Können Masken helfen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen? Diese Frage wird derzeit in Deutschland und anderen westlichen Ländern – ganz anders als etwa in China, Japan und Hongkong – äußerst kontrovers debattiert. Zwar engagieren sich Personen des öffentlichen Lebens unter dem Hashtag #maskeauf für das Tragen eines Gesichtsschutzes. Die Stadt Jena verpflichtet ihre Bürger*innen zum Tragen von Masken in der Öffentlichkeit, und die österreichische Regierung hat jüngst entschieden, dass ähnliche Maßnahmen nach dem Ende der Ausgangssperre gelten sollen. Doch bleiben diese Regelungen umstritten – deutlich umstrittener als andere Maßnahmen des social distancing.
Befürworter*innen des Maskentragens argumentieren, dass Tröpfcheninfektionen verhindert oder zumindest verringert werden könnten, wenn alle in der Öffentlichkeit Masken anlegten. Aufgrund der Knappheit solcher Modelle in westlichen Ländern ist dabei keineswegs von Filtermasken die Rede: vielmehr werden Leser*innen dazu aufgerufen, sich selbst Masken aus Baumwollstoff anzufertigen.
Gegner*innen hingegen sind äußerst kreativ in der Wahl ihrer Argumente. Nicht nur verengen sie häufig die Debatte auf medizinische Masken und suggerieren so, eine Maskenpflicht liefe auf eine allgemeine Nutzung dieses knappen Guts und damit auf unsolidarisches Handeln heraus. Andere, die die Maskenpflicht aus medizinischen Gründen für unsinnig halten, behaupten, sie dienten lediglich dem Fremdschutz (in der Annahme, das nur zweifelsfrei Infizierte sie tragen sollten) – ein Argument, das zweifellos entkräftet würde, wenn eben alle Masken trügen. Auch wird mitunter behauptet, Masken begünstigten aufgrund der Anonymität, die sie herstellten, die so genannten Hamsterkäufe. Bisweilen wird jedoch auch ganz offen das Argument geäußert, eine generelle Verpflichtung zum Tragen von Masken sei in Europa – anders als in Asien – nicht durchzusetzen.
Die Maske und das Andere
Dieses essentialistische Argument – dass die Maske ungeeignet für europäische Gesellschaften sei – ist aufschlussreich: Es verweist auf einen Mechanismus des Othering über den Aspekt der Gesichtsverhüllung, wie er zuletzt in der Debatte um Formen der Gesichtsverschleierung im Islam zu beobachten war.
Doch dieser Diskurs ist, wie ein Blick in Reiseberichte über Vorderasien und Nordafrika sowie in Porträtfotografie aus der Region zeigt, schon wesentlich älter. Westliche Reisende des 19. Jahrhunderts wie Helmuth von Moltke oder Mark Twain verglichen Frauen in Ganzkörperverschleierung mit Gespenstern oder Toten. Ein ähnliches Bild vermittelten eigens für den beginnenden Tourismus in der Region hergestellte Studiofotografien, die Frauen in vollständiger Verhüllung zeigten. Reisende und Fotograf*innen schienen sich einig zu sein: Die Gesichtsverhüllung nahm dem Individuum das Individuelle, und mehr noch: die Freiheit.

Algerien, 19. Jh.; Quelle: sarrazins.fr
Ganz andere Akzente hatte da noch Lady Mary Wortley Montagu Anfang des 18. Jahrhunderts gesetzt, als sie behauptete, Frauen nutzten die durch Verschleierung gewonnene Anonymität, um ihre sexuellen Handlungsspielräume zu erweitern. Reisende des 19. Jahrhunderts hingegen nahmen die Verschleierung überwiegend negativ wahr, und zwar nicht nur, weil sie mit ihr einen Mangel an Lebendigkeit und an Freiheit assoziierten. Wie die Geschlechterforscherin Meyda Yeğenoğlu argumentiert, irritierte sie westliche Beobachter*innen ebenfalls aus zwei anderen Gründen. Zum einen erlaubte sie es der Trägerin ihre vermeintlich wahre Natur zu verbergen. Zum anderen ermöglichte sie es ihr, zu sehen ohne gesehen zu werden – und verlieh ihr damit Macht.
Europäische Masken: Ausnahme und Status
Diese Missbilligung von Praktiken der Gesichtsverhüllung mag erstaunen, waren diese doch auch in Europa nicht unbekannt. Auf Maskenbällen und im Karneval gewährte sie Männern und Frauen des Ancien Régime eine moralische Auszeit. Aus medizinischen Gründen getragen schützte sie vor der Übertragung von Krankheiten, oft nicht allein durch die Maske selbst, sondern – wie im Fall der Pestmaske – auch durch wohlriechende Kräuter, die in ihr transportiert wurden. Im militärischen Kontext war Gesichtsverhüllung sogar schon eher bekannt: Ritterrüstungen verdeckten oft das gesamte Gesicht und gewährten nur einen schmalen Sehschlitz; Fechtmasken verdeckten sogar das komplette Gesicht. In der Frühen Neuzeit schützte der so genannte Visard den standesgemäß hellen Teint von Frauen der Oberschicht vor der Sonne: eine oft schwarze Maske, die lediglich für die Augen Öffnungen ließ und durch einen Steg in Höhe des Mundes an Ort und Stelle gehalten wurde. Im 19. Jahrhundert trugen Frauen bei der Heirat sowie bei Begräbnissen und in der Trauerzeit einen – wenngleich transparenten – Gesichtsschleier. Seit dem späten 18. Jahrhundert ermöglichte die Maske das Tauchen, seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert den Schutz vor Giftgas im Krieg. Freilich war allen diesen Praktiken der Gesichtsverhüllung zweierlei gemein: Sie wurden lediglich vorübergehend getragen und/oder überwiegend von Männern und Frauen höheren Standes, also keineswegs der Mehrheit der Gesellschaft. Die Maske, so konstatierte ferner der Literaturwissenschaftler Mikhail Bakhtin, war dabei verbunden mit dem Übergang, der Metamorphose, der Verletzung natürlicher Grenzen. So lange sie zeitweilig und ein Vorrecht sozialer Eliten war, fand die Gesichtsverhüllung also bis ins 19. Jh. hinein und darüber hinaus in Europa durchaus Akzeptanz.
Sichtbarkeit, das Individuum und der moderne Staat
Sichtbarkeit allerdings war, wie Kulturwissenschafter*innen seit Foucault gezeigt haben, Signum des modernen Staats. Während der Gedanke des Panopticon nur auf dem Papier für die Gestaltung von Fabriken, Gefängnissen, und anderen Anstaltsgebäuden einflussreich wurde, leisteten die Entwicklung der Kriminalfotografie mit Hilfe des Bertillonschen Systems und nach dem Ersten Weltkrieg des Reisepasses mit Lichtbild einen entscheidenden Beitrag in diese Richtung. Wesentlich neueren Datums sind das Vermummungsverbot, wie es etwa im deutschen Recht verankert ist, und die Videoüberwachung. Die Technik der Gesichtserkennung schließlich bietet das Maximum an Sichtbarkeit im physischen wie virtuellen Raum.
Gleichzeitig entwickelte sich die Idee des Individuums zur Grundlage sich als liberal und säkular verstehender Gesellschaften bis in die Gegenwart. Dieses Individuum sollte vermeintlich autonom handeln und in seiner Freiheit möglichst wenig eingeschränkt werden. In der Praxis war das Individuum in erster Linie ein männliches, bürgerliches, weißes. Für andere Bevölkerungsgruppen waren die Handlungsspielräume wesentlich enger bemessen. Dies berührte jedoch nicht den Gedanken individueller Handlungsfreiheit als Ideal moderner Gesellschaften. Neben der Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit genoss das moderne Individuum übrigens auch – auf rein rechtlicher Ebene – Freiheit in der Wahl der Kleidung, so lange diese nicht religiös codiert zu sein schien: Eigentliche Kleiderordnungen gab es in der Neuzeit vor dem Nationalsozialismus nicht mehr.

Fang Maske, Louvre; Quelle: wikimedia.org
Gesichtsverhüllung hingegen wurde seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr mit dem kulturell Anderen assoziiert. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere aus Afrika und dem Pazifik stammende Masken zum Faszinosum. Sie verwiesen auf religiöse Rituale und Gesellschaftsordnungen, die nicht auf dem Gedanken des Individuums, sondern auf durch Übergangsriten strukturierten Lebensaltern basierten. Masken wurden Gegenstand europäischer Sammlungen. Sie inspirierten die Kunst der Moderne. Doch im europäischen und nordamerikanischen Alltag war die Gesichtsverhüllung vor allem im 20. Jahrhundert ferner denn je. Selbst die noch im 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit allgegenwärtigen Kopfbedeckungen, damals Zeichen der Respektabilität, verschwanden nun. In westlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts zeigte man zunehmend Gesicht, um Authentizität und Ehrlichkeit zu kommunizieren.
Das Evangelium der westlichen Hygiene
Parallel verfestigte sich u.a. durch den Kolonialismus die Auffassung westlicher Hygiene als kulturell überlegen. Dies galt für die Urbanisierung, in der die Modernisierung von Paris unter Haussmann mit Kanalisation, Straßenbeleuchtung, Sichtachsen und Boulevards Vorbild auch für die Umgestaltung außereuropäischer Städte wurde. Es galt für die Medizin, deren westliche Ausformungen andere Formen medizinischen Wissens zwar nicht vollends verdrängten, jedoch die universitäre Lehre dominierten. Auch in der Lebensmittelchemie und -hygiene wurden westliche Standards führend. Hauswirtschaft wurde zum Kernbestandteil westlicher Akteure im Bildungswesen in kolonialen und quasi-kolonialen Kontexten. Diese und andere Akteure sorgten auch für eine Verbreitung westlicher Standards im Bereich der körperlichen Reinlichkeit. In der Praxis setzten sich auf all diesen Feldern westliche Vorstellungen niemals einheitlich durch (nicht nur deshalb, weil Kolonialmächte dies zum Teil aus Rassismus, aus ökonomischen Gründen und auch schlicht aus Mangel an Handlungsmacht nur halbherzig verfolgten). Vielmehr kam es zur Bildung von pidgin knowledge (H. Fischer-Tiné), von hybridem Wissen. Doch aus westlicher Perspektive erschienen die eigenen Vorstellungen von Hygiene dennoch als überlegen.
„Eine Maske erzählt uns mehr als ein Gesicht“
Neben dem Umstand, dass westliche Regierungen kaum für den Fall einer Pandemie vorgesorgt haben, sind es wohl diese beiden Punkte – die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Hygiene und die Ablehnung von Gesichtsverhüllung –, die eine Akzeptanz der Maske in der gegenwärtigen Situation erschweren, selbst wenn auch in Deutschland und anderswo in den letzten Tagen medizinische Experten mehr und mehr die Vorteile des Maskentragens hervorheben – und Masken sogar zum Zankapfel zwischen westlichen Staaten werden. Das Argument gegen die Maske ist, so zeigt auch ein Blick auf Reiseberichte des 19. Jahrhunderts, ein zutiefst orientalistisches. Während es aus hygienischen Gründen schlüssig erscheint, dass sich das Coronavirus eindämmen ließe, wenn jede*r in der Öffentlichkeit eine Maske trüge, stehen kulturelle Argumente mit langer historischer Tradition dieser pragmatischen Lösung im Weg. Zu groß ist die Sorge vor einem Verlust des Gesichts. Selbst die Kampagnen für das Tragen von Masken setzen daher auf den Faktor Individualität, und dies wohl nicht nur aus schierer Knappheit an medizinischen Masken, wenn sie die kreativen Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen betonen. Oscar Wilde hat wohl recht, wenn er behauptet, dass eine Maske uns mehr erzählt als ein Gesicht.