Die Diskussion um Flucht und Asyl hat gerade wieder Konjunktur. Laut der deutschen Innenministerin Nancy Faeser liegt dies daran, dass es ein „historisches Momentum“ gebe, um den jahrelangen Streit um die europäische Flüchtlingspolitik beizulegen und zu einem „gemeinsamen Asylsystem“ zu gelangen, das den Herausforderungen der gegenwärtigen Migrationsbewegungen gerecht werde. Der Weg dorthin, so lässt sich derzeit vielfach lesen, führte nur über die „Suche nach einem Kompromiss“. Es brauche, so hat etwa der niederländische Politikwissenschaftler Ruud Koopmans erklärt, „einen Kompromiss zwischen den progressiven und den konservativen politischen Lagern“ Europas, für die „das Thema Flüchtlinge“ gleichermaßen „ein machtvolles Mittel der Wählermobilisierung“ sei. Um auf „europäischer Ebene Kompromisse zu erreichen“, zeigt sich die Bundesregierung dabei auch „offen für einen restriktiveren Kurs in der Migrationspolitik als im Koalitionsvertrag vereinbart“. „Wir müssen“, so hat es etwa der Grünen-Politiker Anton Hofreiter vor wenigen Tagen im Spiegel formuliert, „echte Kompromissbereitschaft signalisieren und zugleich klarmachen, dass die andere Seite auch wirklich Verbesserungen mittragen muss“.
Der Zeitpunkt der aktuellen Debatte ist brisant, liegt er doch unmittelbar vor dem 30. Jahrestag des sogenannten „Asylkompromisses“ vom 26. Mai 1993. Durch diese Einigung hatte die Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP gemeinsam mit der Oppositionsführerin SPD nach jahrelangen Debatten an diesem Tag das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte nach Art. 16 GG reformiert und damit ausgehöhlt. Das in Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus 1949 ins Grundgesetz geschriebene Asylrecht hatte unbeschränkt gegolten und jedem Menschen ein Anrecht auf ein Asylverfahren garantiert, der die Bundesrepublik erreichte. Nach 1993 war dies nur noch dann möglich, wenn Menschen nicht aus einem sogenannten „Sicheren Drittstaat“ einreisten (d.h. Länder, in denen die Einhaltung von Flüchtlingskonvention und Menschenrechten gewahrt ist) oder aus einem „Sicheren Herkunftsstaat“ stammten (d.h. Länder, in denen es keine Verfolgung von Menschen gäbe). Dieser heftig umstrittene Vorgang ging in die Geschichte des vereinten Deutschlands ein. Der zeitliche Zusammenfall von Jahrestag und aktueller Debatte provoziert zahlreiche Analogien eines „Asylkompromiss 2.0“. Sie stellen die Frage, was ein „Kompromiss“ in Asylfragen eigentlich bedeutet – und für wen.
Die Konfliktlinien der „Asyldebatte“
Lange Zeit in der Geschichte der Bundesrepublik war Art. 16 GG trotz seiner Grundsätzlichkeit kaum ins Gewicht gefallen. Erst 1980 überstiegen die gestellten Asylanträge in der Bonner Republik erstmals die Zahl 100.000, die zudem mehr Menschen fasste, die nicht aus Europa stammten. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahlen (und ihrer politischen Instrumentalisierung) entfaltete sich in der Bundesrepublik der 1980er Jahre eine „ausländerfeindliche“ Stimmung. Deren Projektionsscheibe waren sowohl Arbeitsmigrant*innen und ihre Familien, also die Generation der „Gastarbeiter“, als nun auch in zunehmendem Maße Asylsuchende. Nach einem kurzfristigen Rückgang stieg – bedingt durch den Krieg in Jugoslawien, die Spätaussiedler*innen und dann vor allem durch den Zerfall der Sowjetunion – ab Mitte der 1980er Jahre die Zahl der Asylanträge in der Bonner Republik rapide an. Sie passierte 1988 erneut die Marke von 100.000 und kletterte nach dem Mauerfall weiter auf 190.000 Menschen im Jahr 1990 bis auf den Höchstwert von knapp 440.000 Anträge im Jahr 1992. Die politische Debatte um Zuwanderung und Asyl drohte zu dieser Zeit zu überhitzen. Begriffe wie „Asylbetrug“, „Scheinasylanten“ oder auch Bilder wie das eines Deutschlands als „volles Boot“ hielten Einzug in den politischen Diskurs. Der Spiegel titelte im September 1991 „Ansturm der Armen. Flüchtlinge Aussiedler Asylanten“ mit einer Karikatur eines riesigen und überbelegten Bootes in schwarz-rot-gold.
Die „Asyldebatte“ dominierte trotz – oder gerade wegen – der Transformation der beiden deutschen Staaten den politischen Diskurs der frühen 1990er Jahre, der sich auf die Frage einer Grundgesetzänderung als Reaktion auf die Herausforderungen der gestiegenen Flüchtlingsbewegungen zuspitzte. Die regierenden Unionsparteien übten dabei massiven öffentlich Druck auf die oppositionelle SPD aus, um die für eine Grundgesetzänderung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags zu erlangen. Die SPD sowie die marginal im Bundestag vertretenen Grünen und die PDS lehnten die Pläne ab.
Um sie zum Einlenken zu bewegen, begann die CDU mit Unterstützung vor allem von Bild-Zeitung und Welt im Herbst 1991 eine Kampagne für die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. CDU-Generalsekretär Volker Rühe, einer ihrer eifrigen Protagonisten, lieferte den Lokalpolitiker*innen der Partei Materialen wie Musteranträge und Argumentationsleitfäden, die die SPD auch auf kommunaler Ebene in Erklärungsnot bringen sollte. Wenn diese sich weiter gegen eine Grundrechtsänderung sperre, so Rühe, sei jeder weitere „Asylant“ ein „SPD-Asylant“. Im selben Monat verübten im sächsischen Hoyerswerda bis zu 500 Beteiligte ein rassistisch motiviertes Pogrom auf Unterkünfte von Arbeitsmigrant*innen und Asylsuchenden. Einen Monat später war es erneut Rühe, der der SPD vorwarf, mit ihrer Verweigerungshaltung für „Gewaltbereitschaft“ zu sorgen.
Die drastische Zunahme rechter Gewalttaten, die dem politischen Streit um Asyl seit Hoyerswerda seine besondere Schärfe gab, ist eng mit der zeitgleich stattfindenden gesellschaftlichen Diskussion um ein zusammenwachsendes und zusammengehörendes „Wir“ im frisch vereinten Deutschland verflochten, das sich auch in Abgrenzung von einer steigenden Zahl an „Anderen“ entwarf. Die Gewalt und der in den frühen 1990er Jahren grassierende Rassismus hatten ihren Ursprung weder (in zeitlicher Hinsicht) nach dem Mauerfall noch (in geografischer Hinsicht) exklusiv im Osten. Sie waren ebenfalls soziale, wenn auch weitreichend ignorierte Phänomene in der Bonner Republik. Doch die nationale Einheitseuphorie, zusätzlich verstärkt durch davon unabhängige Faktoren und Ereignisse wie der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft der Männer im Sommer 1990, und die drastisch steigenden Zahlen von Asylsuchenden verschärften nicht nur den Ton in der „Asyldebatte“, sondern auch konkret die Bedrohungslage von rassifizierten Eingewanderten nach 1989/90. In dieser Hinsicht zählte zu den Gründen für den „Asylkompromiss“ 1993 als Konfliktschlichtung auch, die rechte Gewalt zu stoppen.
Die Dynamiken und Kausalitäten im Zusammenspiel von (Asyl-)Politik, rechter Gewalt und öffentlicher Meinung im zeitgenössischen Entscheidungsprozess des „Asylkompromisses“ werden von Historiker*innen, Publizist*innen und Aktivist*innen unterschiedlich und unterschiedlich stark gedeutet. Aus den Bewertungen entwickeln sich spannende Folgefragen, etwa welche informellen Interessengruppen bei der Findung des „Asylkompromisses“ als eine Art „Figur des Dritten“ noch am Verhandlungstisch saßen. Mit dieser Diskussion geht letztlich einher, ob das Unterbinden weiterer Zuwanderung durch die Grundgesetzänderung von 1993 nicht tatsächlich als (teilweiser) „Erfolg“ der von rechter Gewalt getragenen Forderung „Ausländer raus!“ gelten kann und muss.
Ein umstrittener Kompromiss und seine Nachwirkungen
Noch im Frühjahr 1991 hatte sich der SPD-Parteitag in Bremen eindeutig für eine Sicherung des Art. 16 GG ausgesprochen. Im Mai 1992 stellte der Parteirat eine Anpassung des Grundgesetzartikels in Aussicht, wenn zuvor eine gemeinsame europäische Linie nach der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbart werde. Im Sommer 1992 sprachen sich bei einer Emnid-Befragung drei Viertel der Deutschen für eine Verschärfung des Asylrechts aus. Im August des Jahres – nur Tage nach dem zweiten Pogrom der frühen 1990er Jahre in Rostock-Lichtenhagen – überraschte SPD-Chef Björn Engholm mit der „Petersberger Wende“, mit der er seiner Partei einen Kurswechsel in der Asylfrage verordnete – für Kritiker*innen ein Wechsel „auf CDU-Kurs“.
Am 6. Dezember 1992 vereinbarten CDU/CSU und die SPD schließlich die Änderung von Art. 16 GG. Nur wenige Tage zuvor, am 23. November 1992, hatten rechte Jugendliche mit einem tödlichen Anschlag in Mölln drei Türkeistämmige getötet, deren Familie als Arbeitsmigrant*innen in die Bundesrepublik gekommen waren. Drei Tage nach der endgültigen Verabschiedung des „Asylkompromisses“ durch den Bundestag, am Morgen des 29. Mai 1993, verübten rechte Gewalttäter einen neuerlichen Brandanschlag auf ein von Türkeistämmigen bewohntes Haus im nordrhein-westfälischen Solingen, bei dem fünf Menschen starben.
Heute erinnern wir den „Asylkompromiss“ in erster Linie als Entkräftung des Art. 16 GG, der sich mit der Einführung der Idee der sicheren Herkunfts- und Drittstaaten für die weitere Gestaltung des Asylrechts als ausgesprochen folgenreich erwies. Daher wird er vor allem von linken und zivilgesellschaftlichen Gruppen immer wieder kritisiert und gilt auch in gegenwärtigen Diskussionen als negativer Referenzpunkt.
Dabei ist es bis heute auch der Begriff „Asylkompromiss“, der provoziert. Denn mit ihm verband die Gesetzesänderung als Schlagwort zwei zeitgenössisch äußerst unpopuläre Phänomene: Asyl, wie hinreichend dargelegt, und Kompromisse. Kompromisse gelten als Technik der zumindest vorübergehenden Konfliktlösung, bei dem alle beteiligten Partner*innen zum Zwecke der Einigung für sie schmerzhafte Abstriche machen, gleichzeitig aber an ihren Ausgangsstandpunkten festhalten. Diese Vorgehensweise gilt als konstitutiv für die politische Kultur der Bundesrepublik. Dennoch verzeichnete der Begriff erst ab Ende der 1980er Konjunktur. Auch deshalb liegt dem „Asylkompromiss“ das weitgehende Alleinstellungsmerkmal inne, die Art seiner Konfliktbeilegung explizit im Namen zu tragen: Der 1993 geschlossene „Asylkompromiss“ kann insofern in dieser sprachlichen Hinsicht auch als Trendwende mit Blick auf die gegenwärtige Omnipräsenz der Kompromissbemühungen in der Tagespolitik gelten.
Kompromiss mit sich selbst
Der genaue Ursprung der Wortkomposition „Asylkompromiss“ scheint sich kaum rekonstruieren zu lassen. Damit bleibt auch die Frage offen, ob der Begriff das Ergebnis eines gezielten Agenda-Settings war und welche Intentionen sich in diesem Fall an ihn banden. In Presse-Datenbanken taucht der Begriff im Herbst 1991 erstmals auf, in der Berichterstattung zu Verhandlungen über eben einen „Asylkompromiss“ zwischen CDU/CSU und der SPD, der wegen des Pochens auf eine Grundgesetzänderung durch die Union gescheitert sei. Dann scheint der Asylkompromiss in den Medien vor allem ein internes Projekt der SPD gewesen zu sein, regelrecht als Kompromiss mit sich selbst. Der Journalist Robert Leicht kommentierte im Oktober 1992 nach der Petersberger Wende in Die Zeit: „Von Woche zu Woche hangeln sich die Sozialdemokraten dem entgegen, was sie den Asylkompromiß nennen.“ Und auch die taz meldete: „SPD sucht den Asyl-Kompromiß“.
Daraus lässt sich die Frage entwickeln, welche Abstriche die Verhandlungspartner*innen beim „Asylkompromiss“ mit Blick auf ihre ursprüngliche Position machen mussten. Im Fall der SPD ist das Einlenken verbrieft. Das Entgegenkommen von Union und FDP und die Dimensionen „eines Abrückens von Ausgangsforderungen auf allen Seiten“, die Migrationsforscher Klaus J. Bade in seinem Buch „Ausländer Aussiedler Asyl“ 1994 ausmachte, sind als „Gegenleistung“ für die Grundgesetzänderung weitgehend in Vergessenheit geraten. Das liegt einerseits mit Blick auf die der CDU/CSU abgerungenen Quotierung der Aussiedleraufnahme daran, dass diese in Relation zur Änderung des Art. 16 GG kaum ins Gewicht fiel. Andererseits wurde die von der SPD herausgehandelte Zusage, erstmals ein Einwanderungsgesetz zu erarbeiten, das legale Möglichkeiten zur Migration nach Deutschland regeln sollte, anders als die anderen Eckpunkte der Übereinkunft, von der Bundesregierung schlicht nicht weiterverfolgt. Im Gegensatz zur Grundgesetzänderung war hierfür zwischen CDU und SPD kein konkretes Vorgehen vereinbart worden.
Die Bezeichnung und das Framing der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl als „Asylkompromiss“ erfüllte damit mehrfache Kommunikationsfunktionen. Durch die Wortkomposition des formellen Begriffs „Kompromiss“, der das Erreichen einer schmerzhaft erlangten Konfliktbeilegung behauptet, mit dem Phänomen Asyl sollten beide negativ konnotierte Wortteile ein positives Framing erhalten. Tatsächlich erweis sich der Begriff letztlich aber als bloßer Euphemismus, denn die Eckpunkte des „Asylkompromisses“ fanden keine gemeinsame Umsetzung: Was von ihm blieb war eine massive Verschärfung des deutschen Flüchtlingsrechts, mit der ein heftiger innenpolitischer Streit zu Lasten Dritter beigelegt wurde.
Ausblick
Das zufällige Zusammenfallen des „historischen Momentums“ in der europäischen Flüchtlingspolitik mit dem anstehenden historischen Datum des deutschen „Asylkompromisses“ böte die Chance, Lehren aus der Geschichte des deutschen Asylstreits zu ziehen. Denn es scheint, als würde in der gegenwärtigen Debatte das noble Wort „Kompromiss“ wieder in Stellung gebracht, um ihn in der gleichen Richtung zu suchen wie 1993: in der Erschwerung des Zugangs zum Asylrecht durch die Ausweitung der Listen Sicherer Herkunftsländer und Drittstaaten sowie der Durchführung „schneller Prüfverfahren“ an den EU-Außengrenzen. Am Rückblick auf den „Asylkompromiss“ von 1993 wird besonders deutlich, dass in ihm zwar die „Konfliktparteien“ Union, FDP und SPD langfristig und in einer schmerzhaften Profilierung ihrer politischen Positionen zueinander fanden, während die tatsächlichen Konsequenzen und Kosten ihres Kompromisses andere zu tragen hatten: Geflüchtete. Ihre Positionen und Interessen standen ohne nennenswerte Lobby (außer einer zivilgesellschaftlichen) in deutlicher Asymmetrie zu der ihrer Gegner*innen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, die von der Politik konkrete und deutliche Antworten auf das „Asylproblem“ erwarteten.
Dies gilt auch für diejenigen politischen Kräfte, die für ihre Zustimmung zur Einschränkung des Asylrechts die Aussicht auf andere Möglichkeiten der Zuwanderung in den „Asylkompromiss“ verhandelt hatten. Gerade das Scheitern dieser Zusage hält für die aktuelle Diskussion eine wichtige Lehre bereit: Wer sich wie Anton Hofreiter zu „echter Kompromissbereitschaft“ bereit erklären will, um gegen „die andere Seite auch wirklich Verbesserungen“ durchzusetzen, sollte mit den Erfahrungen von 1993 darauf achten, diese auch ebenso detailliert zu vereinbaren wie die Zusagen der Beschränkungen von Fluchtmöglichkeiten. Ansonsten droht das das „historische Momentum“ zum 30. Jahrestag des Asylkompromisses nur zur bitteren Bestätigung eines geschichtsphilosophischen Merksatzes zu werden, nach dem sich Geschichte stets zweimal ereigne: zuerst als Tragödie und das zweite Mal als Farce.