Die Amtseinführung von Joe Biden als Präsident war sentimental inszeniert und symbolpolitisch gelungen. Nun muss Biden nicht nur das tief gespaltene Land politisch führen, sondern auch eine Vergangenheitsbewältigung in Gang setzen, die die letzten vier Jahre umfasst, insbesondere aber die turbulenten letzten Wochen. Andernfalls bleibt der Neuanfang ein halbherziger Versuch der Befriedung und „Heilung“.
Der neue Präsident
Nach dem gefühlt längsten Interregnum in der amerikanischen Geschichte wurde Joseph Robinette Biden Jr. planmäßig am 20. Januar 2021 kurz vor 12 Uhr mittags als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Der Zeitraum seit der Wahl am 3. November 2020, mit der Verkündigung des Wahlergebnisses durch die führenden Fernsehsender wenige Tage später, den andauernden Bemühungen des unterlegenen Kandidaten, auf alle erdenklichen legalen (und nicht legalen) Arten das Ergebnis anzufechten und umzudrehen – und schließlich die Eskalation der Gewalt und die Erstürmung des Capitols am 6. Januar 2021 mit Toten und Verletzten: All das wird uns noch lange in Erinnerung bleiben und auch die amerikanischen Ermittlungsbehörden stark beschäftigen.
Am 6. Januar schloss sich gleichsam der Kreis von der „American Carnage“, dem Aderlass, den Trump einst in seiner Antrittsrede beschwor, und dem Blutzoll, den die Eindringlinge ins Capitol von den gewählten Mandatsträger*innen forderten und die zudem noch dem Vizepräsidenten Mike Pence nach dem Leben trachteten. Der Slogan „Hang Mike Pence“ erinnerte an eine lange Geschichte der Lynchgewalt in den USA, die vor allem Nicht-Weiße getroffen hat. Der Lynchmob am Capitol hatte vor allem die politische Elite im Visier und bestätigte einmal mehr Richard Slotkins These, dass das Muster einer „Regeneration durch Gewalt“ die USA und ihre Geschichte charakterisiert, eine Gewalt, die nicht un-amerikanisch, sondern vielmehr ur-amerikanisch ist. Dieser gewaltsame Angriff auf die amerikanische Demokratie wurde vorerst abgewehrt; die Amtseinführung Joe Bidens musste jedoch unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und mit 25.000 Soldaten der Nationalgarde in der Hauptstadt stattfinden.

Inaugural platform at the United States Capitol; Quelle: Wikipedia.
Der 46. Präsident ist kein strahlender Held oder Sieger. Zwei Mal zuvor war Joe Biden schon für die Präsidentschaftswahl angetreten, zwei Mal hatte er es nicht in die Endauswahl der Kandidaten geschafft. In seinem Klassiker über den Präsidentschaftswahlkampf 1988, What It Takes (Biden trat damals zum ersten Mal an), beschreibt ihn Richard Ben Cramer bereits als eine tragische, ja gescheiterte Figur, die häufig mit Erfahrungen von Leid, Verlust und schwerer Krankheit in Verbindung gebracht wurde. Biden erlitt seinerzeit einen Zusammenbruch und wurde mit einem lebensbedrohlichen Aneurysma ins Krankenhaus eingeliefert. Er überlebt und setzte seine politische Karriere fort. Als er mit Ablauf der Obama-Präsidentschaft und seiner eigenen Vize-Präsidentschaft erneut eine Kandidatur anstrebte, starb sein Sohn Beau Biden und die Trauer darüber überwältigte ihn.
Im dritten Anlauf hat er nun sein Ziel, die amerikanische Präsidentschaft, erreicht. Und nach diesem Erfolg sah es lange Zeit nicht aus. Auch wenn er nun als der richtige Mann zur richtigen Zeit gefeiert wird, war er vor einem Jahr noch hoffnungslos abgeschlagen im Bewerberfeld und bereits bei den ersten Vorwahlen arg ins Hintertreffen geraten. Erst am 29. Februar 2020 gelangte er mit der breiten Unterstützung der afroamerikanischen Wählerschaft in South Carolina an die Spitze des Kandidatenfeldes und setzte sich damit gegen seine Mitbewerber*innen durch. Viele Wählerinnen und Wähler sahen ihn lediglich als das kleinere Übel, als kleinster gemeinsamer Nenner der ideologisch diversen Demokratischen Partei und als eine Möglichkeit, die Herrschaft Trumps realpolitisch zu beenden: „Settle for Biden“ war vielerorts der wenig glamouröse Wahlkampfslogan, mit dem für ihn geworben wurde.
Als ältester Präsident der Geschichte der USA bei Amtsantritt, der zudem bei und nach öffentlichen Auftritten häufig unkonzentriert und erschöpft wirkt, übernimmt er nun ein müdes und erschöpftes Land, das von dem normverletzenden Politikstil und den Psychodramen seines narzisstischen Vorgängers in immer weiteren Eskalationsschleifen fügsam gemacht wurde („outraged into submission“ nannte das die Journalistin Susan Glasser). Ein Land, das zudem von einer Gesundheitskrise und einer Wirtschaftskrise gebeutelt wird und das eine gesellschaftliche Spaltung zu überwinden hat, der ein anhaltender struktureller Rassismus ebenso eingeschrieben ist wie andere Formen sozialer Ungerechtigkeit und zahlreiche Ressentiments. Und selbst die Erde, so Biden in seiner Amtsantrittsrede, stoße einen Hilfeschrei nach Überleben („cry for survival“) aus.
Die Zeremonien der Amtseinführung
Am 20. Januar begann nun Joe Bidens „Gruppentherapie“ für Amerika – ein Anti-Aggressionstraining für eine ganze Nation – um die verhärteten Fronten zu überwinden. Bidens Rede zum Amtsantritt war ganz anders als die so stark ab- und ausgrenzende von Donald Trump vor vier Jahren, als viele kaum ihren Ohren trauten. Bidens Rede stellte in mehrfacher Hinsicht eine Rückkehr zum amerikanischen Staatsbürgersentimentalismus dar: Sie rief religiöse und zivilreligiöse Topoi auf und unternahm eine Re-Sakralisierung des Ortes, des Amtes und des Gefühls der Einheit der Nation. Der neue Präsident – der zweite Katholik im Amt – rekurrierte auf Augustinus; er sprach von Erneuerung („renewal“) und Einheit („unity“) und von Mäßigung (im Ton und im Umgang miteinander) angesichts der enormen Bedrohung des inneren Friedens. Ein Satz, der mit seiner Anspielung auf den Bürgerkrieg sicher lange nachhallen wird, ist dieser: „We must end this uncivil war“.

Siegel der 46. Amtseinführung des Präsidenten und der Vizepräsidentin; Quelle: Wikipedia
Bereits am Vorabend der Inauguration fand eine Gedenkveranstaltung für die 400.000 Corona-Toten in den USA mit 400 Lichtern entlang des Reflecting Pool vor dem Lincoln Memorial statt, und es zeigte sich, dass Joe Biden große Erfahrung im Trauern hat. Er versteht es wie kaum ein anderer, Trauer als öffentliches Gefühl auszudrücken, und artikuliert Betroffenheit und Anteilnahme in einer Weise, die die Menschen schätzen. Und es gibt derzeit viele Gründe zu trauern in Amerika. Biden weckt daher auch keine falschen Hoffnungen, sondern betont immer wieder, dass es schlimmer wird, bevor es besser wird. Hat jemals ein Präsident seine Rede zur Amtseinführung für eine Schweigeminute unterbrochen? Sicher nicht in der jüngsten Geschichte.
Vielfach hat sich Biden im Wahlkampf zurückhaltend als Übergangspräsident beschrieben und als eine „Brücke“ zu einer neuen, jüngeren Generation wie sie die Vizepräsidentin Kamala Harris repräsentiert. Nachdem deutlich wurde, wieviel Schaden ein charismatischer, aber anti-demokratisch agierender Führer anrichten kann, wird diese Zurückhaltung eine Wohltat sein. Amerika habe nun, so hieß es vielfach, einen langweiligen Präsidenten verdient, einen, der nicht ständig alle Aufmerksamkeit fordert und braucht, sondern der einfach, ganz unspektakulär, seinen Job macht.
Biden gerierte sich nicht einmal bei seiner Amtseinführung als Hauptfigur und ließ sich gerne vom Glamour der Darbietenden in den Schatten stellen. Das Antrittsprogramm beinhaltete die Vereidigung der ersten schwarzen/asiatischen Vizepräsidentin, die stets mehr Applaus bekommt als er, einen Auftritt Lady Gagas als/mit Friedenstaube, J Lo, die einen Satz Spanisch ins Publikum warf und Garth Brooks, der „Amazing Grace“ sang und damit eine Verbindung von der Präsidentschaft Barack Obamas zu der von Joe Biden herstellte – fast so, als wäre zwischendurch nichts gewesen. Aber etwas Gewichtiges ist geschehen, und die junge afroamerikanische Dichterin Amanda Gorman erinnerte mit ihrem Gedicht „The Hills We Climb“ daran: „It’s the past we step into and how we repair it“. Ihre Rezitation galt vielfach als Höhepunkt der Zeremonie – doch wie ist die Vergangenheit zu reparieren? „Den Abend lang währet das Weinen, / aber des Morgens ist Freude.“ So heißt es in dem Psalm, den Biden zitierte. Und noch ist Abend in Amerika.
Vergangenheitsbewältigung und Tribunal
Am Abend der Amtseinführung führte Tom Hanks durch die „Celebrate America“-Gala. Künstlerinnen und Künstler sangen von Einheit („United“), Versöhnung („Better Days“) und Licht („Here Comes the Sun“) und repräsentierten gleichsam eine neue „multiracial democracy“. Auch hier war das Lincoln Memorial wieder präsent, und der überdimensionierte Abraham Lincoln auf seinem Stuhl wachte quasi über die Szenerie. Lincoln galt Zeit seines Lebens als Melancholiker, und er wird häufig als tief traurig beschrieben. Hier mag man eine selten erwähnte Parallele zu Biden erkennen. Es ist nicht der heroische Lincoln, an den uns Biden erinnert, sondern der Lincoln, der seine Seele einer Sache verschrieben hat, als er die Emancipation Proclamation unterschrieb. Lincoln mag am 20. Januar 2021 in mehreren Funktionen aufgerufen werden – als Mahnmal/Gespenst einer früheren amerikanischen Spaltung, als Schutzpatron des Neuanfangs, vielleicht auch als symbolischer Richter. Denn eine Aufarbeitung („reckoning“) mit der jüngsten Vergangenheit ist und bleibt notwendig. Täter und Anstifter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, damit die Rhetorik der Versöhnung nicht zur leeren Floskel verkommt.
Bidens eigener Leidensweg zur Präsidentschaft ist am Ziel. Zu seiner erneuten, dritten Kandidatur, so wird er nicht müde zu betonen, habe ihn die „Unite the Right“-Demonstration in Charlottesville bewogen, bei der es zu gewaltsamen Ausschreitungen kam und eine Frau starb. Die von Trump ermutigten Rechtsextremisten und ihre Mitläufer haben Anfang Januar dieses Jahres ihren Hass buchstäblich von Charlottesville nach Washington getragen. Täglich werden neue Details bekannt über Trumps Versuche des Machterhalts einerseits und über die Bedrohungen, der die Abgeordneten im Capitol ausgesetzt waren, andererseits.
In der Tradition der Bürgerrechtsbewegung, deren Ikonen er zitiert, steht Joe Biden für Black Lives Matter und gegen rassistische Gewalt. Die drei afroamerikanischen Gefängnisinsassen, deren Todesstrafe Trump kurz vor seinem Amtsende noch vollstrecken ließ, kann Biden nicht wieder lebendig machen. Aber er wird noch viele weitere Maßnahmen seines Vorgängers rückgängig machen, die von einer rassistischen und fremdenfeindlichen Ideologie (und auch von Ignoranz) geprägt waren und die das erklärte Ziel hatten, die Politik des ersten schwarzen Präsidenten ungeschehen zu machen. Darüber hinaus muss er sich für eine Aufarbeitung der Präsidentschaft seines Vorgängers einsetzen, die Rassismus wieder salonfähig gemacht und rechtsextreme Gruppen in ihrem Agieren bestärkt hat.

Jasper Johns. Three Flags (1958); Quelle: Wikimedia
Die Aufforderung Bidens im Sinne der Überwindung der politischen Eiszeit die Perspektive der anderen zu übernehmen („to stand in the other person’s shoes“, ein Ratschlag seiner Mutter), dürfte hier zu kurz greifen und Widerspruch hervorrufen: Will man in den Schuhen eines Rechtsradikalen laufen, wenn man seine Perspektive verstehen will? Muss man das? Und wieso sollten gerade diejenigen für die Versöhnung werben, die stets die Angriffsfläche rechter und rechtsradikaler Attacken waren und noch sind? Die Aufforderung zur Versöhnung ist derzeit eine einseitig ausgestreckte Hand, und es muss sichergestellt werden, dass sie nicht als Anbiederungsversuch an rechte Gruppen missverstanden wird, denn das würde den Neuanfang erheblich beschädigen.
Die Republikanische Partei instrumentalisiert ihrerseits gerade die Rhetorik der Versöhnung, um Schadensbegrenzung zu betreiben und das juristische Nachspiel der Ereignisse am Capitol am 6. Januar zu verhindern oder zumindest abzuschwächen bzw. die ganze Angelegenheit (inklusive des zweiten Impeachment-Verfahrens gegen Trump) ad acta zu legen. Das wäre freilich ein zu hoher Preis für eine Versöhnung, zumal eine solche „Versöhnung“ ohnehin nur fadenscheinig wäre. Es kann kein Weg daran vorbeiführen, die Trump-Präsidentschaft ebenso wie die demagogisch generierte Verblendung größerer Teile der Bevölkerung kritisch und umfassend aufzuarbeiten. Verschiedentlich erklang schon der Ruf nach einer „Wahrheitskommission“ für die amerikanische Demokratie, wie wir sie aus anderen Kontexten und Ländern kennen.
Eine solche Institution könnte beispielsweise die gemäß Washington Post am 24. Januar 2021 aufgelaufenen 30.573 falschen und irreführenden Behauptungen des 45. Präsidenten (fast die Hälfte davon in seinem letzten Jahr) dokumentieren, korrigieren und die teils verbrecherischen Taten, zu denen sie geführt haben, öffentlich exponieren. Joe Biden mag ein trauernder Mann sein, aber er kann den amerikanischen Wählerinnen und Wählern helfen, ihr Vertrauen in die Exekutive als eine von drei Gewalten der amerikanischen Demokratie zurückzugewinnen. Dazu muss er allerdings auch bereit sein, im Weißen Haus mehr zu tun, als die Möbel wieder umzustellen. Die Zusammenstellung seines Teams lässt diesbezüglich jedenfalls hoffen.