Anknüp­fungs­punkt für Wider­stand geworden, zumin­dest zu einem guten Argu­ment für die ältere Bevöl­ke­rung. Das ist unser aller progres­sive Vergan­gen­heit, die, wie wir es sehen, die Welt nach wie vor nötig hat, aber in erster Linie brau­chen wir sie selbst.

Die Depor­ta­tionen der Volks­gruppen und die Repres­sionen, die sich an der natio­nalen Zuge­hö­rig­keit in der Sowjet­union orien­tierten, z.B. die „deut­sche Opera­tion“ des NKVD im Jahr 1937 – das ist ein typi­sches Beispiel für die Anwen­dung kollek­tiver Verant­wor­tung. Man muss aufhören, solche Maßnahmen mit Wohl­wollen zu betrachten – und das gilt nicht nur für Fans der Sowjetunion.

Die UdSSR war ein wider­sprüch­li­ches Projekt, durch­lief viele Peri­oden. Elemente des Impe­ria­lismus und repres­siver Diktatur verei­nigten sich in ihr mit Versu­chen der Schaf­fung einer modernen, säku­laren Vielvölker-Gemeinschaft auf einem ungleich­mäßig entwi­ckelten Riesen­ter­ri­to­rium. Man muss alle Verbre­chen der Sowjet­union aufde­cken, aber eine voll­kom­mene Ableh­nung ihres Erbes – das ist der Traum der Monar­chisten, der Ultra­kon­ser­va­tiven und Liber­tären, und das wäre die Garantie eines endgül­tigen Absturzes in die Archaik.

Kirill, mir ist doch etwas unwohl zumute, wenn ich solche ausge­wo­genen Urteile über die Sowjet­union höre. Irgendwie ist es ja doch eine Absur­dität, über diese als histo­ri­sche Entität zu urteilen, und während wir uns unter­halten, wird wieder das GULAG-System ange­kur­belt, und sogar gewöhn­li­chen Menschen gibt man drako­ni­sche Frei­heits­strafen für soge­nannte „Fakes über Russ­lands Streit­kräfte“, d.h. wenn sie über tatsäch­liche Kriegs­ver­bre­chen schreiben. Wie kann man über­haupt über die Sowjet­union im Präter­itum schreiben, wenn sie offen­sicht­lich in diesen Prak­tiken weiter­lebt und täglich Menschen frisst? Mir scheint, das ist doch ein perfor­ma­tiver Widerspruch.

Okay, lass uns ein paar Dinge ausein­an­der­halten. Die Repres­sionen in der Sowjet­union, Stalins GULAG, die impe­ria­lis­ti­schen Taten wie die Auftei­lung Europas nach dem Zweiten Welt­krieg, die Einmär­sche in Ungarn und die Tsche­cho­slo­wakei – das sind unleug­bare Tatsa­chen der sowje­ti­schen Geschichte, die natür­lich auch auf die heutige soge­nannte Russi­sche Welt Einfluss haben. Aber unter dem Vorzei­chen des Kampfes gegen die Sowjet­union und ihr Erbe wurden im post­so­wje­ti­schen Russ­land schlimme Verbre­chen begangen: die Priva­ti­sie­rung der Indus­trie etwa, – Anatolij Čubajs, ein wich­tiger Macher der Jelzin- und Putin­zeit, hatte es ja auch so gesagt: „Jede verkaufte Fabrik ist ein Nagel im Sarg des Kommu­nismus“. Aber auch der Beschuss des Parla­ments­ge­bäudes im Jahre 1993, die schmut­zige Kampagne für Jelzin im Wahl­kampf 1996, die Inthro­ni­sie­rung Putins. All das wurde unter der Losung „lasst uns bloß nicht in den Kommu­nismus zurück­kehren“ getan. Das heutige Russ­land als Ganzes ist auf der Absage an alles aufge­baut, was im sowje­ti­schen Projekt mit Inter­na­tio­na­lismus, Moder­ni­sie­rung, Massen­auf­klä­rung und sozialer Gerech­tig­keit verbunden wurde. Und im Ergebnis haben wir einen völlig neuen histo­ri­schen Orga­nismus, der von verschie­densten Kräften und Menschen gemacht wurde – von Schranzen aus dem KGB und der Nomen­klatur, die sich anfangs als Libe­rale maskierten, dann als Fans des zari­schen Impe­riums, ferner von ehema­ligen sowje­ti­sche Speku­lanten, die sich in Olig­ar­chen, Markt­re­former und rechte Intel­lek­tu­elle verwan­delten, und schluss­end­lich von einer neuen Gene­ra­tion von Büro­kraten, denen die sowje­ti­schen Werte nur fremd und unver­ständ­lich sind. 

Die Wahr­neh­mung der Putin’schen RF als Erbin der Sowjet­union ist bei uns in Russ­land Teil eines libe­ralen Dogmas, das den Erbauern der Jelzin’schen Diktatur ermög­licht hat, die Verant­wor­tung für diese abzu­geben, und die wiederum ganz folge­richtig in die Putin’sche über­ging. Und die voll­stän­dige Ableh­nung der UdSSR beinhaltet die eindeu­tige Botschaft an die heutigen Russ:innen: „Eure Eltern, Groß­mütter und Groß­väter haben einen blutigen Albtraum geschaffen, sind in ihm umge­kommen und haben für ihn gekämpft, ihr habt nichts, worauf ihr Euch stützen könnt in Eurer Geschichte, Euch wird nichts gelingen, solange ihr nicht anfangt, dem zivi­li­sierten Westen zu folgen“. Aber eine ähnliche Rhetorik aus den 1990er Jahren hat im Ergebnis in diesem impe­rialen Revan­chismus, dieses Ressen­ti­ment geführt, das wir jetzt sehen.

Was das Cancel­ling betrifft. Ich finde Cancel­ling und jegliche Verfol­gung gemäß dem Merkmal der Herkunft schlecht, und ich halte das für eine beinahe nazis­ti­sche Praxis. Kurz bevor wir uns in Marseille getroffen haben, tauchte auf unserer Wohnungstür ein engli­scher Schriftzug auf – „Out Russia ‚Z‘ go home“. Wir haben dem Vermieter geschrieben, dass man uns russi­sche Oppo­si­tio­nelle und Antifaschist:innen ja an die Anwe­sen­heit von Ultra­rechten nicht erst gewöhnen muss, aber viel­leicht wäre ihm selbst solch unsi­chere Verhält­nisse nicht recht. Er holte Erkun­di­gungen ein, und es stellte sich heraus, dass der Nachbar unter uns, ein junger Dichter, die Nacht zuvor eine Party gefeiert hatte, und einer der sehr betrun­kenen Gäste den Entschluss gefasst hatte, so etwas zu schreiben. Der Vermieter kam zu uns, um sich zu entschul­digen, und dann hat der Schul­dige auch selbst etwas umge­dacht, und hinter­ließ auf sehr rührende Weise vor der Türe einen Korb mit Pralinen und Entschul­di­gungen. Für meine hier in Marseille lebenden Freunde und Freun­dinnen ist dieser Fall eine Absur­dität, oder jeden­falls eine Ausnahme – hier gibt es eine durch und durch inter­na­tio­nale Commu­nity, und die Geschichte, wie durch diese Stadt mehr als zwei­tau­send Jahre lang Millionen von Migrant:innen und Flücht­linge durch­reisten oder in ihr fest­ge­halten wurden, darunter deut­sche Kommunist:innen und Jüd:innen, ist Teil der lokalen Kultur.

Es ist also schwer zu sagen, welcher Infor­ma­ti­ons­hin­ter­grund oder welche persön­li­chen Empfin­dungen auf diesen Menschen wirkten. Eines ist aber klar – wie der Marxismus und wie jegliche progres­sive und befrei­ende Idee, die unseren Verstand und unsere Leiden­schaften beherr­schen können, treibt der anti­im­pe­ria­lis­ti­sche und deko­lo­niale Diskurs die Geschichte voran, und ist doch gleich­zeitig fähig, eine Menge Archaik und Unge­rech­tig­keiten in bestimmten Momenten und in bestimmten Zonen hervor­zu­bringen. Davor sollte man die Augen nicht verschließen.

Das ist eine eindrückliche Geschichte, aber betrifft sie wirk­lich Cancel­ling? Als ein Beispiel von Russo­phobie erscheint mir dieses Verhalten für sich nicht unbe­dingt ‚beinahe nazis­tisch‘. Dieser junge Mann hatte wohl kaum eine voll­um­fäng­liche Ideo­logie einer Rassen­hier­ar­chie. Nazis schenken auch keine Pralinen nach dem Anschlag. Und was wirk­lich Cancel­ling anbe­langt –– kann man Argu­mente pro Cancel­ling finden, die über­haupt nicht einer ‚beinahe-nazistischen‘ Logik verpflichtet sind: Zum einen einfach die Logik von Sank­tionen gegen die Unter­tanen eines verbre­che­ri­schen Regimes, damit diese aus dem Gehor­sams­ver­hältnis heraus­treten, zum anderen eine Ökonomie der Aufmerk­sam­keits­len­kung, welche die Kano­ni­sie­rung der Werke einer domi­nierten Kultur ermöglicht.

Deswegen habe ich ja auch gesagt, viel­leicht nicht deut­lich genug, dass ich gegen Cancel­ling eben aufgrund des Faktums der Herkunft bin. Und ja, ich bleibe dabei, dass die Einschrän­kung eines Menschen in seinen Rechten, oder die Hetze gegen ihn aufgrund des Faktums seiner Herkunft eine beinahe nazis­ti­sche, ultra­rechte Idee und Praxis ist. Was die „Auslö­schung der russi­schen Kultur“ anbe­langt – das beun­ru­higt mich nicht. Ich weiß, dass die russi­sche Kultur eh nicht verschwindet, und einige ihrer Elemente würde ich selbst canceln. Was die Befürworter:innen des Krieges unter den russi­schen Kultur­schaf­fenden und den übrigen Promi­nenten anbe­langt – selbst­ver­ständ­lich sollen sie maximal dafür bezahlen: mit ihrem persön­li­chen Ansehen, ihrem Geld und ihren Privi­le­gien. Doch Sank­tionen und Cancel­ling sind trotzdem nicht das gleiche. Sank­tionen, die einfache Leute bedrängen, schwä­chen nicht das Regime, im Gegen­teil stärkt es seine Propa­ganda, nach dem Motto: „Der ganze kollek­tive Westen ist gegen uns“. Und nun, was das Inter­esse des Westens für die ukrai­ni­sche Kultur anbe­langt, das vor dem Hinter­grund dieses Krieges entstanden ist – das kann man nur unter­stützen. Ich hoffe, dass im Ergebnis in Europa und auf der ganzen Welt, von Russ­land will ich gar nicht reden, endlich deut­lich wird, dass die ukrai­ni­sche Sprache, Kultur, Staat­lich­keit Dinge sind, die ganz unab­hängig von Russ­land bestehen.

Dein Lied „Freunde, fort, immer­fort„, das mir sehr gefällt, wer  oder was hat es inspiriert?

Das ist ein Lied über die Erleb­nisse vieler Bekannter, Genoss:innen und Russ:innen im Allge­meinen, die es über verschie­dene Länder verstreut hat, und wie sich unter diesen Bedin­gungen gleichsam alltäg­liche Bezie­hungen in unserem Leben neu anfühlen – die Heimat, die Familie, die Eltern, die Kinder und die Haustiere.

Russ:innen? Aber ist ja im Lied auch von Bombar­de­ments die Rede…

Die Bombar­de­ments sind weit weg, aber früher waren sie eher ein Nach­rich­ten­hin­ter­grund, der eine Welt zwischen uns markierte („in der Stille saßen wir zusammen“), jetzt reißen die Bombar­de­ments tiefe Gräben zwischen den Menschen auf.

Vielen Dank, Kirill, für die Unter­hal­tung. Ich hoffe wir reden bald wieder, und wenn nicht im wunder­schönen Marseille oder Paris, so in einem ganz neuen Moskau, einem Moskau ohne Archaik.