Welcher Zusammenhang besteht zwischen der gegenwärtigen Woge des Populismus und dem vielleicht schon abgeschlossenen Zeitalter der Transparenz? Haben jene Kritiker, die vor den Gefahren der Kultur der Transparenz für die Demokratie gewarnt haben, am Ende Recht behalten?

  • Constantin Goschler

    Constantin Goschler ist Professur für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und zur Zeit Gerda Henkel Visiting Professor am Deutschen Historischen Institut London und der London School of Economics and Political Science. Er arbeitet an einem Projekt zu den Kulturen des Kompromisses in der Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945.

In einem TED-Talk machte sich der aus Bulga­rien stam­mende Poli­tik­wis­sen­schaftler Ivan Krastev vor einiger Zeit Gedanken über die Auswir­kungen von Smart­phones und sozialen Medien wie Twitter auf die demo­kra­ti­sche Kultur. Beein­druckt schil­derte er, wie sich das Smart­phone als Lügen­de­tektor nutzen ließe: „So kann ein Wähler alle erdenk­li­chen Behaup­tungen von Poli­ti­kern in Echt­zeit über­prüfen – von den gewich­tigsten poli­ti­schen Fragen bis hin zu den trivi­alsten persön­li­chen Anek­doten.“ Poli­tiker seien heute also einem stark erhöhten Risiko ausge­setzt, sich zum Narren zu machen: „Der über­große Einfluss von Faktenüberprüfungs-Websites während des letzten US-Präsidentschaftswahlkampfs illus­triert muster­gültig die Macht des Smart­phones, die Wahr­heit zutage zu fördern – oder zumin­dest vorzu­geben der Öffent­lich­keit die fakti­sche Wahr­heit zu präsentieren.“

Walead Besthy: „TRANSPARENCY (NEGATIVE) [KODAK PORTRA 400NC EM. NO. 0291: NOVEMBER 6 – 9, 2009 LAX/DFW DFW/LAX]“; Quelle: sothebys.com

Allein, dieses Loblied auf die sozialen Medien als Wegbe­reiter von poli­ti­scher Trans­pa­renz bezog sich auf die ameri­ka­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen von 2012. Vor dem Hinter­grund der letzten Wahlen in den USA, von aktu­ellen Debatten um Twitter-Politik und Fake news, von Wissen­schaft­lern, die auf die Straße gehen, um für die Gültig­keit von Fakten zu demons­trieren, klingt diese vor fünf Jahren vorge­tra­gene Analyse wie ein Echo aus fernen Zeiten. Haben wir also das scheinbar trium­phie­rende Zeit­alter der Trans­pa­renz wieder verlassen? Und in welcher Weise hängt dies mögli­cher­weise mit dem welt­weiten Siegeszug popu­lis­ti­scher Poli­tiker zusammen?

Ähnlich wie Menschen­rechte gehört der Begriff Trans­pa­renz zu den Konzepten, die eine lange Genea­logie besitzen. In diesem Fall führt sie vor allem in die Zeit der Aufklä­rung zurück. Seither teilen moderne Demo­kra­tie­theo­rien die Idee, dass an die Stelle des Arka­nums des abso­lu­tis­ti­schen Staates die öffent­liche Über­prüf­bar­keit poli­ti­scher Entschei­dungen treten müsse. Die moderne Form des Staats­ge­heim­nisses sieht sich in demo­kra­ti­schen Gesell­schaften somit stän­digen Forde­rungen nach Offen­le­gung ausge­setzt. Neben dem Entste­hungs­ho­ri­zont verbindet die Begriffe Menschen­rechte und Trans­pa­renz aber auch noch etwas anderes: Beide sind zwar über lange Zeit als intel­lek­tu­elle Diskurse nach­weisbar, aber erst mit großer Verzö­ge­rung erlangten sie den Status einer norma­tiven Ressource, mit der poli­ti­sche Forde­rungen wirksam legi­ti­miert werden konnten. Damit einher ging jeweils auch die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung dieser begriff­li­chen Konzepte. Dazu gehörten natio­nale und inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tionen, aber auch zivil­ge­sell­schaft­liche NGOS wie Amnesty Inter­na­tional und ihr später gegrün­deter Namens­vetter Trans­pa­rency International.

Perfek­ti­bi­lität des Bestehenden

Wie kam es dazu, dass der Begriff „Trans­pa­renz“ seit den 1980er Jahren in Diskus­sionen über Gover­nance und Insti­tu­tio­nen­de­sign zumin­dest in west­li­chen Indus­trie­na­tionen quasi-religiöse Bedeu­tung erhielt, wie Chris­to­pher Hood 2006 behaup­tete? Ein mögli­cher Erklä­rungs­an­satz wäre, dass der Aufstieg – und mitt­ler­weile Fall – von Trans­pa­renz und Neoli­be­ra­lismus eng verkettet sind. Der Markt­fun­da­men­ta­lismus als kleinster gemein­samer Nenner des Neoli­be­ra­lismus basiert auf der Vorstel­lung prin­zi­piell trans­pa­renter Märkte und zielt dabei auf die Verän­de­rung des Verhält­nisses von globa­li­sierter Wirt­schaft und natio­nalen Staaten, die beide zum Ansatz­punkt für Trans­pa­renz­for­de­rungen geworden sind. Zugleich beschworen Poli­tiker in der Blüte­zeit des Neoli­be­ra­lismus von den 1980er Jahren bis zur großen Finanz­krise am Ende der Nuller­jahre immer wieder die Alter­na­tiv­lo­sig­keit dieses Konzepts und der damit einher­ge­henden ökono­mi­schen Globa­li­sie­rung. Umge­kehrt zielte die Forde­rung nach Trans­pa­renz weder auf Reform, noch gar auf Revo­lu­tion, sondern eher auf die Perfek­ti­bi­lität des Bestehenden. Inso­fern ergibt sich aber­mals eine mögliche Paral­lele zur Geschichte der Menschen­rechte, deren Erfolg seit den 1970er Jahren Samuel Moyn als eine letzte Utopie der desil­lu­sio­nierten Bürger­rechts­be­we­gungen in den USA erklärte.

Edward Hopper: Office in a Small City, 1953; Quelle: artnews.com

Seit einigen Jahren gilt aber nicht nur der Neoli­be­ra­lismus als abge­schlos­sene Epoche und hält sich vor allem noch als gemein­sames Feind­bild einer losen Gesin­nungs­ge­mein­schaft aus Globa­li­sie­rungs­kri­ti­kern und vagie­renden Linken. Auch der Begriff der Trans­pa­renz ist suspekt geworden. Ähnlich wie Ivan Krastev, der vom „Trans­pa­renz­wahn“ spricht, beschwört etwa der Harvard-Jurist und Gründer der Open-Commons Bewe­gung Lawrence Lessig die Gefahren einer exzes­siven Trans­pa­renz­be­we­gung für die libe­rale Demo­kratie. Beide heben im Kern darauf ab, dass immer mehr Daten und Infor­ma­tionen keines­wegs auto­ma­tisch mehr Verständnis für poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Entschei­dungs­pro­zesse mit sich bringen, sondern im Gegen­teil gerade unter­kom­plexe Erklä­rungen bis hin zu Verschwö­rungs­theo­rien bedingen. Radi­kale Trans­pa­renz schaffe damit, so Krastev, nicht mehr Vertrauen in die Politik, sondern kulti­viere das perma­nente Misstrauen.

Auch der deut­sche Poli­tik­wis­sen­schaftler Claus Leggewie warnt in einer Ausein­an­der­set­zung mit einer Vertre­terin der Pira­ten­partei, die einen kurzen Sommer lang als poli­ti­scher Arm der Trans­pa­renz­be­we­gung ihre Laptops in deut­schen Parla­menten aufschlug, vor den Gefahren des Trans­pa­renz­zwangs. Dieser führe im Kontext der durch soziale Medien produ­zierten Selbst­ver­stär­kung abge­schlos­sener poli­ti­scher Meinungen zum Ende poli­ti­scher Deli­be­ra­tion. Am radi­kalsten kriti­siert schließ­lich der deut­sche Kultur­wis­sen­schaftler Byung-Chul Han in einer an Heid­egger und Frank­furter Schule geschulten kultur­pes­si­mis­ti­schen Perspek­tive das allge­gen­wär­tige „Pathos der Trans­pa­renz“ als Trans­pa­renz­zwang, der das Indi­vi­duum einer von neoli­be­ralen Markt­kräften erzwun­genen perma­nenten Selbst­ent­blö­ßung unter­werfe: am Ende dieser Diagnose steht das Gespenst der totalen Kontrollgesellschaft.

Die Ambi­va­lenzen der Transparenz

Herzog und de Meuron, Fens­ter­durch­blick Elbphil­har­monie, Hamburg, Foto: Michael Zapf; Quelle: arquitecturaviva.com

Was bedeuten diese intel­lek­tu­ellen Diagnosen für die Rolle von Trans­pa­renz als poli­ti­scher Norm in unserer Gegen­wart? Und inwie­weit besitzen sie diagnos­ti­sche Kraft? Zunächst kann man fest­stellen, dass im intel­lek­tu­ellen Diskurs die Trans­pa­renz­kri­tiker derzeit die Über­hand haben. Diese sind weniger Anhänger einer von Martin Jay vor einigen Jahren so charak­te­ri­sierten „anti-okularen“ Denk­strö­mung, die die Wahr­heit eher im Dunkeln als im aufklä­re­ri­schen Licht suchen. Viel­mehr heben die Kritiker vor allem auf die ambi­va­lenten Wirkungen von Trans­pa­renz ab: Als Ergebnis von Trans­pa­renz­be­mü­hungen entstünden nicht einfach größere Sicht­bar­keit poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Entschei­dungs­pro­zesse, sondern immer neue Zonen der Unsichtbarkeit.

Das hier formu­lierte kollek­tive Unbe­hagen verweist auf ein grund­sätz­li­ches Problem: Trans­pa­renz lebt von der Vorstel­lung klarer Fronten: gut und böse, Licht und Schatten, Staat und Gesell­schaft stehen sich dort dicho­to­misch gegen­über. Das scheint aber immer weniger zu funk­tio­nieren, wenn es denn jemals funk­tio­niert haben sollte. Während zum Beispiel in der Bundes­re­pu­blik Bundes­wehr und Geheim­dienste mit großen Anzeigen um den Hacker­nach­wuchs werben – „Wann darf man Hacker hacken? Mach was wirk­lich zählt“ –, hält der Spre­cher des Chaos Computer Clubs Linus Neumann noch an den klas­si­schen Unter­schei­dungen fest, die er jüngst in einem Inter­view formu­lierte: „Das eine sind Geheim­nisse der Bürger. Das andere sind – schmut­zige – Geheim­nisse des Staates. Es macht einen Unter­schied, ob man solche Geheim­nisse an eine bestimmte Partei gibt, so wie das Geheim­dienste tun. Oder ob man gesell­schaft­liche Miss­stände aufdeckt, indem man diese Geheim­nisse an die Allge­mein­heit gibt.“

Solche klaren Unter­schei­dungen scheinen am ehesten noch dort zu über­zeugen, wo es um Systeme inter­na­tio­naler wirt­schaft­liche Steu­er­hin­ter­zie­hung geht. So erhielt jüngst das Inter­na­tional Consor­tium of Inves­ti­ga­tive Jour­na­lists (ICIJ) den Pulitzer-Preis für die Veröf­fent­li­chung der Panama Papers, die der inter­na­tio­nalen Offshore Finanz­in­dus­trie auf den Leib rückten. Schwie­riger wird es schon, wenn es etwa um die Enthül­lungs­platt­form Wiki­leaks geht, deren Tätig­keit in letzter Zeit viel an öffent­li­chem Glanz verloren hat. Wiki­leaks und ihr Chef Julian Assange sind zuletzt unter Verdacht geraten, sich wissent­lich oder unwis­sent­lich vor den Karren russi­scher Geheim­dienste spannen zu lassen und mit Hilfe zuge­spielter vertrau­li­cher Infor­ma­tionen west­liche Wahl­kämpfe zu beein­flussen, so zuletzt in den USA. Hier scheint sich auch die These zu bewahr­heiten, dass Forde­rungen nach Trans­pa­renz einen hervor­ra­genden Nähr­boden für Verschwö­rungs­theo­rien abgeben.

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Das Ende einer Ära der Transparenz?

David Spriggs: „Trans­pa­rency Report. Profile Type A“: Quelle: davidspriggs.com

Kommen wir also auf die oben gestellte Frage zurück: Welcher Zusam­men­hang besteht zwischen der gegen­wär­tigen Woge des Popu­lismus und dem viel­leicht schon abge­schlos­senen Zeit­alter der Trans­pa­renz? Haben jene Kritiker, die auf die Gefahren der Kultur der Trans­pa­renz für die Demo­kratie gewarnt haben, am Ende Recht behalten? Tatsäch­lich bewegen sich die Folgen der „Trans­pa­ren­zie­rung“ des poli­ti­schen Estab­lish­ments auf einer Grat­wan­de­rung von Aufklä­rung und Skan­da­li­sie­rung. Letz­tere verstärkt gerade jenen Eindruck der Undurch­sich­tig­keit der poli­ti­schen Verhält­nisse, der eine wich­tige Grund­lage für den popu­lis­ti­schen Reflex bildet: Popu­lismus lebt vom Charme radi­kaler Komple­xi­täts­re­duk­tion, und darauf verweist nicht zuletzt auch Donald Trumps Stoß­seufzer über die die Kompli­ziert­heit des Gesundheitswesens.

Die popu­lis­ti­sche Komple­xi­täts­re­duk­tion funk­tio­niert aber nicht nur auf dem Wege einfa­cher Antworten für kompli­zierte Fragen. Wie Philipp Sarasin auf dieser Platt­form argu­men­tiert hat, besteht ein Kern­ele­ment des Popu­lismus darin, einen Kurz­schluss zwischen „dem Volk“ und der popu­lis­ti­schen Führer­ge­stalt herzu­stellen. Die komplexen inter­me­diären Insti­tu­tionen einer Demo­kratie, auf die Forde­rungen nach Trans­pa­renz für gewöhn­lich zielen, sollen gewis­ser­maßen einfach über­brückt werden. Popu­lismus macht also Trans­pa­renz opaker demo­kra­ti­scher Insti­tu­tionen scheinbar über­flüssig, denn zumin­dest dem Anspruch nach soll die Einheit von Volk und Führung unmit­telbar herge­stellt werden. Der popu­lis­ti­sche Angriff auf die inter­me­diären Insti­tu­tionen des demo­kra­ti­schen Systems von Polen über die Türkei bis in die USA läuft deshalb überall nach demselben Muster: Diese werden als Fassaden diskre­di­tiert, hinter denen sich fins­tere Mächte verbergen und denen man nicht durch mehr Trans­pa­renz, sondern nur durch ihre Ausschal­tung beikommen kann.

Deswegen laufen auch alle Bemühungen, popu­lis­ti­sche Poli­tiker mit der Forde­rung nach Trans­pa­renz unter Druck zu setzen, ins Leere: Einer­seits sieht jemand wie Donald Trump keinen Grund, seine Steu­er­erklärung zu veröffent­li­chen, weil, wie er sagt, das ameri­ka­ni­sche Volk ihn ja gewählt habe: Für den Popu­listen recht­fer­tigt die ihm vom Volk verlie­hene Macht alles. Und andrer­seits nützt es nichts mehr, einen popu­lis­ti­schen Führer der Lüge zu überführen, zumin­dest nicht bei seinen Anhängern. Anders als sich vor einigen Jahren noch annehmen ließ, läuft der Fakten­check per Smart­phone nunmehr weit­ge­hend ins Leere oder stei­gert sogar noch die charis­ma­ti­sche Erwar­tung seiner Anhänger. Ja, noch mehr: Die Forde­rung nach Trans­pa­renz, mit der sich vor allem Wiki­Leaks vor Jahren einen Namen gemacht hat, wird von Popu­listen in zyni­scher Weise miss­braucht, um poli­ti­sche Repräsentanten der auf Insti­tu­tionen gestützten Ordnung wie Clinton oder jetzt gerade Emanuel Macron anzu­greifen. Alles deutet darauf hin, dass diese Form von Trans­pa­renz schlicht zu einem Instru­ment russi­scher Desin­for­ma­tion wurde und damit Trans­pa­renz ein anderes Wort für Lüge.  

Die Hoff­nung jener, die sich weiterhin im Hori­zont einer demo­kra­ti­schen Kultur der Trans­pa­renz bewegen, kann sich vor allem noch darauf stützen, dass die popu­lis­ti­schen Führer­ge­stalten früher oder später an der Heraus­for­de­rung der charis­ma­ti­schen Bewährung schei­tern und so zum Opfer der von ihnen selbst geweckten Erwar­tungen werden. Am Ende wird also wohl die von den Popu­listen geschaf­fene Realität neuer poli­ti­scher Tatsa­chen und Macht­verhältnisse dem Volk die Augen öffnen kaum aber die trans­pa­rent gemachten Fakten.