Dass Demokratie durch einen bestimmten Lebensstil ‚gemacht’ werden kann, glauben wir schon eine Weile. Doch sollten wir nicht vergessen, dass Demokratie auch eine Staatsform mit handfesten Institutionen ist, die dadurch funktionieren, dass wir sie als Bürgerinnen und Bürger bespielen.

  • Peter Fritz

    Peter Fritz ist Dokto­rand an der Forschungs­stelle für Sozial- und Wirtschafts­ge­schichte der Uni­versität Zürich und arbeitet zum Verhältnis von sozialer Nähe und Demokratie in Westdeutschland.

Das Laster der Demo­kratie sind ja eigent­lich ihre Bürge­rinnen und Bürger. Um funk­tio­nieren zu können, braucht die Demo­kratie natür­lich Insti­tu­tionen. Parla­mente, große Pracht­bauten, hohe Richter in makel­losen Roben: Sie vertreten und versi­chern den demo­kra­ti­schen Staat. Doch wenn sich die Bürger ihr Vertrauen in diesen Apparat abge­wöhnen, bleibt der Demo­kratie schnell die Luft weg. So weit, so bekannt und in den letzten Jahren so vertraut. In Zeiten, in denen ein ominöser Volks­wille und Leute, die ihn zu kennen glauben, mit Volks­sou­ve­rä­nität auf entstel­lende Weise verwech­selt werden, ruft die Diagnose vom Bürger als Schwach­stelle alte Ideen wieder auf den Plan. Moral und die Lehren des Alltags verspre­chen Heilung: Um die demo­kra­ti­sche Schwach­stelle zu beheben, müsse man Demo­kratie als eine Lebens­form im mitmensch­li­chen Umgang veran­kern, so eine gängige Vorstel­lung. Ihr Ideal findet sie im guten Nach­barn, den sie dem schwa­chen Staats­bürger als Vorbild entge­gen­hält. Sind alle Probleme gelöst, wenn wir wieder liebe Nach­barn werden?

Der gute Nachbar

Es verwun­dert nicht, dass die ameri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Nancy Rosen­blum ihr Buch von den guten Nach­barn und der Demo­kratie des tägli­chen Lebens am Vorabend der Trump-Regentschaft veröf­fent­lichte. Wenn die Inte­grität formaler Demo­kra­tien nicht mehr gewähr­leistet ist, sei die Demo­kratie, die sich im alltäg­li­chen Umgang der Menschen zeige, der rettende Anker – so Rosen­blum. Die Profes­sorin aus Harvard begibt sich mit Good Neigh­bors: The Demo­cracy of Ever­yday Life in America auf die Suche nach einem strah­lenden Beispiel gelin­gender, gelebter Demo­kratie und findet dieses bei den guten Nach­barn. Dabei trifft sie eine wich­tige Unter­schei­dung: Ihr Fokus liegt nicht auf der Nachbarschaft als Teil des öffent­li­chen Raums, wo nach demo­kra­ti­schen Spiel­re­geln und bürger­li­chen Werten lokale Politik betrieben wird, wo aus lokaler Orga­ni­sa­tion und Selbst­ver­wal­tung der Grund­stein eines größeren demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen­ge­füges entsteht. Ihr Inter­esse gilt viel­mehr dem zwischen­mensch­li­chen Raum der sozialen Bezie­hungen unter Nach­barn. Doch warum soll die Demo­kratie ausge­rechnet von unseren lieben Nach­barn gerettet werden können? Die Bezie­hung von Nach­barn ist eine von unmit­tel­barer physi­scher Nähe geprägte Verbin­dung. Und diese Verbin­dung wird von uns tagtäg­lich bespielt, ohne dass wir eine genauere Vorstel­lung davon hätten, was eine Ethik des Nachbar-Seins ausmacht. Außer groben Vorstel­lungen von Freund­lich­keit und Hilfs­be­reit­schaft wissen wir – laut Rosen­blum – eigent­lich gar nicht, wie dieses Nachbar-Sein funk­tio­niert und doch prak­ti­zieren wir es jeden Tag.

Eröff­nung der Instal­la­tion „Denk mal! im öffent­li­chen Raum für Demo­kratie, Nach­bar­schaft und Inte­gra­tion“, Leipzig 2015; Quelle: weltoffenesgohlis.de

Der Nachbar ist unsere direkte Umwelt und der Hinter­grund, vor dem sich unser privates Leben abspielt. Und was wir da spielen, was wir da mit unseren Nach­barn machen, sei eben die „Demo­kratie des alltäg­li­chen Lebens“. Geben und Nehmen, Seine-Stimme-Erheben sowie Leben und Leben-Lassen, das seien die drei Grund­prin­zi­pien, auf denen der nach­bar­liche Umgang aufbaue. Also: Gießt Du meine Blumen, wenn ich im Urlaub bin, leere ich dafür Deinen Brief­kasten, während Du verreist bist. Höre ich laute Schreie und hand­greif­li­chen Streit aus der Nach­bar­woh­nung, gehe ich mal klin­geln und frage, ob alles in Ordnung ist. Und wenn Herr Müller von nebenan meint, er müsse jeden Tag sein Auto putzen, dann finde ich das zwar seltsam, lasse ihm aber seinen Spleen. In der Begeg­nung mit dem Nach­barn handeln wir stets Verhal­tens­re­geln aus und bringen sie gleich­zeitig zur Anwen­dung. Nach Rosen­blum ist eine demo­kra­ti­sche Grund­ethik im nach­bar­li­chen Umgang erlern- und erfahrbar. Und da wir den Nach­barn als einen Jeder­mann wahr­nehmen, findet dieser Aushand­lungs­pro­zess des nach­bar­li­chen Umgangs sogar im Ange­sicht der Gleich­heit statt. Was mich am Nach­barn inter­es­siert, seien nämlich nicht sein sozialer Status, seine Haut­farbe oder sein Port­monee, sondern der Umstand, dass er in meiner Nähe wohnt und gerade darum meine Blumen gießen kann. So zumin­dest das von Rosen­blum beschrie­bene Ideal, das sich in der Realität leider nur zu oft an genau diesen benannten Punkten bricht.

Demo­kratie als Lebensform

Ob man es nun für sinn­voll hält oder nicht: Im Ideal des guten Nach­barn als mora­li­schem Kompass, durch den das ins Wanken gera­tene Schiff des demo­kra­ti­schen Staates wieder auf Kurs gebracht werden kann, leuchtet eine bereits bekannte Idee wieder auf. Das Inter­es­sante an Rosen­blums Argu­men­ta­tion ist, dass sie zwei Dinge mitein­ander verschmilzt: zum einen die Dyna­miken und Spiel­re­geln des sozialen Mitein­an­ders, zum anderen die abstrakte Idee einer demo­kra­ti­schen Haltung. Dabei kommt so etwas wie eine Verhal­tens­lehre der Nähe unter demo­kra­ti­schen Vorzei­chen heraus. Demo­kratie wird zu einer Lebens­form erklärt, zu einem Set sozialer Prak­tiken. Das ist nicht neu: Dass eine Demo­kratie Demo­kraten braucht, sagt man sich schon eine ganze Weile. Ihre wissen­schaft­liche Theo­re­ti­sie­rung erfuhr diese Über­zeu­gung durch John Dewey: 1916 machte der Philo­soph und Pädagoge mit seinem Buch Demo­cracy and Educa­tion unmiss­ver­ständ­lich klar, dass Demo­kratie nicht nur ein Staats-, sondern auch ein Gesell­schafts­pro­jekt sei. Um sie zu haben, müsse man Demo­kraten machen.

Diese Einsicht setzte sich im Denken über Demo­kratie fest. Seither kann man fleißig zur Demo­kratie erziehen und in der Gesell­schaft darauf achten, dass alle einen demo­kra­ti­schen Lebens­stil pflegen. Spätes­tens seit Mitte des 20. Jahr­hun­derts geriet die Schwach­stelle Bürger dann auf eine Weise in den Fokus, wie sie auch noch das Denken von Nancy Rosen­blum prägt. Der Blick wandte sich vom Einzelnen mit seinen staats­bür­ger­li­chen Rechten und der abstrakten Gesell­schaft ab, hin zu konkreten Bezie­hungen zwischen den Menschen. Auch die Sozi­al­wis­sen­schaften begannen sich jetzt für Grup­pen­pro­zesse und zwischen­mensch­liche Bezie­hungs­ge­flechte zu inter­es­sieren. Seien es die Forschungen einer Elisa­beth Pfeil, eines Paul Watz­la­wick oder die Grup­pen­ex­pe­ri­mente Fried­rich Pollocks: Die soziale Nähe wurde zum entschei­denden Beein­flus­sungs­faktor für alle mögli­chen Prozesse – und damit auch für die Demo­kratie. Der Umgang im nahen sozialen Umfeld versprach fortan, einen Einblick in den Zustand der gelebten Demo­kratie zu geben. Und gleich­zeitig boten sich soziale Nahbe­zie­hungen wie die der Nach­barn als geeig­nete Stell­schrauben an, um den demo­kra­ti­schen Lebens­stil richtig einzupegeln.

Demo­kratie im Aufbau

„Zwang­loses Beisam­men­sein von Jugend­li­chen verschie­dener Nationen“ in einem Nach­bar­schafts­heim, 1960; Quelle: Unsere Nach­bar­schafts­heime 1960/61

Wirft man einen Blick auf Deutsch­land nach dem Zweiten Welt­krieg, kann man diese Art von Arbeit an der demo­kra­ti­schen Einstel­lung gut beob­achten. Am Phänomen der soge­nannten Nach­bar­schafts­heime zeigt sich eindrück­lich, wie aus der unmit­tel­baren Not des Nach­kriegs heraus in nach­bar­li­cher Unter­stüt­zung am Geist der Demo­kratie gezim­mert wurde. 1951 grün­dete sich der Verband Deut­scher Nach­bar­schafts­heime. Zu diesem Zeit­punkt waren bereits 13 Nach­bar­schafts­heime in städ­ti­schen Gebieten der jungen Bundes­re­pu­blik einge­richtet worden, sechs davon in West­berlin. Diese Einrich­tungen sollten „beweg­liche“ und „spon­tane“ Selbst­hilfe jenseits der staat­li­chen Sozi­al­für­sorge gewähr­leisten und dienten in verschie­denen Spiel­arten als soziale Treff­punkte und Begeg­nungs­orte der Anwohner und Fami­lien. Von Sozi­al­ar­bei­tern entworfen und durch Aufbau­pro­gramme der Alli­ierten geför­dert, fungierten diese Einrich­tungen als Kompo­nenten einer Gemein­we­sen­ar­beit, die den Bürge­rinnen und Bürgern Möglich­keiten zur Selbst­hilfe bieten wollte. Hier wurden Diskus­si­ons­abende veran­staltet, hier wurde mit Kindern und Jugend­li­chen in Arbeits­räumen gewer­kelt, hier wurden Schuhe repa­riert, Kleider genäht, wurde gegessen, gesungen und getanzt.

Auffällig ist dabei, wie stark der Verein der Nach­bar­schafts­heime seine Praxis als eine demo­kra­ti­sche verstand. Nicht nur sollte der Aufbau des Vereins und eines jeden Nach­bar­schafts­heims demo­kra­tisch verfasst sein, sollten Unter­aus­schüsse aus „Besu­chern, Nach­barn und Freunden“ die einzelnen Schwer­punkte und Grup­pen­ar­beiten planen wie auch ausführen. Sondern die gesamte Idee der Nach­bar­schafts­heime galt über­ge­ordnet dem poli­ti­schen Zweck, im Kleinen der Nach­bar­schaft das Große des Staates vorzu­be­reiten, Demo­kratie alltäg­lich zu leben. So findet man etwa Sätze wie den folgenden in den Präam­beln der Vereins­sat­zungen der Nach­bar­schafts­heime Ende der 40er Jahre: „Wir wollen in der von uns gebil­deten Gemein­schaft lernen, Verant­wor­tung zu über­nehmen […] und Initia­tive zu entwi­ckeln, um so dem Einzelnen zu helfen, seinen Platz in einer größeren gemein­schaft­li­chen Ordnung auszufüllen.“

Stras­sen­fest vor einem besetzen Haus in München, 1981; Quelle: ovb-online.de

„Demo­kratie ist machbar, Herr Nachbar!“ hätte sich durchaus als Motto der Nach­bar­schafts­heime der Nach­kriegs­zeit ange­boten. Doch der Spruch entstand erst Jahre später in jenem poli­ti­schen Milieu, das nach 1968 voller Verach­tung auf die apoli­ti­sche Adenauer-Ära zurück­schaute. In der Abwen­dung von den spie­ßigen, staats­gläu­bigen und auto­ri­tären Jugend­jahren der Bundes­re­pu­blik wollten die unkon­ven­tio­nellen Links­al­ter­na­tiven „mehr Demo­kratie wagen“, die Demo­kra­ti­sie­rung der gesamten Gesell­schaft nach­holen, die bisher versäumt worden sei. Auch sie setzten dabei ihre Hoff­nungen auf die Nach­bar­schaft: neue Wohn­formen, Haus­be­set­zungen und Stadt­teil­feste waren dabei nur die konkre­testen Formen dieser nach­bar­schaft­li­chen Demo­kra­tie­be­mü­hungen von unten. Letzt­lich schien alles, was das alter­na­tive Milieu erstrebte (Femi­nismus, Anar­chie, atom­waf­fen­freie Zonen), im Austausch mit den Nach­barn vor der eigenen Haustür „machbar“. Die Idee der Nach­bar­schafts­de­mo­kratie leuch­tete nicht nur denen ein, die im zerstörten Deutsch­land einen demo­kra­ti­schen Staat errich­teten. Auch jenen, die den Muff von tausend Jahren endlich aus der Repu­blik wegwünschten, versprach die Gemein­schaft der Nach­barn demo­kra­ti­sche Heilung.

Demo­kratie als Staatsform

Mit ein wenig Abstand sieht man: Die Vorstel­lung der Demo­kratie als Lebens­form stammt aus einer Zeit, als sich unsere heutigen Demo­kra­tien etablierten bzw. festigten. Was in den 1950er- und 1970er-Jahren dazu diente, unge­übten Demo­kraten in ihre Staats­form zu helfen, kann heute nicht die allei­nige Lösung sein. Natür­lich ist es aus vielen Gründen sinn­voll, danach zu fragen, ob wir noch anständig mitein­ander umgehen und wie wir uns besser unter die Arme greifen können. Hier ist Nancy Rosen­blum durchaus beizu­pflichten. Doch ist das wirk­lich die Antwort auf die Probleme unserer heutigen Demo­kratie? Viel­leicht brau­chen Demo­kra­tien der Gegen­wart wieder mehr Mut zu der Einsicht, dass die Demo­kratie eben auch eine Staats­form ist. Das klingt erstmal recht banal. Doch Demo­kratie ist nicht nur ein Feeling, ein Spirit und eine Haltung, die man in nächster Nähe zu anderen ausleben kann, sondern eben auch ein Ensemble hand­fester Insti­tu­tionen. Auch daran erin­nert der Blick in die Nach­bar­schaft gerade dann, wenn er sich vom Klischee der guten Nach­barn befreit, das die demo­kra­ti­schen Hoff­nungen beständig beschwören: Die stetig stän­kernden Leute von nebenan, der rassis­ti­sche Haus­wart, die Strei­tig­keiten um Haus­ord­nungen, zu laute Musik und Garten­he­cken, die die Gerichte des Landes beschäf­tigen – dies alles fehlt in jenem Bild der nach­bar­schaft­li­chen Demo­kratie, das uns heute wieder den Weg weisen soll. Doch gerade diese Konflikte zeigen, dass es für ein gelin­gendes Mitein­ander mehr braucht als Freund­lich­keit und nach­bar­schaft­liche Soli­da­rität: nämlich Rechte und Regeln sowie Insti­tu­tionen, die Strei­tig­keiten entscheiden, die sich nicht im Guten klären lassen. Hierin liegt die wich­ti­gere Einsicht für die gegen­wär­tige Krise der Demo­kratie: Ihr Demos ist nicht allein dein freund­li­cher Nachbar, findet sich nicht nur in der beschau­li­chen Heimat und ist auch sicher­lich nicht das eine geeinte Volk, sondern auch eine abstrakte Funk­tion. Wie die Nach­barn vor der eigenen Wohnungstür sind auch die Staats­bürger eine bunte und wider­sprüch­liche Menge an Menschen, die staat­liche Insti­tu­tionen bespielt, am Leben erhält und begrenzt. Dadurch wird Demo­kratie gemacht.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: