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Der diskrete Charme der #Authen­ti­zität

„To thine own self be true“ – sei Dir selbst treu. So defi­niert Polo­nius in Shake­speares Hamlet Authen­ti­zität. Diese Sentenz ist heute beliebter als je zuvor. Authen­ti­zität ist zur Mode­formel unserer Zeit avan­ciert. Online infor­mieren uns hunderte von Ratge­bern wie die Karrie­re­bibel, dass im Zeit­alter des ‚Selbst­mar­ke­ting‘ nur der privat und beruf­lich erfolg­reich sein wird, der sich stets selbst treu bleibt. Eine rasch wach­sende Fach­li­te­ratur, die in unzäh­ligen Management-Trainingskursen Anwen­dung findet, preist Authen­ti­zität als das wich­tigste Charak­te­ris­tikum erfolg­rei­cher Führungs­kräfte. Dasselbe Voka­bular erscheint immer öfter in der Sprache von Poli­ti­kern, die sich als authen­ti­sche Alter­na­tiven zu einem korrupten poli­ti­schen Estab­lish­ment präsen­tieren. „The biggest attri­bute you can now have in [American] poli­tics is authen­ti­city“, schrieb Damien McBride 2015. Und dieses Attribut ist nicht auf ein spezi­fi­sches poli­ti­sches Milieu beschränkt. Sätze wie „his words have not been scripted or prepared for the press; he speaks from the heart“, „it’s now clear to every voter that [he] is nothing but himself“, und „no bull­shit, unvar­nished opinion and beliefs“ preisen Poli­tiker sehr unter­schied­li­cher ideo­lo­gi­scher Coleur: in diesem Falle Donald Trump, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn. Auch auf Angela Merkels Wahl­pla­katen von 2017, mit dem schlichten Slogan „Sie kennen mich“, klang Ähnli­ches an: Der Wähler, die Wählerin wird aufge­rufen, für die Verläss­lich­keit, Soli­dität und Echt­heit eines Kandi­daten, einer Kandi­datin zu stimmen, nicht für ein spezi­fi­sches poli­ti­sches Programm.

Gesam­meltes Mate­rial vom Leibniz-Forschungsverbund Authen­ti­zität, Quelle: leibniz-historische-authentizitaet.de

Authen­ti­zität ist eine allseits beliebte Antwort auf die Wahr­neh­mung einer Krise. Worin diese Krise aber genau besteht, bleibt heiß umstritten. Manche dieser Krisen­dia­gnosen sind relativ konkret. Viele Kommen­ta­toren verweisen auf jüngere Banken­krisen, Korrup­ti­ons­skan­dale in Manage­ment und Politik – bzw. die Verflech­tung beider – und auf die durch fahr­läs­sige Geschäfts­prak­tiken großer Konzerne verur­sachten Umwelt­ka­ta­stro­phen. Der Ruf nach Führungs­kräften, die „unkor­rupt“, „unent­fremdet“, „sich selbst treu blei­bend“ sein sollen, reagiert auf solche eska­lie­renden Krisen­per­zep­tionen. Am authen­ti­schen Wesen solch neuer Führer soll dann eine „unau­then­ti­sche“ Welt genesen. Aber die Krisen­dia­gnose kann auch allge­meiner ausfallen. Kultu­relle Kritiker der Post­mo­derne wie Ingor Blüh­dorn diagnos­ti­zieren eine Praxis der dauernden Simu­la­tion als Symptom einer digi­talen Konsum­ge­sell­schaft, in der wir verlernt haben, authen­tisch zu handeln und zu fühlen – aber in der wir uns gerade deswegen nach der verlo­renen Authen­ti­zität sehnen.

Wissen­schaft­liche Begriffs­be­stim­mung und Enttarnungsbemühungen

Im deutsch­spra­chigen Diskurs findet sich derselbe Topos – aller­dings wird das Wort der Authen­ti­zität selbst hier spar­samer verwendet als von anglo-amerikanischen Kriti­kern, Kommen­ta­toren und Intel­lek­tu­ellen. Das liegt zum Teil an dem nach­hal­tigen Einfluss eines mehr durch seinen prägnanten Titel als durch seinen Inhalt bekannten Aufsatzes des deut­schen Philo­so­phen Theodor W. Adorno, der 1964 als Jargon der Eigent­lich­keit publi­ziert wurde. Adorno argu­men­tierte hier, dass das hohle Pathos einer der Authen­ti­zität verpflich­teten pseudo-sakralen Sprache der jungen Bundes­re­pu­blik sowohl stilis­tisch an den Natio­nal­so­zia­lismus anknüpfte als auch, durch die scheinbar un- oder ‚über­po­li­ti­sche‘ Qualität dieser Sprache, tatsäch­liche ideo­lo­gi­sche Konti­nui­täten mit der Zeit vor 1945 verne­belte. Der Aufsatz wurde wenige Jahre später unter dem Titel The Jargon of Authen­citiy ins Engli­sche über­tragen und machte dann Weltkarriere.

Gesam­meltes Mate­rial vom Leibniz-Forschungsverbund Authen­ti­zität, Quelle: leibniz-historische-authentizitaet.de

Seitdem ist der Authen­ti­zi­täts­be­griff suspekt: Sozial- und Kultur­wis­sen­schaft­le­rInnen sind eher bemüht, diese Formel zu ‚enttarnen‘, als sie erst einmal zu verstehen. Dies lässt sich leicht an den inzwi­schen klas­sisch gewor­denen ideo­lo­gie­kri­ti­schen Arbeiten aus den 1970er und 1980er Jahren beob­achten. Als ich im Zusam­men­hang mit der Arbeit an meinem neuen Buch Authen­ti­city: The Cultural History of a Poli­tical Concept zusammen mit dem engli­schen Poli­to­logen Mathew Humphrey letztes Jahr die neuere akade­mi­sche Lite­ratur zur Authen­ti­zität durch­ar­bei­tete, ergab sich aber auch hier ein ganz ähnli­ches Bild. Wissen­schaftler in einer ganzen Reihe von Diszi­plinen bemühen sich darum, Authen­ti­zität als ‚fake‘ zu demas­kieren. Andrew Potter diagnos­ti­zierte gar einen „authen­ti­city hoax“ als ein Symptom der Post­mo­derne schlechthin. Warum diese Idee aber trotzdem so attraktiv für so viele Menschen bleibt, und warum diese Attrak­tion auf kein bestimmtes ideo­lo­gi­sches Lager beschränkt ist, wird in dieser Lite­ratur nicht erklärt.

Dialek­tiken der Authentizitätskritik

Aus deut­scher Perspek­tive betrachtet, könnte man die erneute Konjunktur der Authen­ti­zität viel­leicht mit einem Verblassen der histo­ri­schen Erin­ne­rung sowohl an den Natio­nal­so­zia­lismus als auch an die Werke seiner frühen Kritiker erklären. Aber Authen­ti­zität als ein poli­ti­sches, soziales und ästhe­ti­sches Ideal, das uns hilft, Deka­denz, Entfrem­dung, Korrup­tion, kurz, „busi­ness as usual“ in der Erwach­se­nen­welt zu über­winden. Es hat eine lange Geschichte hinter sich – und eine, die sich auch durch das Werk ihrer vermeint­li­chen Kritiker zieht. Adornos eigene Schriften zur Musik­äs­thetik zum Beispiel benutzen den Begriff der Authen­ti­zität oft – und positiv.  Während Adorno die Musik Stra­win­skys als nur „Gebärden von Authen­ti­zität“ abtat, pries er den Kompo­nisten Arnold Schön­bergs als einen, der „sich mit geschlos­senen Augen den Forde­rungen der Sache über­lässt, um Authen­ti­zität aller­erst zu gewinnen“. Ganz im Sinne also der neuen Authen­ti­zi­täts­welle war hier Authen­ti­zität keine Atti­tüde, kein gewolltes Selbst­mar­ke­ting, sondern kam von Innen, aus der Sache selbst heraus. An seinen ideo­lo­gi­schen Gegnern wie zum Beispiel dem Philo­so­phen Martin Heid­egger störte Adorno nicht die Beru­fung auf Authen­ti­zität an sich, sondern ein aus seiner Sicht entfrem­deter Gebrauch dieses Wortes bzw. des verwandten Begriffs der ‚Eigent­lich­keit‘ – eine Unter­schei­dung, die in der engli­schen Über­set­zung von Adornos Kritik als Jargon of Authen­city aller­dings verloren ging. Aber die Stra­tegie, die posi­tive Authen­ti­zität des eigenen Projektes in Oppo­si­tion zur „falschen“ Verwen­dung desselben Begriffs bei poli­ti­schen Gegner zu defi­nieren, ist so alt wie der Authen­ti­zi­täts­be­griff selbst.

Authen­ti­zität – Konturen der Begriffsentwicklung

Authen­ti­zität ist keine Erfin­dung der Moderne, auch wenn der Sozio­loge Lionel Tril­ling dies in seinem einfluss­rei­chen Buch von 1971, Since­rity and Authen­ti­city, behauptet hat. Für Tril­ling bezeichnet der Begriff ‚since­rity‘, den man mit Aufrich­tig­keit oder Ehrlich­keit über­setzen kann, eine typisch vormo­derne Form von Authen­ti­zität, in der die soziale Verläss­lich­keit und Bere­chen­bar­keit im Vorder­grund stand. Dies änderte sich, so Tril­ling, mit der Romantik, wo since­rity durch den funda­mental a-sozialen Begriff der authen­ti­city verdrängt wurde, der die Selbst­ver­wirk­li­chung des genialen Indi­vi­duums bezeichnet, die ohne Rück­sicht auf, und oft auf Kosten von, sozialer Kohä­renz und gesell­schaft­li­chem Zusam­men­halt ausge­lebt wird.

Gesam­meltes Mate­rial vom Leibniz-Forschungsverbund Authen­ti­zität, Quelle: leibniz-historische-authentizitaet.de

Tatsäch­lich ist eine im Ursprung intro­ver­tierte Konzep­tion von Authen­ti­zität aber viel älter. Die etymo­lo­gi­schen Ursprünge des Wortes liegen im Altgrie­chi­schen: Es ist ein Kompo­situm von auto, selbst, and hentes, Tun oder Handeln. Authen­tisch sein bedeutet also zunächst, aus dem Selbst heraus, also aus eigener Moti­va­tion, zu handeln. In der christ­li­chen Theo­logie wurde Authen­ti­zität mit der nach der Vertrei­bung aus dem Para­dies verlo­renen mensch­li­chen Unschuld asso­zi­iert. Der bibli­sche Sünden­fall hatte den Menschen nicht nur von Gott, sondern damit auch von seinem eigent­li­chen, authen­ti­schen Selbst entfremdet. Ziel zahl­rei­cher theo­lo­gi­scher Diskus­sionen der frühen Neuzeit war es daher, zu entde­cken, wie eine authen­ti­sche Exis­tenz auch jenseits des Para­dieses zurück­zu­ge­winnen sei. Protes­tan­ti­sche Reformer wie Francis Bacon, Calvin und John Milton sahen die Lösung in einer neuen Bezug­nahme auf die Natur: Nur durch das Verständnis der Natur, d.h. der von Gott geschaf­fenen natür­li­chen Ordnung, könne der neuzeit­liche Mensch wieder Anschluss an ein authen­ti­sches Sein gewinnen. Ein hand­greif­li­ches Resultat solcher Über­le­gungen waren die bota­ni­schen Gärten der frühen Neuzeit, in denen eine scheinbar chao­ti­sche und will­kür­lich über alle Erdteile verstreute Schöp­fung wieder zusam­men­ge­führt und logisch geordnet wurde – und die es so den Menschen ermög­lichten, die wahre Ordnung der Natur, und damit auch der eigenen Natur, zu erfassen.

Diese Suche nach dem authen­ti­schen Selbst in und durch die Erfah­rung einer authen­ti­schen Natur­be­zie­hung zieht sich wie ein roter Faden durch die moderne Geschichte der Authen­ti­zität, auch als diese ihre explizit christ­liche Konno­ta­tion längst verloren hatte. Man findet sie seit dem 18. Jahr­hun­dert in der west­li­chen Faszi­na­tion mit soge­nannten ‚Wilden‘ und ‚primi­tiven‘ Natur­völ­kern, von Robin­sons Crusoes para­die­si­scher Insel über Gauguins Südsee­la­gunen bis zu Karl Mays India­nern und seinen heute noch uner­schüt­ter­li­chen Fans. Oft vermischt sich diese Sehn­sucht nach natur­be­zo­gener Authen­ti­zität mit einer Imagi­na­tion von Jugend­lich­keit, in der die Zuge­hö­rig­keit zu einer noch nicht korrum­pierten und verformten Gene­ra­tion selbst Authen­ti­zität garan­tiert. Für die 68er wurde diese Jugend­lich­keit zur poli­ti­schen Kampf­pa­role: „Trau keinem über 30!“ Aber auch schon ein halbes Jahr­hun­dert früher fanden sich ganz ähnliche Gedanken in den unter­schied­li­chen euro­päi­schen Spiel­arten der Jugend­be­we­gung. Was als Protest gegen eine entfrem­dete und ‚unna­tür­liche‘ Erwach­se­nen­welt begann, ließ sich in der Zwischen­kriegs­zeit leicht zur Kampf­an­sage gegen das gesell­schaft­liche poli­ti­sches ‚System‘ umfunk­tio­nieren. Und wie heute profi­tierten auch damals rechte und rechts­ra­di­kale Kräfte ebenso von dieser diskur­siven Mobi­li­sie­rung wie progres­sive Kritiker. Jugend war hier nicht nur das Aushän­ge­schild für eine Lebens­hal­tung, die (noch) nicht system­kon­form war. Sie fungierte auch als ein Symbol der verlo­renen Jugend der Mensch­heit an sich, also für jene para­die­si­sche Unschuld, die noch nicht vom Baum der Erkenntnis korrum­piert war. Viel­leicht beschwören auch deshalb heute vor allem solchen Poli­tiker die Authen­ti­zität, die selbst, wie Trump und Corbyn, bis vor kurzen kaum direkte Erfah­rung mit der Ausübung poli­ti­scher Ämter gehabt haben, und sich daher als nicht vom ‚System‘ korrum­piert präsen­tieren können.

Der anhal­tende Charme der Authentizität

Quelle: contentpuppy.com

Aber jenseits all solcher poli­ti­schen Instru­men­ta­li­sie­rung bleibt das Faktum bestehen, dass die Sehn­sucht nach Authen­ti­zität, also nach Alter­na­tiven zu einer Exis­tenz, in der sich Indi­vi­duen als von sich selbst entfremdet empfinden, über Epochen, ideo­lo­gi­sche und kultu­relle Grenzen hinweg ein wich­tiges Moment in der poli­ti­schen Imagi­na­tion zahl­loser Menschen ist. Zwar mögen falsche Propheten der Authen­ti­zität auf ille­gi­time Weise von solchen Sehn­süchten profi­tieren, aber wir täten besser dran, diese Sehn­sucht ernst zu nehmen, als sie als ‚hoax‘ abzutun, auf den nur dumme Menschen herein­fallen. Denn anders als viele andere poli­ti­sche und soziale Wunsch­vor­stel­lungen kann Authen­ti­zität nie rein passiv konsu­miert werden: Eine gesell­schaft­liche Ordnung mag zu unserer Entfrem­dung beitragen, aber ein authen­ti­sches Leben können wir nur dann wirk­lich erfahren, wenn wir selbst Verant­wor­tung für dessen Reali­sie­rung über­nehmen. Authen­ti­zität macht jeden Einzelnen von uns zu einem wesent­li­chen Akteur, nicht nur zum Empfänger von Ideo­logie oder Konsum­gü­tern. Andere poli­ti­sche Ideale wie Frei­heit oder Gerech­tig­keit werden erst dann glaub­würdig und erstre­bens­wert, wenn sie in Rela­tion zu einem authen­ti­schen Selbst und einer authen­ti­schen Gesell­schaft gedacht werden. Aus genau diesem Grunde ist Authen­ti­zität mehr als nur ein Mode­wort. Solange es im gesell­schaft­li­chen Diskurs nicht nur darum geht, wie wir prak­ti­sche Probleme lösen, sondern auch um die grund­sätz­li­chere Frage, wie wir in einer Gesell­schaft über­haupt leben, so lange wird auch der diskrete Charme der Authen­ti­zität wenig an Zauber­kraft einbüßen.

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