In einem TED-Talk machte sich der aus Bulgarien stammende Politikwissenschaftler Ivan Krastev vor einiger Zeit Gedanken über die Auswirkungen von Smartphones und sozialen Medien wie Twitter auf die demokratische Kultur. Beeindruckt schilderte er, wie sich das Smartphone als Lügendetektor nutzen ließe: „So kann ein Wähler alle erdenklichen Behauptungen von Politikern in Echtzeit überprüfen – von den gewichtigsten politischen Fragen bis hin zu den trivialsten persönlichen Anekdoten.“ Politiker seien heute also einem stark erhöhten Risiko ausgesetzt, sich zum Narren zu machen: „Der übergroße Einfluss von Faktenüberprüfungs-Websites während des letzten US-Präsidentschaftswahlkampfs illustriert mustergültig die Macht des Smartphones, die Wahrheit zutage zu fördern – oder zumindest vorzugeben der Öffentlichkeit die faktische Wahrheit zu präsentieren.“

Walead Besthy: „TRANSPARENCY (NEGATIVE) [KODAK PORTRA 400NC EM. NO. 0291: NOVEMBER 6 – 9, 2009 LAX/DFW DFW/LAX]“; Quelle: sothebys.com
Ähnlich wie Menschenrechte gehört der Begriff Transparenz zu den Konzepten, die eine lange Genealogie besitzen. In diesem Fall führt sie vor allem in die Zeit der Aufklärung zurück. Seither teilen moderne Demokratietheorien die Idee, dass an die Stelle des Arkanums des absolutistischen Staates die öffentliche Überprüfbarkeit politischer Entscheidungen treten müsse. Die moderne Form des Staatsgeheimnisses sieht sich in demokratischen Gesellschaften somit ständigen Forderungen nach Offenlegung ausgesetzt. Neben dem Entstehungshorizont verbindet die Begriffe Menschenrechte und Transparenz aber auch noch etwas anderes: Beide sind zwar über lange Zeit als intellektuelle Diskurse nachweisbar, aber erst mit großer Verzögerung erlangten sie den Status einer normativen Ressource, mit der politische Forderungen wirksam legitimiert werden konnten. Damit einher ging jeweils auch die Institutionalisierung dieser begrifflichen Konzepte. Dazu gehörten nationale und internationale Organisationen, aber auch zivilgesellschaftliche NGOS wie Amnesty International und ihr später gegründeter Namensvetter Transparency International.
Perfektibilität des Bestehenden
Wie kam es dazu, dass der Begriff „Transparenz“ seit den 1980er Jahren in Diskussionen über Governance und Institutionendesign zumindest in westlichen Industrienationen quasi-religiöse Bedeutung erhielt, wie Christopher Hood 2006 behauptete? Ein möglicher Erklärungsansatz wäre, dass der Aufstieg – und mittlerweile Fall – von Transparenz und Neoliberalismus eng verkettet sind. Der Marktfundamentalismus als kleinster gemeinsamer Nenner des Neoliberalismus basiert auf der Vorstellung prinzipiell transparenter Märkte und zielt dabei auf die Veränderung des Verhältnisses von globalisierter Wirtschaft und nationalen Staaten, die beide zum Ansatzpunkt für Transparenzforderungen geworden sind. Zugleich beschworen Politiker in der Blütezeit des Neoliberalismus von den 1980er Jahren bis zur großen Finanzkrise am Ende der Nullerjahre immer wieder die Alternativlosigkeit dieses Konzepts und der damit einhergehenden ökonomischen Globalisierung. Umgekehrt zielte die Forderung nach Transparenz weder auf Reform, noch gar auf Revolution, sondern eher auf die Perfektibilität des Bestehenden. Insofern ergibt sich abermals eine mögliche Parallele zur Geschichte der Menschenrechte, deren Erfolg seit den 1970er Jahren Samuel Moyn als eine letzte Utopie der desillusionierten Bürgerrechtsbewegungen in den USA erklärte.

Edward Hopper: Office in a Small City, 1953; Quelle: artnews.com
Seit einigen Jahren gilt aber nicht nur der Neoliberalismus als abgeschlossene Epoche und hält sich vor allem noch als gemeinsames Feindbild einer losen Gesinnungsgemeinschaft aus Globalisierungskritikern und vagierenden Linken. Auch der Begriff der Transparenz ist suspekt geworden. Ähnlich wie Ivan Krastev, der vom „Transparenzwahn“ spricht, beschwört etwa der Harvard-Jurist und Gründer der Open-Commons Bewegung Lawrence Lessig die Gefahren einer exzessiven Transparenzbewegung für die liberale Demokratie. Beide heben im Kern darauf ab, dass immer mehr Daten und Informationen keineswegs automatisch mehr Verständnis für politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse mit sich bringen, sondern im Gegenteil gerade unterkomplexe Erklärungen bis hin zu Verschwörungstheorien bedingen. Radikale Transparenz schaffe damit, so Krastev, nicht mehr Vertrauen in die Politik, sondern kultiviere das permanente Misstrauen.
Auch der deutsche Politikwissenschaftler Claus Leggewie warnt in einer Auseinandersetzung mit einer Vertreterin der Piratenpartei, die einen kurzen Sommer lang als politischer Arm der Transparenzbewegung ihre Laptops in deutschen Parlamenten aufschlug, vor den Gefahren des Transparenzzwangs. Dieser führe im Kontext der durch soziale Medien produzierten Selbstverstärkung abgeschlossener politischer Meinungen zum Ende politischer Deliberation. Am radikalsten kritisiert schließlich der deutsche Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han in einer an Heidegger und Frankfurter Schule geschulten kulturpessimistischen Perspektive das allgegenwärtige „Pathos der Transparenz“ als Transparenzzwang, der das Individuum einer von neoliberalen Marktkräften erzwungenen permanenten Selbstentblößung unterwerfe: am Ende dieser Diagnose steht das Gespenst der totalen Kontrollgesellschaft.
Die Ambivalenzen der Transparenz

Herzog und de Meuron, Fensterdurchblick Elbphilharmonie, Hamburg, Foto: Michael Zapf; Quelle: arquitecturaviva.com
Was bedeuten diese intellektuellen Diagnosen für die Rolle von Transparenz als politischer Norm in unserer Gegenwart? Und inwieweit besitzen sie diagnostische Kraft? Zunächst kann man feststellen, dass im intellektuellen Diskurs die Transparenzkritiker derzeit die Überhand haben. Diese sind weniger Anhänger einer von Martin Jay vor einigen Jahren so charakterisierten „anti-okularen“ Denkströmung, die die Wahrheit eher im Dunkeln als im aufklärerischen Licht suchen. Vielmehr heben die Kritiker vor allem auf die ambivalenten Wirkungen von Transparenz ab: Als Ergebnis von Transparenzbemühungen entstünden nicht einfach größere Sichtbarkeit politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse, sondern immer neue Zonen der Unsichtbarkeit.
Das hier formulierte kollektive Unbehagen verweist auf ein grundsätzliches Problem: Transparenz lebt von der Vorstellung klarer Fronten: gut und böse, Licht und Schatten, Staat und Gesellschaft stehen sich dort dichotomisch gegenüber. Das scheint aber immer weniger zu funktionieren, wenn es denn jemals funktioniert haben sollte. Während zum Beispiel in der Bundesrepublik Bundeswehr und Geheimdienste mit großen Anzeigen um den Hackernachwuchs werben – „Wann darf man Hacker hacken? Mach was wirklich zählt“ –, hält der Sprecher des Chaos Computer Clubs Linus Neumann noch an den klassischen Unterscheidungen fest, die er jüngst in einem Interview formulierte: „Das eine sind Geheimnisse der Bürger. Das andere sind – schmutzige – Geheimnisse des Staates. Es macht einen Unterschied, ob man solche Geheimnisse an eine bestimmte Partei gibt, so wie das Geheimdienste tun. Oder ob man gesellschaftliche Missstände aufdeckt, indem man diese Geheimnisse an die Allgemeinheit gibt.“
Solche klaren Unterscheidungen scheinen am ehesten noch dort zu überzeugen, wo es um Systeme internationaler wirtschaftliche Steuerhinterziehung geht. So erhielt jüngst das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) den Pulitzer-Preis für die Veröffentlichung der Panama Papers, die der internationalen Offshore Finanzindustrie auf den Leib rückten. Schwieriger wird es schon, wenn es etwa um die Enthüllungsplattform Wikileaks geht, deren Tätigkeit in letzter Zeit viel an öffentlichem Glanz verloren hat. Wikileaks und ihr Chef Julian Assange sind zuletzt unter Verdacht geraten, sich wissentlich oder unwissentlich vor den Karren russischer Geheimdienste spannen zu lassen und mit Hilfe zugespielter vertraulicher Informationen westliche Wahlkämpfe zu beeinflussen, so zuletzt in den USA. Hier scheint sich auch die These zu bewahrheiten, dass Forderungen nach Transparenz einen hervorragenden Nährboden für Verschwörungstheorien abgeben.
Das Ende einer Ära der Transparenz?

David Spriggs: „Transparency Report. Profile Type A“: Quelle: davidspriggs.com
Kommen wir also auf die oben gestellte Frage zurück: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der gegenwärtigen Woge des Populismus und dem vielleicht schon abgeschlossenen Zeitalter der Transparenz? Haben jene Kritiker, die auf die Gefahren der Kultur der Transparenz für die Demokratie gewarnt haben, am Ende Recht behalten? Tatsächlich bewegen sich die Folgen der „Transparenzierung“ des politischen Establishments auf einer Gratwanderung von Aufklärung und Skandalisierung. Letztere verstärkt gerade jenen Eindruck der Undurchsichtigkeit der politischen Verhältnisse, der eine wichtige Grundlage für den populistischen Reflex bildet: Populismus lebt vom Charme radikaler Komplexitätsreduktion, und darauf verweist nicht zuletzt auch Donald Trumps Stoßseufzer über die die Kompliziertheit des Gesundheitswesens.
Die populistische Komplexitätsreduktion funktioniert aber nicht nur auf dem Wege einfacher Antworten für komplizierte Fragen. Wie Philipp Sarasin auf dieser Plattform argumentiert hat, besteht ein Kernelement des Populismus darin, einen Kurzschluss zwischen „dem Volk“ und der populistischen Führergestalt herzustellen. Die komplexen intermediären Institutionen einer Demokratie, auf die Forderungen nach Transparenz für gewöhnlich zielen, sollen gewissermaßen einfach überbrückt werden. Populismus macht also Transparenz opaker demokratischer Institutionen scheinbar überflüssig, denn zumindest dem Anspruch nach soll die Einheit von Volk und Führung unmittelbar hergestellt werden. Der populistische Angriff auf die intermediären Institutionen des demokratischen Systems von Polen über die Türkei bis in die USA läuft deshalb überall nach demselben Muster: Diese werden als Fassaden diskreditiert, hinter denen sich finstere Mächte verbergen und denen man nicht durch mehr Transparenz, sondern nur durch ihre Ausschaltung beikommen kann.
Deswegen laufen auch alle Bemühungen, populistische Politiker mit der Forderung nach Transparenz unter Druck zu setzen, ins Leere: Einerseits sieht jemand wie Donald Trump keinen Grund, seine Steuererklärung zu veröffentlichen, weil, wie er sagt, „das amerikanische Volk“ ihn ja gewählt habe: Für den Populisten rechtfertigt die ihm vom „Volk“ verliehene Macht alles. Und andrerseits nützt es nichts mehr, einen populistischen Führer der Lüge zu überführen, zumindest nicht bei seinen Anhängern. Anders als sich vor einigen Jahren noch annehmen ließ, läuft der Faktencheck per Smartphone nunmehr weitgehend ins Leere oder steigert sogar noch die charismatische Erwartung seiner Anhänger. Ja, noch mehr: Die Forderung nach Transparenz, mit der sich vor allem WikiLeaks vor Jahren einen Namen gemacht hat, wird von Populisten in zynischer Weise missbraucht, um politische Repräsentanten der auf Institutionen gestützten Ordnung wie Clinton oder jetzt gerade Emanuel Macron anzugreifen. Alles deutet darauf hin, dass diese Form von „Transparenz“ schlicht zu einem Instrument russischer Desinformation wurde – und damit „Transparenz“ ein anderes Wort für Lüge.
Die Hoffnung jener, die sich weiterhin im Horizont einer demokratischen Kultur der Transparenz bewegen, kann sich vor allem noch darauf stützen, dass die populistischen Führergestalten früher oder später an der Herausforderung der charismatischen Bewährung scheitern und so zum Opfer der von ihnen selbst geweckten Erwartungen werden. Am Ende wird also wohl die von den Populisten geschaffene Realität neuer politischer Tatsachen und Machtverhältnisse dem „Volk“ die Augen öffnen – kaum aber die transparent gemachten Fakten.