Putins Ansage, die Ukraine ‘entnazifizieren’ zu wollen, ist offenkundig ein Vorwand für seinen Angriffskrieg. Dennoch sollte man sich diese Rhetorik genauer anzuschauen. Denn in ihr zeigen sich antisemitische Schlüsselelemente einer weltweit vernetzen Rechten, die in Putin ihren Führer sieht.

  • Jason Stanley

    Jason Stanley ist Jacob-Urowsky-Professor für Philosophie an der Universität Yale und Autor von fünf Büchern, zuletzt "How Fascism Works: The Politics of Us and Them". Er schreibt über Propaganda, Masseninhaftierung, Faschismus, Rassismus, Meinungsfreiheit und andere Themen für die New York Times, The Guardian, The Washington Post, Die Zeit und viele andere Zeitungen.

Als Wladimir Putin am Donnerstag, den 24. Februar im Morgen­grauen den Einmarsch Russ­lands in die Ukraine ankün­digte, recht­fer­tigte er die „mili­tä­ri­sche Sonder­ope­ra­tion“ mit dem Ziel, die Ukraine zu „entna­zi­fi­zieren“. Dieser faden­schei­nige Vorwand des russi­schen „Leader“ – wie er sich selbst mit einem Angli­zismus nennt – stellt den jüdi­schen Präsi­denten der Ukraine als Nazi dar und die russi­schen Christen als die wahren Opfer des Holo­causts. Diese Recht­fer­ti­gung der Inva­sion ist in keiner Weise haltbar, aber es wäre ein Fehler, sie einfach zu ignorieren.

Wladimir Putin ist selbst ein faschis­ti­scher Auto­krat, der demo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­ons­führer und Kritiker inhaf­tiert. Er ist der aner­kannte Anführer der welt­weiten extremen Rechten, die immer mehr wie eine globale faschis­ti­sche Bewe­gung erscheint. Tatsäch­lich gibt es auch in der Ukraine eine rechts­extreme Bewe­gung; zu ihren bewaff­neten Vertei­di­gern gehört zum Beispiel das Asow-Bataillon, eine rechts­extreme natio­na­lis­ti­sche Miliz­gruppe. Das ist nichts Beson­deres – kein demo­kra­ti­sches Land ist frei von rechts­extremen natio­na­lis­ti­schen Gruppen, auch die Verei­nigten Staaten nicht. Doch die ukrai­ni­sche extreme Rechte wurde bei den Wahlen 2019 gede­mü­tigt, da sie nur 2 % der Stimmen erhielt. Das ist, wohl gemerkt, weit weniger Unter­stüt­zung als rechts­extreme Parteien in ganz West­eu­ropa erhalten, einschließ­lich unstrittig demo­kra­ti­scher Länder wie Frank­reich und Deutschland.

Die Ukraine ist ein demo­kra­ti­sches Land, dessen popu­lärer Präsi­dent Wolo­dymyr Selen­skyi in einer freien und fairen Wahl mit über 70 % der Stimmen gewählt wurde. Selen­skyi entstammt einer jüdi­schen Familie, die in Teilen im Holo­caust ausge­löscht wurde. Putins Behaup­tung, dass Russ­land in die Ukraine einmar­schiere, um sie zu „entna­zi­fi­zieren“, ist daher schon rein äußer­lich absurd. Wenn man jedoch versteht, warum Putin den Einmarsch in die demo­kra­ti­sche Ukraine auf diese Weise recht­fer­tigt, wirft das ein aufschluss­rei­ches Licht auf das, was nicht nur in Osteu­ropa, sondern welt­weit geschieht.

Faschismus

Der Faschismus ist ein Führer­kult, der ange­sichts einer vermeint­li­chen Demü­ti­gung der Nation durch ethni­sche oder reli­giöse Minder­heiten, Libe­rale, Femi­nis­tinnen, Einwan­derer und Homo­se­xu­elle eine natio­nale „Erneue­rung“ verspricht. Der faschis­ti­sche Führer behauptet, die Nation sei von diesen Kräften ernied­rigt und in ihrer Männ­lich­keit bedroht worden und müsse daher ihren früheren Ruhm (und oft auch ihr früheres Terri­to­rium) mit Gewalt zurück­ge­winnen. Und er selbst sei der Einzige, der die Nation wieder­her­stellen könne.

Für den euro­päi­schen Faschismus ist über­dies die Vorstel­lung zentral, dass es die Juden sind, die den angeb­li­chen mora­li­schen Verfall einer Nation verur­sa­chen. Dem euro­päi­schen Faschismus zufolge bringen die Juden ein Land unter die Herr­schaft einer globalen (jüdi­schen) Elite, indem sie sich der Instru­mente der libe­ralen Demo­kratie, des säku­laren Huma­nismus, des Femi­nismus und der Rechte der Homo­se­xu­ellen bedienen und auf diese Weise Deka­denz, natio­nale Schwäche und mora­li­sche Unrein­heit provo­zieren. Dieser faschis­ti­sche Anti­se­mi­tismus ist eher rassis­tisch als reli­giös moti­viert und zielt auf Juden als korrupte staa­ten­lose „Rasse“, die die Welt­herr­schaft anstrebe.

Der Faschismus recht­fer­tigt seine Gewalt­tä­tig­keit damit, eine vermeint­lich reine, reli­giöse und natio­nale Iden­tität vor den Kräften des Libe­ra­lismus zu schützen. Im Westen präsen­tiert sich der Faschismus als Vertei­diger des euro­päi­schen Chris­ten­tums gegen diese Kräfte – und neuer­dings auch gegen die musli­mi­sche Migra­tion. Er wird daher immer schwie­riger, ihn vom christ­li­chen Natio­na­lismus zu unterscheiden.

Putin, der „Anführer“ des russi­schen christ­li­chen Natio­na­lismus, sieht sich inzwi­schen als dessen globaler Leader und wird von christ­li­chen Natio­na­listen in der ganzen Welt, auch in den Verei­nigten Staaten, zuneh­mend als solcher ange­sehen. Das liegt auch daran, dass russi­sche faschis­ti­sche Denker der jüngeren Vergan­gen­heit wie nament­lich Alex­ander Dugin und Alex­ander Prochanow, die den Grund­stein für diese Bewe­gung gelegt haben, nicht nur wich­tige Persön­lich­keiten in Putins Russ­land sind, sondern auch über eine globale Reich­weite verfügen.

In Putins Einmarsch in die Ukraine lässt sich daher unschwer der Fahr­plan erkennen, den Dugin und Prochanow in den letzten Jahren entworfen haben. Sowohl Dugin als auch Prochanow betrachten eine unab­hän­gige Ukraine als eine exis­ten­zi­elle Bedro­hung für das, was Timothy Snyder in seinem 2018 erschie­nenen Buch The Road to Unfreedom als „Wunsch nach der Rück­kehr der Sowjet­macht in faschis­ti­scher Gestalt “ beschreibt.

Christ­li­cher Natio­na­lismus und Antisemitismus

Die Form des russi­schen Faschismus, die Dugin und Prochanow vertei­digen, ist wie die zentralen Vari­anten des euro­päi­schen Faschismus ausdrück­lich anti­se­mi­tisch. Snyder schreibt: „Wenn Prochanow eine zentrale Über­zeu­gung hatte, dann die des endlosen Kampfes der seelen­losen und abstrakten See-Menschen gegen die kern­ge­sunden, recht­schaf­fenen Land-Menschen. Wie Adolf Hitler beschul­digte Prochanow das Welt­ju­dentum, die Ideen zur Verskla­vung seines Heimat­landes erfunden zu haben. Der Holo­caust sei ihre eigene Schuld gewesen.“

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Die heute in Teilen Osteu­ropas vorherr­schende Version des Anti­se­mi­tismus besagt, dass Juden den Holo­caust benutzen, um den „wahren“ Opfern der Nazis, nämlich den russi­schen Christen (oder anderen nicht-jüdischen Osteu­ro­päern) den Opfer­status zu entreißen. Und all jene, die der russi­schen christlich-nationalistischen Ideo­logie anhängen, sind beson­ders anfällig für diese Form des Antisemitismus.

Vor diesem Hinter­grund wird das Vorgehen Putins ebenso verständ­lich, wie die Worte, mit denen er es recht­fer­tigte. Die Ukraine war schon immer das Haupt­ziel derje­nigen, die die „Sowjet­macht in faschis­ti­scher Gestalt“ wieder­her­stellen wollen. In einem Artikel aus dem Jahr 2021 pran­gerte der ehema­lige russi­sche Präsi­dent Dmitri Medwedew Selen­skyi als „ekel­haft“, „korrupt“ und „treulos“ an und griff dabei bekannte faschis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche Tropen auf. Die freie, demo­kra­ti­sche Wahl eines jüdi­schen Präsi­denten bestä­tigt in den Köpfen der Faschisten nur die fixe Idee, dass das Schreck­ge­spenst der libe­ralen Demo­kratie als Werk­zeug der globalen jüdi­schen Herr­schaft real sei.

Mit der Behaup­tung, das Ziel der Inva­sion sei die „Entna­zi­fi­zie­rung“ der Ukraine, appel­liert Putin bewusst an die grund­le­genden Mythen des zeit­ge­nös­si­schen osteu­ro­päi­schen Anti­se­mi­tismus: Dass eine globale Kabale von Juden die wahren Agenten der Gewalt gegen russi­sche Christen waren (und sind), und dass die wahren Opfer der Nazis nicht die Juden, sondern die russi­schen Christen waren. Genau diese seien das Ziel einer Verschwö­rung einer globalen Elite, die unter dem Deck­mantel der libe­ralen Demo­kratie und der Menschen­rechte den christ­li­chen Glauben und die russi­sche Nation angreife. Putins Propa­ganda richtet sich nicht an einen offen­sicht­lich skep­ti­schen Westen. Sie appel­liert viel­mehr in Russ­land selbst an genau diese Form des christ­li­chen Nationalismus.

Es geht hier also um sehr grund­sätz­liche mora­li­sche und poli­ti­sche Fragen. Der Angriff auf die libe­rale Demo­kratie im Westen geht von einer globalen faschis­ti­schen Bewe­gung aus, deren Zentrum der christ­liche Natio­na­lismus ist. Es wird schwer sein, diese Bewe­gung vom Anti­se­mi­tismus zu trennen (wenn auch von einer Version des Anti­se­mi­tismus, die sich mit den Kräften verbündet, die auf einen jüdi­schen Natio­nal­staat in Israel drängen). Es über­rascht nicht, dass jene, die glauben, eine christ­liche Nation brauche Schutz und Vertei­di­gung gegen Libe­ra­lismus, „Globa­lismus“ und deren vermeint­liche Deka­denz, zu ihren gewalt­tä­tigsten Mitteln greifen werden, wenn zu den Gesich­tern, die für die freie, säku­lare, tole­rante libe­rale Demo­kratie stehen, auch ganz promi­nent jüdi­sche gehören.

Dieser Text erschien zuerst am 26.2.2022 im Guar­dian. Über­set­zung: Svenja Golter­mann und Philipp Sarasin, mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Jason Stanley und The Guar­dian (Copy­right Guar­dian News & Media Ltd 2022).