Zu den Opfern der NS-Verfolgung gehörten auch Schweizerinnen und Schweizer. Über die meisten von ihnen ist heute kaum etwas bekannt. Ein Grund dafür sind Denkbarrieren aus der Zeit des Kalten Krieges. Warum es wichtig ist, dass wir uns an diese Schicksale erinnern.

  • Christina Späti

    Christina Späti ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg i. Üe. Sie forscht zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, zu Antisemitismus und Orientalismus, vergleichender Sprachenpolitik und zur 68er Bewegung.

Mit dem Kriegs­aus­bruch im Herbst 1939 vergrös­serte sich die Einfluss­sphäre des Dritten Reichs. Von Frank­reich bis zur Wolga, von Norwegen bis Grie­chen­land wurden Menschen verfolgt und ermordet, zur Zwangs­ar­beit verschleppt oder massen­weise in Lager depor­tiert. Die Schweiz erschien demge­gen­über als sicherer Hafen oder wahl­weise als Rettungs­boot, verschont von Krieg und Besat­zung. Stärker noch als den realen Bedin­gungen während des Zweiten Welt­kriegs entspricht dieses Bild der Schweiz dem Sonder­fall­denken, mit dem sich unser Land seit den 50er Jahren aus der euro­päi­schen Geschichte heraus­zu­deuten und damit auch vor Fragen nach historisch-politischer Verant­wor­tung zu schützen suchte. Bis heute verstellt der Mythos vom Sonder­fall den Blick auf die Geschichte der Schweiz. Das zeigt der vergan­gen­heits­po­li­ti­sche Umgang mit Schweizer Opfern der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfolgung.

Die Geschichte des René Pilloud

KZ Maut­hausen, Häft­linge beim Trans­port von Steinen über die „Todes­stiege“, SS-Foto, zwischen 1942 und 1944, www.mauthausen-memorial.org

Über Holocaust-Überlebende, die als Schwei­ze­rinnen und Schweizer dem NS-Terror ausge­setzt waren oder nach dem Ende des Natio­nal­so­zia­lismus in die Schweiz kamen, wissen wir bis heute wenig. Gut Tausend Schwei­ze­rinnen und Schweizer fielen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfol­gung zwischen 1933 und 1945 zum Opfer. Einer von ihnen war René Pilloud. 1916 in Châtel St-Denis im Kanton Frei­burg geboren, zog er als Kind mit seiner Familie nach Belleg­arde in Frank­reich. Im Februar 1944 befand sich der 18-Jährige mit Kollegen im Auto auf dem Weg zu einem Sport­wett­be­werb in der Region, als sie von der Gestapo ange­halten wurden. Ihnen wurde – fälsch­li­cher­weise – vorge­worfen, Mitglieder der fran­zö­si­schen Wider­stands­be­we­gung zu sein. Die Jugend­li­chen wurden zunächst ins Tran­sit­lager Compiègne gebracht. Von dort trans­por­tierte man Pilloud in einem plom­bierten Vieh­wagen ins Konzen­tra­ti­ons­lager Maut­hausen. Hier musste er zunächst in einem Stein­bruch arbeiten. Ab Januar 1945 zwangen ihn die Natio­nal­so­zia­listen zur Arbeit im Krema­to­rium, wo er 300 bis 400 Leichen pro Tag verbrennen musste. Im Januar 1945 starb der Schweizer Marcel Gail­lard, der mit Pilloud gefan­gen­ge­nommen und ins Lager verschleppt worden war. Pilloud über­lebte. Als er im April 1945 mit einem Konvoi des IKRK in die Schweiz gelangte, wog er noch 39 Kilo. Zusammen mit ehema­ligen Mithäft­lingen wurde er ins Spital von Samedan gebracht. Pilloud erkrankte an Tuber­ku­lose und kam 1946 in ein Sana­to­rium nach Leysin. Später kehrte er nach Frank­reich zurück. Im Rahmen des Wieder­gut­ma­chungs­ab­kom­mens zwischen der BRD und der Schweiz erhielt er 1959 eine finan­zi­elle Entschä­di­gung für das Erlit­tene. Obwohl Pilloud von offi­zi­eller Seite als Opfer aner­kannt worden ist, ist ein Schicksal wie seines im kollek­tiven Gedächtnis der Schweiz nur bruch­stück­haft – wenn über­haupt –  repräsentiert.

Schweizer Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfolgung

René Pilloud war jedoch längt nicht das einzige schwei­ze­ri­sche Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfol­gung. Wie ihm ging es vielen weiteren Frauen und Männern, die für den fran­zö­si­schen oder belgi­schen Wider­stand gekämpft oder sich in Osteu­ropa Parti­sa­nen­gruppen ange­schlossen hatten. Meldeten sie sich Ende der 1950er Jahre im Rahmen des Entschä­di­gungs­ab­kom­mens zwischen der Schweiz und der BRD für eine finan­zi­elle Wieder­gut­ma­chung an, so erhielten sie in der Regel nicht die volle Entschä­di­gungs­summe, da sie nach Ansicht der zustän­digen Kommis­sion aufgrund der Neutra­lität der Schweiz ein „Selbst­ver­schulden“ für ihre Verfol­gung aufwiesen. Mit der Unter­stüt­zung der Résis­tance, so die Argu­men­ta­tion der Kommis­sion, hätten diese Personen gegen die damals geltende Neutra­li­täts­ma­xime der Schweiz verstossen, weshalb sie nun bei der Entschä­di­gung Einschrän­kungen in Kauf nehmen müssten.

Die Schweizer Holocaust-Überlebende Nina Weil, eine von vier­zehn Über­le­benden des Holo­caust, denen in der ETH eine Ausstel­lung gewidmet war. Foto: Beat Mumenthaler

Zahl­reiche Schweizer Fami­lien, die im Ausland gelebt hatten, wurden als Juden verfolgt und konnten nur unter Zurück­las­sung ihres gesamten Hab und Gut in ihr ursprüng­li­ches Heimat­land fliehen. Sie erhielten weniger Entschä­di­gung, wenn ihre mate­ri­elle Situa­tion am Ende der 1950er Jahre von der zustän­digen Kommis­sion als „gut“ einge­schätzt wurde. Andere Jüdinnen und Juden waren depor­tiert und über Drancy nach Ausch­witz, Flos­sen­bürg oder andere NS-Lager gebracht worden, wo die meisten von ihnen ums Leben kamen. So erging es André Weill, 1895 in La Chaux-de-Fonds geboren. 1943 lebte er in Frank­reich, als er aufgrund seiner jüdi­schen Herkunft zusammen mit seiner Frau verhaftet wurde. Von Drancy depor­tierte man ihn nach Ausch­witz, wo sich seine Spur verliert. Bei vielen dieser NS-Verfolgten handelte es sich um Doppel­bürger, um Personen, die in der Schweiz geboren waren oder um solche, deren Eltern Schweizer waren. Sie waren ins Ausland ausge­wan­dert oder hielten sich dort vorüber­ge­hend auf.

Lücken im kollek­tiven Gedächtnis

Hinsicht­lich der NS-Verfolgten besteht im öffent­li­chen Gedächtnis der Schweiz eine merk­wür­dige Diskre­panz zwischen dem allge­meinen Inter­esse am Holo­caust einer­seits und dem Herstellen einer Verbin­dung zur Schweiz ande­rer­seits. Auf der einen Seite ist der Holo­caust wie überall in den west­li­chen Gesell­schaften auch hier­zu­lande ein allge­gen­wär­tiges Thema. In den letzten Jahren sind Lehr­mittel erschienen, die die NS-Zeit für Schü­le­rinnen und Schüler zugäng­lich machen. Seit 2004 wird in mehreren Kantonen in den Mittel­schulen jeweils Ende Januar ein Holocaust-Gedenktag begangen, und an verschie­denen Pädago­gi­schen Hoch­schulen nimmt die soge­nannte Holocaust-Education einen wich­tigen Stel­len­wert ein. Auch in Ausstel­lungen wird den Über­le­benden des Holo­caust gedacht: so in der aktu­ellen Ausstel­lung „The last Swiss Holo­caust Survi­vors“ zu den letzten noch lebenden Opfern des Holo­caust in der Schweiz, die aktuell im Archiv für Zeit­ge­schichte in Zürich zu sehen ist. Schliess­lich hat die Schweiz dieses Jahr den Vorsitz der Inter­na­tional Holo­caust Remem­brance Alli­ance über­nommen: einer aus 31 Mitglied­staaten bestehenden Orga­ni­sa­tion, die die Förde­rung von Forschung und Bildung im Zusam­men­hang mit dem Holo­caust sowie die Erin­ne­rung an die Opfer durch Gedenk­feiern und -stätten zum Ziel hat.

Der Holocaust-Gedenkstein auf dem jüdi­schen Friedhof in Endingen, Quelle: srf.ch

Während das gesell­schafts­po­li­ti­sche Inter­esse der inter­na­tio­nalen Debatte folgt, bleibt die wissen­schaft­liche Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema hinter den inter­na­tio­nalen Stan­dards zurück. Dies gilt insbe­son­dere für Forschungen, die eine Verbin­dung zwischen der Schweiz und der Shoah – und somit auch zu Schweizer Opfern der NS-Verfolgung – herstellen. Weil diese Biogra­fien bisher nicht syste­ma­tisch aufge­ar­beitet wurden, figu­riert die Schweiz in inter­na­tio­nalen Stan­dard­werken zu NS-Opfern wie jenem von Wolf­gang Benz zu den „Dimen­sionen des Völker­mords“ als weisser Fleck. Im Gegen­satz zu den meisten euro­päi­schen Ländern gibt es hier­zu­lande weder eine Liste, welche die Schweizer Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus erfassen würde, noch eine Erin­ne­rungs­kultur, die diesen Schick­salen (wenn über­haupt) eine über den Einzel­fall hinaus­ge­hende Bedeu­tung zumessen würde. Ganz anders präsen­tiert sich die Situa­tion im eben­falls neutralen Schweden, wo der Shoah offi­ziell gedacht wird. Auf dem Holo­caust­denkmal in Stock­holm sind auch die Namen jener Lager­in­sas­sinnen und –insassen eingra­viert, die – woher sie ursprüng­lich auch immer stammten – nach ihrer Befreiung zur Erho­lung nach Schweden kamen, aufgrund ihres schlechten Gesund­heits­zu­standes dort aber kurz darauf verstarben. In der Schweiz hingegen ist über die zahl­rei­chen über­le­benden Lager­häft­linge wie René Pilloud kaum etwas bekannt. Sie fehlen nicht nur in den wissen­schaft­li­chen Stan­dard­werken. Sie fehlen auch im Geschichts­be­wusst­sein und im kultu­rellen Gedächtnis einer Schweizer Öffent­lich­keit, die sich für den Holo­caust zwar sehr inter­es­siert, aber gerade den Schweiz-Bezug dieses Themas verpasst.

Kogni­tive Orien­tie­rungen des Sonderfalldenkens

In der Zeit nach dem Mai 1945 war das Inter­esse für die Geschichten von ehema­ligen KZ-InsassInnen auch in der Schweiz vorhanden. Print­me­dien oder auch Radio Bero­münster berich­teten über NS-Opfer aus der Schweiz. Andere Verfolgte traten wie René Pilloud selber an Zeitungen heran und machten ihre Erleb­nisse publik. Diese Thema­ti­sie­rungs­kon­junktur flachte aber schnell ab. Bereits in den 50er Jahren wollte man von solchen Schick­salen nichts mehr wissen. Zurück­zu­führen ist dies einer­seits auf den latenten Anti­se­mi­tismus, an den man in der Schweiz nach 1945 ohne Aufar­bei­tung anknüpfte. Dass die Empa­thie mit den mehr­heit­lich jüdi­schen Schweizer Opfern der NS-Verfolgung nicht allzu gross war, zeigte sich nicht nur am geringen medialen Inter­esse für den Entschä­di­gungs­pro­zess am Ende des Jahr­zehnts, sondern auch in den unüber­hör­baren anti­se­mi­ti­schen Unter­tönen, welche die parla­men­ta­ri­sche Debatte dazu beglei­teten. Wie in der Schweiz wohn­hafte Holocaust-Überlebende berichten, war die Thema­ti­sie­rungs­schwelle hoch. Die Angst vor Stig­ma­ti­sie­rung und Anti­se­mi­tismus trug mit dazu bei, dass ihre Erleb­nisse selbst inner­halb der Familie kaum zur Sprache kamen. Für das Abebben der Bericht­erstat­tung war ande­rer­seits entschei­dend, dass die Sonderfall-Doktrin in den 50er Jahren zum staats­po­li­ti­schen Dogma gerann. Im glei­chen Masse, wie die Neutra­lität der Schweiz zum zentralen Para­digma der Erin­ne­rung an die Kriegs­jahre wurde, traten die Schweizer Opfer der NS-Verfolgung, die es aus Neutra­li­täts­gründen gar nicht hätte geben dürfen, in den Hinter­grund. In Verlän­ge­rung des Neutra­li­täts­pa­ra­digmas erscheinen sie bis heute als eine Unmög­lich­keit. So gesehen lebt die kogni­tive Orien­tie­rung des Sonder­fall­den­kens mit ihrer charak­te­ris­ti­schen Mischung aus Über­le­gen­heits­ge­fühl und Isola­tio­nismus in der histo­ri­schen Forschung der Gegen­wart fort.

Abbau von Denk­bar­rieren als (geschichts-)politische Aufgabe

„Von der SVP wegen seines „selbst­an­klä­ge­ri­schen Grund­tons“ massiv kriti­siert, von der Lehrer­schaft aber geschätzt: Das 2006 erschie­nene Lehr­mittel „Hinschauen und nach­fragen: die Schweiz und die Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus im Licht aktu­eller Fragen“.

Das ist erstaun­lich, ist der Sonder­fall Schweiz mitt­ler­weile doch zu einem beliebten Studi­en­ob­jekt der Geschichts­wis­sen­schaft geworden. Spätes­tens seit die Schweiz vor gut zwanzig Jahren von den „Schatten des Zweiten Welt­kriegs“ einge­holt wurde, lässt sich dieser Mythos nicht mehr halten. Mitte der 1990er Jahre wurde die Schweiz auf Druck von aussen gezwungen, ihre kollek­tive Erin­ne­rung an die Zeit des NS und des Kriegs an die euro­päi­sche anzu­glei­chen. Gefragt war nicht mehr das Andenken an Armee und Neutra­lität, sondern die Aufar­bei­tung der wirt­schaft­li­chen Bezie­hungen zu NS-Deutschland. Mit der Unab­hän­gigen Exper­ten­kom­mis­sion Schweiz – Zweiter Welt­krieg (Bergier-Kommission), die ihre Arbeit 1996 aufnahm, setzte ein eigent­li­cher Forschungs­boom ein, der das histo­ri­sche Wissen um das Verhalten der Schweiz zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus erheb­lich erwei­tert hat. Obwohl die UEK in ihrem Schluss­be­richt von 2002 die fehlende Aufar­bei­tung der Schweizer Opfer der NS-Verfolgung beklagte und diese explizit als Forschungs­de­si­derat heraus­stellte, ist gerade in diesem Punkt ein beharr­li­ches Treten an Ort zu verzeichnen.

Es ist wichtig, dass die Geschichts­for­schung diese Denk­bar­rieren aus dem Kalten Krieg endlich über­windet. Es wäre nicht nur seltsam, wenn die Schweiz in ihrer aktu­ellen Funk­tion als Vorsit­zende der Inter­na­tional Holo­caust Remem­brance Alli­ance es ausge­rechnet im eigenen Land versäumte, die mit der NS-Verfolgung verknüpfte(n) Geschichte(n) zu erfor­schen und zu rekon­stru­ieren. Als Mitglied einer Orga­ni­sa­tion, die sich die Unter­stüt­zung, Koor­di­na­tion und Mobi­li­sa­tion von poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Initia­tiven zur Aufklä­rung, Erin­ne­rung und Forschung über den Holo­caust auf natio­naler wie auf inter­na­tio­naler Ebene ebenso zum Ziel gesetzt hat wie den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus, sollte die Schweiz viel­mehr aktiv dazu über­gehen, indi­vi­du­elle Erin­ne­rungen wie jene von René Pilloud dem kollek­tiven Gedenken durch entspre­chende Gedächt­nis­orte zugäng­lich zu machen. Wenn die letzten Zeit­zeu­ginnen und Zeit­zeugen der NS-Verfolgung sterben, versiegen die Erzäh­lungen aus eigener Anschauung. Es ist Aufgabe der Geschichts­wis­sen­schaft, die indi­vi­du­ellen Schick­sale zu rekon­stru­ieren, in den Archiven aufzu­spüren und in einen grös­seren Zusam­men­hang zu stellen. Die Gesell­schaft als Ganze ist dafür verant­wort­lich, ihnen auf dieser Grund­lage einen ange­mes­senen Platz im kultu­rellen Gedächtnis zu verschaffen.

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