Seit 1989 präsentiert die Zeitschrift "Bilanz" der Schweiz das Ranking der Reichsten im Lande. Die anfängliche Rhetorik des Aufdeckens ökonomischer Macht ist längst unbedingter Bewunderung gewichen.

dene wos guet geit
giengs besser
giengs dene besser
wos weniger guet geit… –
Mani Matter

Bahnte sich da eine kleine Revo­lu­tion in der Schweiz an? Es ging immerhin einer schwei­ze­ri­schen Kardi­nal­tu­gend an den Kragen. Diskre­tion. Andreas Z’Graggen, Chef­re­daktor des Schweizer Wirt­schafts­ma­ga­zins Bilanz, kündigte im Oktober 1989 eine neue Rubrik an (eine Novität in Europa), mit dem Ziel, die 100 Reichsten im Land aufzu­spüren. Eine „Sozi­al­to­po­gra­phie des Schwei­zer­me­ga­reich­tums“, um Trans­pa­renz über die Macht im Lande herzu­stellen: „Denn was ist zum Beispiel schon ein Gemein­derat eines Dorfes gegen den Fabrik­herrn, dem das halbe Dorf gehört“?

Eine kurso­ri­sche Lektüre dieses Projektes, das inzwi­schen 27 Ausgaben umfasst und sich zum Jahres­end­ri­tual (und zur Inse­ra­ten­orgie) etabliert hat, mani­fes­tiert Konti­nui­täten und Verän­de­rungen in der sprach­li­chen, visu­ellen und medialen Codie­rung des Reich­tums in der Schweiz. Im histo­ri­schen Rück­blick kommen kleine tekto­ni­sche Verschie­bungen im Umgang mit Reichtum in der Schweiz zum Vorschein. Und es zeigt sich die Persis­tenz eines Potlat­sches im Schwei­zer­format. „Geben, Nehmen, Erwi­dern“, so hat der Kultur­anthro­po­loge Marcel Mauss das Wesen des ameri­ka­ni­schen Potlat­sches beschrieben. In der Schweiz lautet das Credo demge­gen­über „Kaufen“ (8 Franken im 1989 bzw. 14 Franken im 2015), „Zuschauen“ (bei der Gala der Super­rei­chen) und „Still­halten“ (ange­sichts der wach­senden Ungleich­heit). Ein Advents­ge­nuss im Stell­ver­tre­tungs­modus. Eine käuf­liche Gold­glanz­gabe, bereits vor Weihnachten.

Bild: Monika Dommann

Bild: Monika Dommann

Die ameri­ka­ni­schen Rankings in der Tradi­tion des Jour­na­listen B. C. Forbes, der 1917 das Forbes Maga­zine und damit das Prinzip des Rankings in den Wirt­schafts­jour­na­lismus einführte, und des Fortune Maga­zines des US Verle­gers Henry Luce dienten dem Bilanz-Projekt 1989 als Vorbild. Im Prolog zur Reichs­ten­liste betonen Beat Bieri und Gabriele Moll jedoch gerade eine wich­tige Diffe­renz zur ameri­ka­ni­schen Vermö­gens­schau: Während das Ranking den ameri­ka­ni­schen Super­rei­chen schmeichle und ein Vergessen oder Igno­rieren sie kränke, seien die Reichen in der Schweiz von Scham getrieben und mit Verschweigen und Verste­cken ihres Reich­tums beschäftigt.

Das Cover der ersten Ausgabe von 1989 zeigte den Musiker und Gross­in­dus­tri­ellen Paul Sacher im Frack vor einem dezenten Gold­hin­ter­grund. 1990 zierte Vera Oeri-Hoffmann das Titel­blatt. Die reichste Frau der Schweiz entstammt wie Paul Sacher aus dem Clan der Hoff­Roche. Die Köpfe wichen aber bereits 1991 einer Zahl – der Zahl der aufge­spürten Reichen: 200 (1991), 250 (1993) und 300 (seit 1999). Während 1999, als erst­mals 300 Reichste taxiert wurden, alle Namen in Gold­schrift vor einem blauen Himmels­zelt­hin­ter­grund aufge­listet sind, wird seit 2000 allein dem Glanz des Goldes vertraut. Dabei finden sich bloss kleine Varia­tionen mit einem Schnee­witt­chen­spiegel (Wer ist die Reichste im ganzen Land?, 2004) oder Hermes (Sohn des Zeus, Schutz­gott­heit der Diebe und Kauf­leute, 2007). Seit 2010 lässt sich ein Trend zur Zahlen­magie beob­achten, indem die Total­summe des Vermö­gens der 300 Reichsten typo­gra­phisch in Szene gesetzt wird (469 850 000 000 Franken im Jahr 2010, 594 850 000 000 Franken im Jahr 2015). Es handelt sich hierbei um den hilf­losen Versuch der Teil­habe durch magi­sches Aufzählen einer abstrakten Einheit, einer gigan­ti­schen, unvor­stellbar grossen Zahl.

Bild: Monika Dommann

Bild: Bilanz / Monika Dommann

Die erste Ausgabe von 1989 wird durch eine Galerie von Kleinst­por­träts (Gesichts­auf­nahmen) in Schwarz­weiss (alle im 2.5×3.5mm Mini-Format) einge­leitet. Unter den vielen bril­len­tra­genden Männern in fort­ge­schrit­tenem Alter fallen gerade die schwarzen gesichts­losen Silhou­etten ins Auge. 1989 exis­tierte er noch, jener Mega­reiche, von dem über­haupt kein Bild in medialer Zirku­la­tion war (der Getrei­de­händler und Reeder Henri André). Die Gesichts­lo­sig­keit des Reich­tums, auch jenem halben Dutzend von Reichsten geschuldet, die ohne Antlitz bleiben wollten, war der eigent­liche visu­elle Reiz während der 1990er Jahre – ein eigent­li­cher McGuffin im Hitch­cock­schen Sinne: der Antreiber, immer neue Reiche aufzu­spüren, ihr Vermögen zu zählen, auf einer Liste zu ordnen und der Öffent­lich­keit als Gesicht zu präsen­tieren. Inzwi­schen ist dieser McGuffin verschwunden. 2015 sind alle Reichen mit grossen farbigen Brust- oder Ganz­kör­per­por­träts präsent. Aufge­nommen bei einem jener zahl­rei­chen Anlässe, wo sich Reiche zeigen: Firmen­ein­wei­hungen, Kultur­pre­mieren, Sport­an­lässe. Die Sujets zeigen das Besteigen von Privat­jets, Paar­bilder mit Ehefrau oder Part­nerin und, das wird in der 29-jährigen Geschichte immer auffäl­liger, mit Kunst. Bis 1992 erschien es ganz selbst­ver­ständ­lich, dass nur Schweizer Bürger Eingang in die Erfas­sung des Reich­tums fanden, das Wohn­ort­prinzip wurde vorerst nicht in Betracht gezogen. 1993 wurden erst­mals auch „Ausländer“ erfasst, ein Jahr nach der EWR Abstim­mung von 1992, als die Inte­gra­tion der Schweiz in den euro­päi­schen Wirt­schafts­raum an der Urne verworfen wurde.

In den ersten paar Ausgaben des Reichsten-Rankings domi­niert noch ein Gestus der Trans­pa­renz. Das Vorgehen des Kollek­tiv­werks von zwei Dutzend Jour­na­listen wird offen­ge­legt und die metho­di­schen Probleme der Erhe­bung werden disku­tiert: die Tatsache, dass Steu­er­aus­künfte nicht in allen Kantonen erhält­lich sind und dass als Folge von Steu­er­op­ti­mie­rungs­tech­niken Vermögen in den Steuern kaum abge­bildet werden, sowie der Hinweis, dass die Recherche bei börsen­ko­tierten Unter­nehmen und mittels Konkur­renz­be­fra­gung am ergie­bigsten sei. In den 1990er Jahren wurde das jähr­liche Reichsten-Aufspürritual explizit als inves­ti­ga­tives Unter­fangen begründet, als eine Offen­le­gung und Kontrolle der Macht, als Wissen, „wer ökono­mi­sche Macht in der Schweiz verkör­pert“ (1990) und als „demo­kra­ti­sche Hygiene in einer wenig demo­kra­tisch orga­ni­sierten Wirt­schaft“ (1999): „Wenn wir die Herren über unsere Arbeits­plätze schon nicht wählen können, dann wollen wir wenigs­tens wissen, wer sie sind.“ (2000).

Die Daten der Steu­er­sta­tistik mani­fes­tieren ein Bild einer zuneh­menden Ungleich­heit. Um die Jahr­tau­send­wende werden die Köpfe der Super­rei­chen erst­mals mit der Ebbe der Kasse der öffent­li­chen Hände in Zusam­men­hang gebracht (2001). Der aufklä­re­ri­sche Geist weicht Mitte der 2010er Jahre einer Legi­ti­mie­rung des Status Quo. Der Rekord­reichtum der 300 Reichsten im Jahr 2007 (529 Milli­arden Franken) wird mit einem Gedan­ken­spiel kommen­tiert, das bloss auf den ersten Blick wie eine Gesell­schafts­utopie anmutet: Aufge­teilt unter allen Einwoh­nern der Schweiz wären dies 74’500 Franken für jeden Einwohner der Schweiz. Doch dieser Möglich­keits­sinn wird dann gleich mit einem makro­öko­no­mi­schen Reali­täts­sinn in die Schranken gewiesen: „Gottlob handelt es sich hierbei nur um eine Rechen­übung: denn würden die 529 Milli­arden tatsäch­lich unters Volks aufge­teilt, löste dies einen noch nie gese­henen Konsum­rausch aus, die Wirt­schaft geriete aus den Fugen, die Infla­tion schösse durch die Decke.“

Nur schon der Gedanke an solche Potlat­sch­ri­tuale der Vermö­gens­ver­schwen­dung und der Reich­tums­dis­tri­bu­tion, die durchaus auch als gesell­schaft­li­ches Kohä­si­ons­me­dium gesehen werden können, sind der Bilanz während der Boom­jahre der Finanz­märkte ein Schre­ckens­ge­spenst. Diesen Brems­me­cha­nismus hat der Berner Lieder­ma­cher Mani Matter 1970 auf den Punkt gebracht: Es geht eben jenen, denen es weniger gut geht, nicht besser, weil es dann jenen, denen es gut geht, weniger gut gehen würde.

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Quelle: bilanz.ch/300-Reichste-live

Quelle: bilanz.ch/300-Reichste-live

Die Rhetorik des Aufspü­rens des Reich­tums und des Aufde­ckens der ökono­mi­schen Macht in der Schweiz ist nach 2000 einer Rhetorik der Über­hö­hung und der unbe­dingten Bewun­de­rung gewi­chen: „Frisch herein­spa­ziert, meine Damen und Herren, Manege frei für den Aufmarsch der 300 Reichsten. Die Schwein­werfer sind ausge­richtet auf 529 Milli­arden“ (2007). „Vorhang auf für die Parade der 300 Reichsten“ (2009).

Die poli­ti­schen Versuche (in Gestalt der SP Schweiz, Barack Obamas oder Angela Merkels), den Staat an dieser heiligen Orgie der Vermö­gens­ver­meh­rung durch Steuern teil­haben zu lassen, werden dezi­diert zurück­ge­wiesen („leis­tungs­hem­mende Gleich­ma­cherei“, 2010). Doch ausge­rechnet im Jahr 2014, als feier­lich die Zahl „588 825 000 000“ verkündet wurde, „der höchste je gemes­sene Stand“, bricht diese wirt­schafts­pu­bli­zis­ti­sche Zurück­wei­sung von sozi­al­po­li­ti­schen Forde­rungen in sich zusammen. Auch die Bilanz sieht sich nun genö­tigt, die Bühne frei zu machen für Thomas Piketty und sein „Substrat aus einem Jahr­zehnt Reich­tums­for­schung“ sowie sein Plädoyer für „dras­ti­sche Zwangs­ab­gaben“ (2014).

Die „Reichsten-Gala“ (2015) wurde 1989 zum unmit­tel­baren Erfolg („wir waren völlig ausver­kauft“, 1990), zum Medi­en­er­eignis („die meist zitierte Bilanz Ausgabe“, 1991) und zum Eldo­rado für Inse­rate von Luxus­pro­dukten (Autos, Uhren, Hotels, Parfums, Schmuck) und der sicheren Lage­rung von Reichtum (Vermö­gens­ver­wal­tung). Das Advents­pro­dukt hat es geschafft, den Kapi­ta­lismus zu konkre­ti­sieren und zu perso­ni­fi­zieren und hat damit ein Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­gebot geschaffen. Dass der Schweizer Souverän sich mit der jähr­li­chen Gold-Gala zufrieden gibt und die darin immer dras­ti­scher zur Schau gestellten Vermögen letzt­lich nie antastet („regarder mais pas toucher“ im Stephan Eicher­schen Sinne), zeigte die Ableh­nung der Erbschafts­steuer von 2015 anschau­lich. Es handelt sich bei der Gold­pos­tille letzt­lich mehr um eine Gabe, als einen Kauf. Denn wie jede Gabe verlangt sie eine Erwi­de­rung. Auf das Kaufen und Zuschauen folgt die Erwi­de­rung durch Stillhalten.

Es würde sich lohnen, die Narra­tive der Perso­ni­fi­zie­rung des Reich­tums und seines Perso­nals noch genauer unter die Lupe zu nehmen: die kleinen Porträts von Aufstei­gern und Abstei­gern, die Geschichten von Fami­lien und Dynas­tien. Das ist grosses grie­chi­sches Theater, Mytho­logie mit einem erstaun­lich stabilen Korpus von Figuren. Chris­toph Blocher („der reichste Poli­tiker“, 1989) und seine Familie sind seit der ersten Nummer promi­nent vertreten:

Bild: Monika Dommann

Bild: Bilanz / Monika Dommann

„Inzwi­schen kann er sich persön­lich immer mal wieder einen Hodler leisten“ (1989). Sechs­und­zwanzig Jahre lang sind die einzelnen Hodlers zu einer Gemäl­de­samm­lung gewachsen, die der Öffent­lich­keit im Museum Oskar Rein­hart in Winter­thur gezeigt wird. Die Geschichte der Jahres­end­bi­lanz ist auch eine Geschichte des Erblü­hens von Chris­toph Blochers Port­folio und eine Geschichte der Schweiz, die sich seit 1989 von diesem Milli­ardär („Unge­teilte Aner­ken­nung findet er als Manager“, 2001) gerne und beinahe wider­standslos den Reichtum vorführen lässt. Kaufen, Zuschauen, Still­halten, so lautet das Credo der Reichs­ten­be­gut­ach­tung in der Schweiz. Seit 1989 ist das Vermögen der Reichsten dabei konti­nu­ier­lich gewachsen. Und wenig ist geschehen, damit es jenen, denen es dabei beson­ders gut geht, etwas weniger gut geht.

Die Autorin dankt Esther Lauren­ci­kova und Karin Schraner.