Matthias Meindl: Wir haben dieses Gespräch in Marseille begonnen. Erzähl doch bitte, wie Du dort gelandet bist. Marseille war eine Metropole der Emigration jüdischer Intellektueller und kommunistischer Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, aber auch sozialistischer russischer Revolutionäre nach der Oktoberrevolution. Fühlst du dich als Exilant?
Kirill Medvedev: Ich bin aus familiären Gründen in Europa gelandet, die allerdings mit dem Krieg verbunden sind. Im Februar arbeitete meine Frau Anna Moiseenko in Brüssel an ihrem Film über die systemkritische Comiczeichnerin Viktoria Lomasko, im Sommer stand die Geburt unseres Kindes bevor. Wir haben entschieden, dass wir nicht auf die Geburt des Kindes warten können, während wir gleichzeitig damit rechnen müssen, dass die Polizei bei uns in Moskau an die Tür klopft. Ich habe nie an Emigration gedacht und ich denke auch heute noch nicht daran. In der Emigration kann man viele nützliche Dinge tun, aber für einen Aktivisten und Dichter des Protestes, als welcher ich mich fühle, ist die Erfahrung der Isolation vom heimischen Boden qualvoll. Es gibt eine Menge interessanter Dinge in Europa, unter anderem im Bereich des Aktivismus und der Politik, um sich aber hierein zu vertiefen, bräuchte ich ein weiteres Leben. Ich lebe das, was in Russland passiert, und ich denke, ich werde sehr bald zurückkehren.
Du machst dich in deinen kulturpolitischen Essays seit langen für eine grass-roots-Politik stark und befürchtest eine Entpolitisierung der russischen Bevölkerung. Die Strategie linker grass-roots-Politik kam Vielen in der Ära der Putin’schen Stabilität in den 2000er Jahren noch verrückt vor. Aber ich habe doch das Gefühl, dass nun klar wird, dass diese realistischer war als alle oppositionellen Träume eines Staatsumschwungs in Präsidentschaftswahlen. Was denkst Du darüber? Waren, vom heutigen Standpunkt aus, die Strategien der neuen linken Bewegung in Russland richtig, im Besonderen Deine? Und worin besteht heute die Aufgabe – lediglich im Überleben?
Ja, in der Mitte der 2000er Jahre hatte ich die große Befürchtung, dass unter den sanften (damals noch sanften) Fittichen der Putin’schen Diktatur in Russland eine neue Bourgeoisie aufgekommen sei, eine neue Mittelklasse, die sich endlich entpolitisiert darstellen und ganz dem consumerism widmen könne, die gerne Normalisierung und Stabilität wolle und deswegen zu konservativen Weltanschauungen und zu Loyalität neige. Deswegen ist es die Aufgabe der progressiven Künstler:innen und Intellektuellen, die Normalisierung zu verhindern, d.h. sich selbst in politisch engagierte Subjekte zu verwandeln, den eigenen Platz in diesem System zu analysieren und sich nicht ins künstlerische Schaffen und in Wissenschaft als private Praktiken zurückzuziehen. Demokratie wird in Russland weder von der Wirtschaft noch vom Machtapparat hervorgebracht werden. Demokratische Institutionen kann man nur mit unaufhörlichen Anstrengungen von unten aufbauen, das ist die Aufgabe sozialer Bewegungen, von Gewerkschaften, von jeglichen selbstorganisierten Initiativen. In diesem meinem Programm gibt es einen großen Glauben an Aktivismus und Verzichtshaltung, aber Alternativen sehe ich nach wie vor nicht. Deswegen habe ich mich all die Jahre in diesem Fahrwasser bewegt.
Die Strategie, sich an allgemeinen zivilgesellschaftlichen Protesten zu beteiligen, an einem gemeinsamen Block gegen die Diktatur, und gleichzeitig die Beteiligung in den Gewerkschaften, die Unterstützung der regionalen Bewegungen und Proteste, war richtig. Die letzten zehn Jahre gab es in Russland einige Schlüsselereignisse und -trends. Dazu gehören die Recherchen Naval’nyjs, die den Hass im Volk gegen die reichen Nutznießer der Korruption geschürt haben, dazu gehören die feministische Bewegung, die Bewegung der kommunalen Abgeordneten. Dazu gehören die regionalen Proteste gegen Mülldeponien und gegen die Vorherrschaft Moskaus, die Proteste der Angestellten im öffentlichen Dienst (der Gewerkschaft der Sanitäter „Aktion“) und der Gewerkschaften in der Plattform-Ökonomie („Kurier“), das Aufkommen radikaler städtischer Politiker in und außerhalb der KPRF (die meisten von ihnen werden heute von der Partei für ihre übermäßige Radikalität oder für ihren Anti-Kriegs-Standpunkt verdammt). Und schließlich gehört auch dazu, dass die Unzufriedenen gelernt haben, mit Smart Voting den Kandidat:innen der Regierung Stimmen zu entziehen. Gerade die Linken haben sich entwickelt, die sich in diesen Kontexten bewegt haben, und die sich nicht in Dogmatik eingesponnen haben. Ich bin überzeugt, dass dieser Krieg eine Reaktion auf das Auftauchen einer neuen Opposition in Russland war, in die Linke eine große Rolle spielte.
Das macht mich neugierig – im Westen herrscht die Wahrnehmung vor, dass es nach 2013 gar keinen Widerstand und keine Opposition mehr gab in Russland. Nun hat in der Tat Naval’nyj große Aufmerksamkeit hervorgerufen, aber von einer linken Opposition in Russland hat wirklich kaum jemand gehört. Denkst Du, diese westliche Wahrnehmung, die ich schildere, ist falsch? Und was den Krieg anbelangt, könnte es nicht wohlmöglich umgekehrt der Fall sein, dass Putin aufgrund der Abwesenheit einer Opposition Gelegenheit fand, sich seinem Projekt einer Selbsteinschreibung in die Geschichtslehrbücher zu widmen?
Die zweite Hälfte der 2010er Jahre sah einen großen Bedeutungszuwachs lokaler und regionaler Politik, in der führende Persönlichkeiten schrittweise Bekanntheit erlangen konnten. Für die Linke etwa bedeutete Michail Lobanovs erfolgreiche Wahlkampagne bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2021 einen großen Aufbruch. Lobanov ist ein Gewerkschaftler, ein Aktivist in seinem Bezirk und ein Hochschullehrer an der Staatlichen Universität, der von der Kommunistischen Partei aufgestellt wurde, aber eine sehr breite Unterstützergruppe bilden konnte: von Linksradikalen und urbanen Ökoaktivist:innen bis hin zu bekannten Meinungsführern der liberalen Opposition. In der Konkurrenz mit einem bekannten Fernsehmoderator von der Partei Einiges Russland gewann er nach Stimmen in den Wahlbüros, erhielt sein Mandat indes nicht wegen des Fakes mit der „elektronischen Wahl“, wie übrigens noch einige andere Oppositionelle. Den Namen Lobanov kennt man zunehmend auch im Westen.
Zu Deiner zweiten Frage: 2021 hatte Putin das schlechteste Ergebnis seiner Laufbahn. Die Vergiftung Naval’nyjs und die Entfesselung des Kriegs sind hochriskante Schritte, die er nicht unternommen hätte, wäre alles in Ordnung gewesen und hätte er keine Konkurrenz gehabt.
Die Bedingungen für oppositionelle politische Aktivität in Russland sind jetzt extrem gefährlich und wahrscheinlich wird alles noch schlimmer. Welche Formen des Protests und der Aktivität ist den Aktivist:innen nun überhaupt geblieben? Und glaubst Du, dass das Regime mit Repressionen alle Ergebnisse von dreißig Jahren Oppositionsarbeit wird auslöschen können, oder eher nicht?
Die Aufgabe der Aktivist:innen ist es, mit ihrem Beispiel zu zeigen, dass die Praktiken der Solidarität und Selbstorganisation funktionieren, und dass wir uns darauf im richtigen Moment stützen können. Aber ich denke, vieles hängt nicht unbedingt von den Aktivist:innen ab, sondern von denen, die in Russland bleiben, die den Krieg nicht akzeptieren, die zwar nicht bereit sind, öffentlich zu demonstrieren, die aber bereit sind, ihre Position im privaten Rahmen oder im Berufsleben zu verteidigen. Je mehr es von diesen Leuten geben wird, desto geringer ist die Chance, dass es dem Regime Putins gelingt, eine neue, teilweise durch die Propaganda vorgestanzte, teilweise einfach entpolitisierte Nation zu schaffen.
Aber um solche Leute zu unterstützen und um zu verhindern, dass sie verzweifeln oder sich auf die Seite des Bösen schlagen, müssen Aktivist:innen, die sich im Exil frei äußern können, eine gemeinsame positive Plattform formulieren. Zu sagen, dass wir als Nation nicht mehr existieren, dass wir vollständig verstummen oder uns selbst canceln müssen, dass alle Russ:innen die gleiche Verantwortung tragen, dass unsere Geschichte eine ununterbrochene Aneinanderreihung von Verbrechen ist, dass Russland überhaupt aufhören müsse zu existieren – all das hilft nicht dabei, Putin von innen zu stürzen. Vielmehr spielt es ihm in die Hände, denn es bringt die Zweifelnden dazu, sich an die Machthaber zu schmiegen. Die Aufarbeitung unser aller Verantwortung für diesen Krieg, wie und warum wir zusammen mit unseren sogenannten Führern dort gelandet sind, ist unabdingbar. Aber das braucht viel Zeit und wird vielleicht erst später möglich sein, nachdem dieses Regime von der Bildfläche verschwunden ist.
Bis dahin brauchen wir eine einfache allgemeine Plattform – wir sind gegen diesen Krieg, gegen den Mord an Ukrainer:innen, gegen das Sterben von Russ:innen. Es gibt Dinge in der Vergangenheit, die uns inspirieren, auf die wir uns jetzt stützen können, und es gibt Dinge, auf die man in der Zukunft hoffen kann.
Du wurdest schon am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem militärischen Überfall auf die Ukraine, verhaftet für eine Mahnwache: „Gegen den Krieg gegen die Ukrainer:innen und Russ:innen“, und das Lied Deiner Band Arkadij Koc „Fuck the War!“ lässt auch keinen Zweifel daran, wie Du zu diesem Krieg stehst. Man mag sich erinnern, dass einst Serhij Žadan Gedichte in der Serie „kraft“ Deines Freien Marxistischen Verlags veröffentlicht hat. Aber sind Dir Beziehungen mit Ukrainer:innen, im Besonderen mit Linken, geblieben, nach fast einem vollem Jahrzehnt des bewaffneten Konflikts?

Plakat der Band Arkady Kots
Ja, Verbindungen sind geblieben, sowohl persönliche als auch politische, zum Beispiel stehen meine Parteigenoss:innen aus der Russländischen Sozialistischen Bewegung in engem Austausch mit der ukrainischen Bewegung „Social’nyj Ruch“ [Soziale Bewegung], die klar für die Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Imperialismus eintritt. Aber man kann nicht sagen, alles verliefe glatt – dieser Krieg zwingt dazu, sehr vieles neu zu überdenken. Was ist Internationalismus, was ist Patriotismus, was ist nationale Selbstbestimmung, was ist Dekolonisierung?
Ich halte diesen Krieg für ein Verbrechen der Machthaber, die sich zugegebenermaßen nicht nur auf ihre eigenen Ideen und Interessen stützen, sondern auf die imperialen Gefühle eines großen Teils der Bevölkerung. Ich habe großen Respekt vor den ukrainischen Linken, die ihr Land verteidigen. Ich hoffe sehr, dass ihre Kampferfahrung und ihr Ruf als Vaterlandsverteidiger:innen ihnen in der Nachkriegs-Konkurrenz mit Ultrarechten innerhalb des Landes helfen wird. Aber ich kann meine Position nicht pro-ukrainisch nennen, ich habe eine pro-russische Position, und zwar bin ich für ein Russland, das seine Nachbarn nicht angreift, ich bin gegen ein Russland, das sich in dreißig Jahren des kapitalistischen Aufbaus stetig faschisiert hat und nun erfolglos versucht, mit Gewalt in der Weltelite mitzumischen – auf Kosten ukrainischen und russischen Lebens. In Russland will die Mehrheit dieses Schlachten nicht, und ich denke, uns eint der Gedanke, dass derjenige, der diesen Angriffskrieg am 22. Februar letzten Jahres begonnen hat, auch derjenige sein sollte, der ihn beenden muss.
Du sprichst einerseits von einer demokratischen Bewegung von unten. Aber wer bildet dieses ‚Wir‘, wenn nicht Menschen, die im Zentrum des Imperiums lokalisiert sind? Vielleicht wollen ja jetzt viele Vertreter:innen der nationalen Minderheiten in der Russischen Föderation diesem „wir“ nicht mehr angehören, und träumen eher davon, dass die RF zerfällt. Und wozu sollten sie jetzt warten, bis die RF sich demokratisiert und reformiert, damit eine sozialistische Demokratie unter der Hegemonie russischer Sozialist:innen einträfe. Dafür gibt es ja m.E. wenig Anzeichen, oder nicht? Muss man nicht unbedingt bemerken, dass auch der linke Anti-Imperialismus überprüft werden muss, und dass selbst die Parole „Sozialismus oder Barbarei“, die 1914 durch die radikale Internationalistin und Imperialismustheoretikerin Rosa Luxemburg popularisiert wurde und die Du in einem Deiner Essays 2007 zitiert hast, einen kolonialen Beigeschmack bewahrt, weil vorausgesetzt wird, dass ‘die Barbaren’ keinen Sozialismus schaffen können?
„Wir“ – das sind die Bürger Russlands, die gegen diesen Krieg sind und meinen, dass er von der Russländischen Föderation selbst beendet werden sollte. Perspektiven auf die zukünftige Ordnung des Landes kann es dabei unterschiedlichste geben. Ob sich die Trends zur Abspaltung des einen oder anderen Territoriums verstärken werden, ist eine Frage der Zukunft, denn jetzt kennen wir die realen Stimmungen in den Republiken der RF gar nicht, und das Thema der Abspaltung diskutieren kleine Gruppen in der Emigration. Ich meine, dass die Linken jetzt nicht für und nicht gegen territoriale Abspaltungen eintreten sollten, sondern für eine neue föderative Republik, begründet auf größtmöglichen Rechten für die Regionen und der Aufarbeitung des imperialen Erbes. Ob es gelingt, ein solches Programm gemeinsam mit Linken und Demokrat:innen aus den Regionen und Republiken voranzubringen, ist im Moment nur schwer zu sagen. Aber wenn die Frage der Unabhängigkeit des einen oder anderen Territoriums sich plötzlich wirklich stellt, dann dürfen die Linken natürlich nicht gegen diese sein, sondern müssen für die größtmögliche Respektierung der Rechte aller Gruppen und der Arbeiter:innenrechte auf diesen Territorien eintreten. Was das Wort „Barbarei“ anbelangt, so ziehe ich in der Tat das Wort „Archaik“ vor.
Um noch einmal auf Deine vorhergehende Frage zurückzukommen – Ich würde meine Position auch gerne eine internationalistische nennen, aber ich spüre, dass dieser Begriff mit neuem Leben gefüllt werden müsste. Internationalisten – so nennen sich heute auch die marxistischen Scholastiker, die Russland und die Ukraine, den Aggressor und das Opfer, über einen Kamm scheren, auf der Grundlage dessen, dass beide „bourgeoise Staaten“ sind, und die, die glauben, dass die Abchas:innen wegen der imperialistischen Politik der Russländischen Föderation gegenüber Georgien kein Recht auf ihre Selbstbestimmung haben. Ein neuer Internationalismus und ein neuer Universalismus sind lebensnotwendige Forderungen, aber wie der aussehen wird, das bleibt eine Frage für die Zukunft.
Welche Rolle, wenn überhaupt, erfüllen jetzt die russische Literatur und Kunst in Russland selbst und im Ausland? Hast Du eine Meinung zum Thema des vermeintlichen Cancellings der Russischen Kultur, oder findest Du dieses Thema eher uninteressant?
Die Literatur und die Kunst erfüllen in jedem Fall idealerweise die Aufgabe, die Wirklichkeit in maximal unabhängiger Weise zu reflektieren, ohne zu vergessen, dass die Kunst eine politische Rolle erfüllt, auch wenn das Autor:innen nicht unbedingt wahrhaben wollen. Eine wichtige Aufgabe für die Russländer:innen, die auf die eine oder andere Weise mit der Kultur verbunden sind, ist es, in ihrem eigenen Schaffen, ihrer Forschung oder Aufklärungsarbeit die russische Kultur mit ihrem starken imperialen und konservativen Ausgangspunkt aufzurütteln und umzubauen. Die progressiven, im Besonderen die antibellizistischen und antipatriarchalen Traditionslinien, die es in unserer Kultur auch im Überfluss gibt, zu beleuchten, zu entwickeln oder zu schaffen.
Überhaupt habe ich den Eindruck, dass in den kommenden Jahrzehnten die Kunst als Schaffung und Umschaffung der Gemeinschaften zum Mainstream wird. Darin besteht ein riesiges schöpferisches und gleichzeitig radikal politisches Potenzial. Einst haben wir viel diskutiert und diagnostiziert, wie ein Exit aus der Postmoderne genau ausschauen könnte. Vielleicht ist es gerade so – wir können nicht zur direkten Aussage und den übrigen großen Narrativen zurückkehren, aber die mediale und historische Logik im 21. Jahrhundert führt uns zur Schöpfung neuer Identitäten, neuer Gemeinschaften, neuer Bündnisse – und die kreative Phantasie ist hier kurzgeschlossen mit der politischen Realität, mit allen Risiken, die einer solchen Verbindung entspringt.
Die Putin’schen Ideologen widmen sich ja derzeit der Rekonstruktion dieses loyalen, religiösen, autokratischen Russlands, das es nie gegeben hat. Und hier gibt es kein schöpferisches Potenzial, das ist eine tote Zone, ein Versuch, den hässlichen Traum von der Macht und dem Gehorsam zu konservieren, den niemand braucht, auch die Russländer:innen nicht. Und eine Antwort auf die Frage zu suchen, was es eigentlich heißt, russisch zu sein, heute und morgen, was es heißt, Tatar:in oder Jakut:in zu sein, worin genau man dem sowjetischen Projekt die Treue halten sollte, was es heißt, internationalistisch zu sein, wie die Trägerinnen dieser Identitäten im Leben verbunden sein werden, in der Politik und in der Kultur, das sind reale Fragen.
Aber vielleicht muss man dem sowjetischen Projekt in Garnichts die Treue halten? Die Gewalt, die wir nun in der Ukraine sehen – lauerte sie nicht immer hinter der falschen folkloristischen Völkerfreundschaft, hinter der verlogenen Vielvölkerpolitik in der UdSSR? Denn diese war eigentlich immer auf die Eliminierung der nationalen Minderheiten ausgerichtet, oder doch zumindest darauf, ihren Selbstausdruck zu kanalisieren und aus dem Fahrwasser der grossen Kultur und Politik herauszuhalten?
Die Aufmerksamkeit den nationalen Kulturen und ihrer Entwicklung gegenüber, unter anderem auch zum Nachteil einer dominierenden Kultur, ist eine frühsowjetische Idee. Unlängst fand eine Konferenz in Marseille zum Thema der Utopie statt, und natürlich waren dabei nicht wenige Beiträge der Revolution von 1917 und der frühsowjetischen Utopie gewidmet. Die Geschichte des Feminismus etwa wäre nicht möglich ohne Aleksandra Kollontaj und die ganze frühsowjetische Erfahrung der Frauenemanzipation. Sogar die offiziöse sowjetische Rhetorik des „Kampfs um den Frieden“ ist heute für uns zu einem Anknüpfungspunkt für Widerstand geworden, zumindest zu einem guten Argument für die ältere Bevölkerung. Das ist unser aller progressive Vergangenheit, die, wie wir es sehen, die Welt nach wie vor nötig hat, aber in erster Linie brauchen wir sie selbst.
Die Deportationen der Volksgruppen und die Repressionen, die sich an der nationalen Zugehörigkeit in der Sowjetunion orientierten, z.B. die „deutsche Operation“ des NKVD im Jahr 1937 – das ist ein typisches Beispiel für die Anwendung kollektiver Verantwortung. Man muss aufhören, solche Maßnahmen mit Wohlwollen zu betrachten – und das gilt nicht nur für Fans der Sowjetunion.
Die UdSSR war ein widersprüchliches Projekt, durchlief viele Perioden. Elemente des Imperialismus und repressiver Diktatur vereinigten sich in ihr mit Versuchen der Schaffung einer modernen, säkularen Vielvölker-Gemeinschaft auf einem ungleichmäßig entwickelten Riesenterritorium. Man muss alle Verbrechen der Sowjetunion aufdecken, aber eine vollkommene Ablehnung ihres Erbes – das ist der Traum der Monarchisten, der Ultrakonservativen und Libertären, und das wäre die Garantie eines endgültigen Absturzes in die Archaik.
Kirill, mir ist doch etwas unwohl zumute, wenn ich solche ausgewogenen Urteile über die Sowjetunion höre. Irgendwie ist es ja doch eine Absurdität, über diese als historische Entität zu urteilen, und während wir uns unterhalten, wird wieder das GULAG-System angekurbelt, und sogar gewöhnlichen Menschen gibt man drakonische Freiheitsstrafen für sogenannte „Fakes über Russlands Streitkräfte“, d.h. wenn sie über tatsächliche Kriegsverbrechen schreiben. Wie kann man überhaupt über die Sowjetunion im Präteritum schreiben, wenn sie offensichtlich in diesen Praktiken weiterlebt und täglich Menschen frisst? Mir scheint, das ist doch ein performativer Widerspruch.
Okay, lass uns ein paar Dinge auseinanderhalten. Die Repressionen in der Sowjetunion, Stalins GULAG, die imperialistischen Taten wie die Aufteilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, die Einmärsche in Ungarn und die Tschechoslowakei – das sind unleugbare Tatsachen der sowjetischen Geschichte, die natürlich auch auf die heutige sogenannte Russische Welt Einfluss haben. Aber unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen die Sowjetunion und ihr Erbe wurden im postsowjetischen Russland schlimme Verbrechen begangen: die Privatisierung der Industrie etwa, – Anatolij Čubajs, ein wichtiger Macher der Jelzin- und Putinzeit, hatte es ja auch so gesagt: „Jede verkaufte Fabrik ist ein Nagel im Sarg des Kommunismus“. Aber auch der Beschuss des Parlamentsgebäudes im Jahre 1993, die schmutzige Kampagne für Jelzin im Wahlkampf 1996, die Inthronisierung Putins. All das wurde unter der Losung „lasst uns bloß nicht in den Kommunismus zurückkehren“ getan. Das heutige Russland als Ganzes ist auf der Absage an alles aufgebaut, was im sowjetischen Projekt mit Internationalismus, Modernisierung, Massenaufklärung und sozialer Gerechtigkeit verbunden wurde. Und im Ergebnis haben wir einen völlig neuen historischen Organismus, der von verschiedensten Kräften und Menschen gemacht wurde – von Schranzen aus dem KGB und der Nomenklatur, die sich anfangs als Liberale maskierten, dann als Fans des zarischen Imperiums, ferner von ehemaligen sowjetische Spekulanten, die sich in Oligarchen, Marktreformer und rechte Intellektuelle verwandelten, und schlussendlich von einer neuen Generation von Bürokraten, denen die sowjetischen Werte nur fremd und unverständlich sind.
Die Wahrnehmung der Putin’schen RF als Erbin der Sowjetunion ist bei uns in Russland Teil eines liberalen Dogmas, das den Erbauern der Jelzin’schen Diktatur ermöglicht hat, die Verantwortung für diese abzugeben, und die wiederum ganz folgerichtig in die Putin’sche überging. Und die vollständige Ablehnung der UdSSR beinhaltet die eindeutige Botschaft an die heutigen Russ:innen: „Eure Eltern, Großmütter und Großväter haben einen blutigen Albtraum geschaffen, sind in ihm umgekommen und haben für ihn gekämpft, ihr habt nichts, worauf ihr Euch stützen könnt in Eurer Geschichte, Euch wird nichts gelingen, solange ihr nicht anfangt, dem zivilisierten Westen zu folgen“. Aber eine ähnliche Rhetorik aus den 1990er Jahren hat im Ergebnis in diesem imperialen Revanchismus, dieses Ressentiment geführt, das wir jetzt sehen.
Was das Cancelling betrifft. Ich finde Cancelling und jegliche Verfolgung gemäß dem Merkmal der Herkunft schlecht, und ich halte das für eine beinahe nazistische Praxis. Kurz bevor wir uns in Marseille getroffen haben, tauchte auf unserer Wohnungstür ein englischer Schriftzug auf – „Out Russia ‚Z‘ go home“. Wir haben dem Vermieter geschrieben, dass man uns russische Oppositionelle und Antifaschist:innen ja an die Anwesenheit von Ultrarechten nicht erst gewöhnen muss, aber vielleicht wäre ihm selbst solch unsichere Verhältnisse nicht recht. Er holte Erkundigungen ein, und es stellte sich heraus, dass der Nachbar unter uns, ein junger Dichter, die Nacht zuvor eine Party gefeiert hatte, und einer der sehr betrunkenen Gäste den Entschluss gefasst hatte, so etwas zu schreiben. Der Vermieter kam zu uns, um sich zu entschuldigen, und dann hat der Schuldige auch selbst etwas umgedacht, und hinterließ auf sehr rührende Weise vor der Türe einen Korb mit Pralinen und Entschuldigungen. Für meine hier in Marseille lebenden Freunde und Freundinnen ist dieser Fall eine Absurdität, oder jedenfalls eine Ausnahme – hier gibt es eine durch und durch internationale Community, und die Geschichte, wie durch diese Stadt mehr als zweitausend Jahre lang Millionen von Migrant:innen und Flüchtlinge durchreisten oder in ihr festgehalten wurden, darunter deutsche Kommunist:innen und Jüd:innen, ist Teil der lokalen Kultur.
Es ist also schwer zu sagen, welcher Informationshintergrund oder welche persönlichen Empfindungen auf diesen Menschen wirkten. Eines ist aber klar – wie der Marxismus und wie jegliche progressive und befreiende Idee, die unseren Verstand und unsere Leidenschaften beherrschen können, treibt der antiimperialistische und dekoloniale Diskurs die Geschichte voran, und ist doch gleichzeitig fähig, eine Menge Archaik und Ungerechtigkeiten in bestimmten Momenten und in bestimmten Zonen hervorzubringen. Davor sollte man die Augen nicht verschließen.
Das ist eine eindrückliche Geschichte, aber betrifft sie wirklich Cancelling? Als ein Beispiel von Russophobie erscheint mir dieses Verhalten für sich nicht unbedingt ‚beinahe nazistisch‘. Dieser junge Mann hatte wohl kaum eine vollumfängliche Ideologie einer Rassenhierarchie. Nazis schenken auch keine Pralinen nach dem Anschlag. Und was wirklich Cancelling anbelangt –– kann man Argumente pro Cancelling finden, die überhaupt nicht einer ‚beinahe-nazistischen‘ Logik verpflichtet sind: Zum einen einfach die Logik von Sanktionen gegen die Untertanen eines verbrecherischen Regimes, damit diese aus dem Gehorsamsverhältnis heraustreten, zum anderen eine Ökonomie der Aufmerksamkeitslenkung, welche die Kanonisierung der Werke einer dominierten Kultur ermöglicht.
Deswegen habe ich ja auch gesagt, vielleicht nicht deutlich genug, dass ich gegen Cancelling eben aufgrund des Faktums der Herkunft bin. Und ja, ich bleibe dabei, dass die Einschränkung eines Menschen in seinen Rechten, oder die Hetze gegen ihn aufgrund des Faktums seiner Herkunft eine beinahe nazistische, ultrarechte Idee und Praxis ist. Was die „Auslöschung der russischen Kultur“ anbelangt – das beunruhigt mich nicht. Ich weiß, dass die russische Kultur eh nicht verschwindet, und einige ihrer Elemente würde ich selbst canceln. Was die Befürworter:innen des Krieges unter den russischen Kulturschaffenden und den übrigen Prominenten anbelangt – selbstverständlich sollen sie maximal dafür bezahlen: mit ihrem persönlichen Ansehen, ihrem Geld und ihren Privilegien. Doch Sanktionen und Cancelling sind trotzdem nicht das gleiche. Sanktionen, die einfache Leute bedrängen, schwächen nicht das Regime, im Gegenteil stärkt es seine Propaganda, nach dem Motto: „Der ganze kollektive Westen ist gegen uns“. Und nun, was das Interesse des Westens für die ukrainische Kultur anbelangt, das vor dem Hintergrund dieses Krieges entstanden ist – das kann man nur unterstützen. Ich hoffe, dass im Ergebnis in Europa und auf der ganzen Welt, von Russland will ich gar nicht reden, endlich deutlich wird, dass die ukrainische Sprache, Kultur, Staatlichkeit Dinge sind, die ganz unabhängig von Russland bestehen.
Dein Lied „Freunde, fort, immerfort„, das mir sehr gefällt, wer oder was hat es inspiriert?
Das ist ein Lied über die Erlebnisse vieler Bekannter, Genoss:innen und Russ:innen im Allgemeinen, die es über verschiedene Länder verstreut hat, und wie sich unter diesen Bedingungen gleichsam alltägliche Beziehungen in unserem Leben neu anfühlen – die Heimat, die Familie, die Eltern, die Kinder und die Haustiere.
Russ:innen? Aber ist ja im Lied auch von Bombardements die Rede…
Die Bombardements sind weit weg, aber früher waren sie eher ein Nachrichtenhintergrund, der eine Welt zwischen uns markierte („in der Stille saßen wir zusammen“), jetzt reißen die Bombardements tiefe Gräben zwischen den Menschen auf.
Vielen Dank, Kirill, für die Unterhaltung. Ich hoffe wir reden bald wieder, und wenn nicht im wunderschönen Marseille oder Paris, so in einem ganz neuen Moskau, einem Moskau ohne Archaik.
Leider gibt es nur wenige russen, welche so differenziert über das Erbe der Sowjetunion denken. Es überwiegt bedauerlicherweise der dumpfe Wunsch, anderen die eigene Fantasielosigkeit aufzuzwingen. So setzen gegenwärtig Hunderttausende von russen ihr Leben dafür ein, den Ukrainern das Leben zur Hölle zu machen, ohne dass ihr eigenes auch nur minimal besser würde. Ich weiss echt nicht, wie ich diese kollektive Dummheit einschätzen soll. Wäre es nicht viel klüger, diese Leben für die unbeschwertere Zukunft der eigenen Kinder einzusetzen und die verbrecherische Mafiabande an der Spitze des Staates endlich davonzujagen? Ja, ich weiss, dass das viele russen mit ihrem Leben… Mehr anzeigen »