
Im Juli 2018 nahm sich die 1951 geborene niederländische Historikerin Evelien Gans das Leben. Als Historiker:innen sind wir es gewohnt, über das Leben und den Tod unserer Protagonist:innen zu schreiben. Aber wir sind weniger gut darauf vorbereitet, den Verlust einer der Unseren durch eine psychische Krankheit zu begreifen. In den Niederlanden, wo Gans lebte und arbeitete, ist die Rolle von Historiker:innen vielschichtig, denn es wird erwartet, dass sich Wissenschaftler:innen an öffentlichen Diskussionen und Debatten über ihr Fachgebiet beteiligen. Während die niederländische akademische Welt nicht zuletzt wegen der Sprache eine nach wie vor gegen außen abgeschottete Gemeinschaft bildet, treten Wissenschaftler:innen regelmäßig in den nationalen Medien auf, sprechen auf öffentlichen Foren und schreiben ihre eigenen Kolumnen in großen Zeitungen wie dem Groene Amsterdammer, NRC Handelsblad, Het Parool und de Volkskrant. Gans nahm diese Rolle gerne an und ging mit ihren Beiträgen zum öffentlichen Diskurs oft weit darüber hinaus. Ihr leidenschaftliches Engagement bedeutete aber, dass die Grenzen zwischen ihrem akademischen Leben und ihrem Privatleben verschwammen.
Eine Historikerin in der Welt nach dem Holocaust
Als sie starb, war sie die führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet des modernen jüdischen Lebens, des Antisemitismus und der Folgen des Holocausts in den Niederlanden. Gans kämpfte persönlich mit ihrer psychischen Gesundheit, aber der Druck der Verantwortung, die sie gegenüber der Öffentlichkeit empfand, und ihre Isolation von Kolleg:innen und Gleichgesinnten, sowohl im wörtlichen als auch im symbolischen Sinne, trugen zweifellos zu ihrer Depression bei. Zum Vermächtnis von Evelien Gans gehören ihre umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die noch immer unser Verständnis prägen, wie wir Antisemitismus in einer Zeit nach dem Holocaust verstehen; doch ihr Leben sollte uns auch dazu zwingen, über die heutigen Bedingungen der akademischen Welt nachzudenken und darüber zu reflektieren, warum die Schaffung integrativer und unterstützender Gemeinschaften eine unserer letzten Hoffnungen für das Überleben unserer Disziplin ist.

Evelien Gans wird als Hausbesetzerin festgenommen, Amsterdam 1975; Quelle: vn.nl
Bevor die akademische Karriere von Evelien Gans begann, war sie als Aktivistin in der Hausbesetzerbewegung und später als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus tätig gewesen. Als sie in den 1980er Jahren ihr Studium wiederaufnahm und zur Geschichtswissenschaft zurückkehrte, war sie davon beseelt, die Verschränkungen der sozialistischen und der jüdischen Geschichte zu untersuchen. Gans erkannte, dass sie ihren Aktivismus aufgeben musste, um die jüdische Vergangenheit zu erforschen (und sich zu eigen zu machen), in der dieser politische Aktivismus eine lange Tradition hatte. Die Forschungen darüber flossen ein in ihre Dissertation über jüdische Sozialist:innen und sozialistische Zionist:innen in den Niederlanden, die 1999 unter dem Titel Die kleinen Unterschiede, die das Leben ausmachen erschien.

Quelle: lastdodo.de
Es war jedoch Gans’ erstes Buch, Gojischer Neid und jüdischer Narzissmus (Gojse Nijd & Joods Narcisme) aus dem Jahr 1994, das sie als mutige neue Stimme etablierte. Es war die erste Publikation in einer langen Reihe bedeutender Veröffentlichungen, die alle ihre lebenslange Beschäftigung mit der Funktion jüdischer Stereotypen, dem Wandel der antisemitischen Rhetorik und Bildsprache in der Nachkriegszeit sowie den sich verändernden sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jüd:innen und Nicht-Jüd:innen reflektierten. In dieser Monografie argumentiert sie, dass die antisemitischen Tropen, die der Filmregisseur und Verfechter der freien Meinungsäußerung, Theo van Gogh, verwendete, um den jüdischen Schriftsteller Leon de Winter zu kritisieren, auf van Goghs Ressentiments und seinen Neid auf die jüdische Opferrolle zurückzuführen seien.
Natürlich reflektierten diese Stereotypen, so Gans, nicht die tatsächlichen Erfahrungen mit niederländischen Jüd:innen. Vielmehr geht es um eine verzerrte Wahrnehmung des jüdischen Sozialkapitals im Schatten des Holocaust sowie um die Ablehnung der Holocaust-Erinnerungskultur, die nach Ansicht van Goghs nicht-jüdische Niederländer:innen dazu zwingt, sich für Sünden schuldig zu fühlen, die sie nicht begangen haben. Gans brachte seine Ausfälle gegenüber der so genannten jüdischen „Monopolisierung des Leidens“ und seine Wut über die Unmöglichkeit, für sich eine Identität als Verfolgter zu beanspruchen, mit einer seinerzeit in den Niederlanden verbreiteten Haltung in Verbindung, in der Anwesenheit jüdischer Überlebender eine Belastung für die kollektive Psyche der Niederländer zu sehen. Als Reaktion auf diese Kritik und die Behauptung, van Gogh „flirte mit dem Antisemitismus“, veröffentlichte dieser wiederum in Folia, der Zeitschrift der Universität Amsterdam, einen Artikel mit einer explizit pornografischen Aussage über Gans und den Nazi-Verbrecher Josef Mengele. Die Redaktion versuchte, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen, die in dieser Zeit immer wieder als Rechtfertigung für Antisemitismus herangezogen wurde, entschuldigte sich aber schließlich. Van Gogh, der auch Islamfeindlichkeit in sein Repertoire aufgenommen hatte, wurde 2004 von Muhammed Bouyeri, einem Niederländer marokkanischer Herkunft, ermordet.
„Sekundärer Antisemitismus“
Die wissenschaftliche Arbeit von Evelien Gans und die Entschiedenheit, mit der sie den Antisemitismus oder „sekundären Antisemitismus“ – ein Begriff, den sie von der Frankfurter Schule für den niederländischen Kontext übernahm – von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und von Akademiker:innen aufdeckte, brachten sie in eine angreifbare Lage. Gans hatte den sekundären Antisemitismus schon in Gojischer Neid und jüdischer Narzissmus erörtert, dachte aber auch später über die Anwendung dieses Konzepts auf die niederländischen Verhältnisse nach, da die politische und soziale Landschaft während der letzten zwei Jahrzehnte weiterhin durch Feindseligkeit gegenüber dem jüdischem Erinnerungsaktivismus gekennzeichnet war. Sie definierte den sekundären Antisemitismus als die „Überzeugung, dass der legitime Wunsch, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und zur Normalisierung überzugehen, durch die hektische Beschäftigung mit der Shoah stark behindert wird“; sie war der Ansicht, dass ein Stereotyp wie das der Jüd:innen als „ultimatives Opfer“ das Ausmaß der Verfolgung und Deportation von Jüd:innen in den Niederlanden verzerrte und die niederländische Gesellschaft auf diese Weise von jeglicher kritischen Selbstreflexion über ihre Rolle während der Nazi-Besetzung entheben würde.
Wie einige andere auch nahm sie das 2001 erschienene Buch des Historikers und Journalisten Chris van der Heijden Graue Vergangenheit: Die Niederlande und der Zweite Weltkrieg (Grijs Verleden: Nederland en de Tweede Wereldoorlog) ins Visier, weil es die Bedeutung des Holocaust herunterspiele und die Erfahrungen von Jüd:innen, niederländischen Anhänger:innen des Nationalsozialismus und nicht-jüdischen niederländischen Zivilist:innen ‚einebne‘. Seine ‚Nivellierungsthese‘, geprägt durch die frühe Arbeit seines Doktorvaters Hans Blom (der auch der Betreuer von Gans war), behauptet nämlich, dass die Menschen während der Besatzung, „von der Handvoll Helden und Heiligen abgesehen, nicht richtig und nicht falsch waren, nicht schwarz oder weiß, sondern grau“. Van der Heijden versuchte mit dieser Argumentation, historische Urteile von moralischen Erwägungen zu trennen und die Art und Weise zu ändern, wie Historiker:innen die Kollaboration analysierten. Gans zufolge war es die Rolle, die van der Heijdens eigener Vater in der niederländischen Nazi-Partei spielte, die seine Darstellung der Besatzung und ihrer Folgen einfärbte. Mit Blick auf van der Heijdens Veröffentlichungen und seinen Artikel aus dem Jahr 2009, in dem er sich skeptisch über die Notwendigkeit des Demjanjuk-Prozesses äußerte, schrieb Gans in einem eigenen Artikel für den Groene Amsterdammer:
Van der Heijden scheint den entscheidenden Moment der (individuellen) Entscheidung und Handlung unter den Teppich kehren zu wollen. So landen ‚Täter‘, ‚Zuschauer‘ und ‚Opfer‘ in demselben riesigen Topf, gefüllt mit grauer, geschmackloser Suppe. Sie alle treiben ziellos umher, kaum unterscheidbar. Aber leicht verdaulich.
Gans dekonstruierte van der Heijdens Argumente oft schriftlich, scheute sich aber auch nicht, ihn öffentlich auf Konferenzen oder bei Vorträgen herauszufordern. Auf diese Weise wurde sie zu einer polarisierenden Figur für ihre Kolleg:innen, die es für „unangemessen“ hielten, van der Heijdens Arbeit als emblematisch für sekundären Antisemitismus zu bezeichnen. Die Zurückhaltung ihrer Kolleg:innen, sich in der Debatte zwischen den beiden Wissenschaftler:innen eindeutig zu positionieren, lastete schwer auf Gans, wie sie 2017 in einem Interview mit Jazmine Contreras zum Ausdruck brachte.
Die unsichtbare Last einer öffentlichen Intellektuellen
Bis zu ihrem Tod hatte Gans unzählige Kontroversen über die Interpretation des Holocaust und den zeitgenössischen Antisemitismus miterlebt. Selbst als sie an der Universität Amsterdam emeritiert wurde und sich darauf konzentrierte, die zweite Hälfte ihrer Doppelbiografie über das Historiker- und Schriftsteller-Duo Vater und Sohn Jaap und Ischa Meijer fertigzustellen, setzte sie sich weiterhin mit sekundärem Antisemitismus und der Nivellierung von Opfern und Tätern in den Medien auseinander. Als sie dem Fernsehprogramm Andere Tijden vorhielt, in einer Sendung die Erfahrungen eines Zugbegleiters, eines Polizeibeamten, eines Mitglieds der Militärpolizei und eines jüdischen Rechtsanwalts, der Gefangener im Durchgangslager Westerbork war, einander gleichgesetzt zu haben, machte Evelien einmal mehr deutlich, dass die individuelle Handlungsfähigkeit und persönliche Verantwortung in Diskussionen über Kriegsverbrechen oft ausgeblendet werden. Zusammen mit Maarten Voorst tot Voorst deckte sie außerdem die wahre Geschichte hinter dem von Isabel van Boetzelaer verfassten Buch Die Kriegsältesten (Oorlogsouders) auf, das ihre Familiengeschichte als eine des Widerstands darstellte, obwohl sie in Wirklichkeit ein erhebliches Maß an Zusammenarbeit mit den Besatzern einschloss.
Evelien Gans mit dem von ihr mitherausgegebnen Sammelband „The Holocaust, Israel and ‚the Jew‘. Histories of Antisemitism in Postwar Dutch Society“ (2016); Quelle: timesofisrael.com
In seinem tief empfundenen Nachruf auf seine Mitautorin und Freundin erklärte der Historiker Remco Ensel: „Evelien Gans nahm sich die Aufforderung, die sie zu Hause gelernt hatte, sehr zu Herzen: ‚Erhebe deine Stimme, wenn du mit offenkundiger Ungerechtigkeit konfrontiert wirst‘.“ Als freimütige Verfechterin der Gleichberechtigung und großzügige Mentorin verkörperte Gans das, was viele Akademiker:innen anstreben. Sie ging der Konfrontation nicht aus dem Weg und setzte sich damit dem Urteil von Kolleg:innen und Außenstehenden gleichermaßen aus. Bei der Deutung ihres Suizids sind fraglos zahlreiche Faktoren zu berücksichtigen; nicht unter den Tisch fallen dürfen aber die Bedingungen in der akademischen Welt, in der Sexismus immer noch eine große Rolle spielt, und ihre zunehmende Enttäuschung darüber, dass sie um Solidarität kämpfen musste (auch wenn sie anmerkte, dass Ensel immer bereit war, sie zu unterstützen).
Depression hinter verschlossenen Türen
Obwohl sich vor allem dank einer neuen Generation zunehmend diverserer Wissenschaftler:innen im Umgang miteinander einiges verändert hat, ist Depression im akademischen Betrieb immer noch stark stigmatisiert. Die Offenlegung einer psychischen Erkrankung kann den Ruf und die Karriereaussichten schädigen, ganz zu schweigen von der Behandlung durch Betreuer:innen und fortgeschrittene Wissenschaftler:innen. Im Fall von Evelien Gans mögen zudem die Umstände ihres Todes und ihre Vorliebe, Ungerechtigkeiten ausdrücklich und unverblümt beim Namen zu nennen, die schleppende Würdigung ihres Lebens und ihrer Wissenschaft beeinflusst haben; bezeichnender Weise wurde in den drei Jahren nach ihrem Tod ihr zu Ehren keine einzige Konferenz oder Veröffentlichung organisiert. Erst im Juli 2021 veranstalteten wir, Jazmine Contreras und Anna Hájková, zwei außerhalb der Niederlande tätige Holocaust-Historikerinnen, eine Gedenkveranstaltung zu Ehren ihres Vermächtnisses. Die Veranstaltung war mit über hundert Wissenschaftler:innen und Freund:innen gut besucht, von denen viele den einschneidenden Verlust von Gans betonten, der in der niederländischen intellektuellen Welt eine klaffende Lücke hinterließ.
Wie psychische Erkrankungen findet auch Trauer im akademischen Bereich hinter verschlossenen Türen statt. Überholte und oft destruktive Vorstellungen davon, was professionelles Verhalten ausmacht, prägen noch immer unseren Umgang miteinander und den Ausdruck unserer Gefühle. Wenn man im Schatten des Todes von Evelien Gans schreibt, zumal über die Themen, denen sie ihr Leben gewidmet hat, wird man von der Realität ihres Verschwindens heimgesucht. Das Wort ‚Suizid‘ auszusprechen, über das normalerweise nur leise gesprochen wird, bedeutet anzuerkennen, dass es in unserer Gemeinschaft Menschen gibt, die leiden, und dies oft im Stillen. Eine beträchtliche Anzahl von Historiker:innen leidet an einer psychischen Erkrankung; für viele wird dies zu einer lebenslangen Herausforderung, die durch die Bedingungen in der akademischen Welt verschärft wird. Trotzdem scheint es, dass ihre Regeln darin bestehen, niemals eine verletzliche Seite zu zeigen, um die manchmal aggressiven und kritischen Debatten ohne Schaden überstehen zu können.
Eine neue Offenheit
Während der letzten zwei Jahre, in denen sich die Pandemie ausbreitete, gefolgt von Isolation und Ängsten, scheinen sich die Verhältnisse langsam zu ändern, zumindest wenn man auf die Gespräche schaut, die Historiker:innen des Holocaust, der jüdischen Geschichte und des Faschismus auf Twitter führen. Jetzt bemühen sich Kolleg:innen nicht mehr um eine perfekte Fassade, sondern teilen ihre Zweifel und Ängste. Wenn wir über Eveliens Leben und ihr Vermächtnis nachdenken, sollten wir uns tatsächlich fragen, wie wir am besten eine Gemeinschaft von Wissenschaftler:innen aufbauen und aufrechterhalten können, die ihr Verhalten an Werten wie Freundlichkeit und Akzeptanz ausrichtet. Das bedeutet aber auch, dass wir Sexismus, Antisemitismus und Rassismus entgegentreten müssen, wenn wir sie antreffen – auch wenn das bedeutet, dass wir uns der unbequemen Aufgabe stellen müssen herauszufinden, wer sich in unserer akademischen Community an derartigen Praktiken beteiligt.