In Franz Kafkas Erzählung „Der Bau“ richtet ein Tier ein unterirdisches Gewölbe ein. Es dient ihm mit seinen verzweigten Gängen als Schutzraum, zugleich als Vorratskammer und Falle für Beute. Für das Tier ist der Bau ein hochkomplexes Absicherungssystem gegen äußere Gefahren. Kafka erzählt seine Geschichte als Monolog, der sich ebenso verzweigt wie die Tunnel des Baus. Schnell wird klar, dass das Tier in einer Schleife der Voraussicht gefangen ist. Die Suche nach Schwachstellen wird endlos sein, denn mit jeder Maßnahme gibt sich eine neue Schwäche zu erkennen. Immer tiefer muss es sich in seinem Bau eingraben. Die Vorsorge wird zum Lebensinhalt – und Sargnagel.

Anleitung zum Bunkerselbstbau; Quelle: plaene.info
Kafka brachte 1923 ein typisch modernes Paradoxon auf den Punkt. Es speist sich aus der Sorge des Menschen um sein Dasein. Nur wenige Jahre später definierte Martin Heidegger diese Sorge als „Wesensbestimmung“ des Menschen. Sie durchherrsche seinen „zeitlichen Wandel in der Welt“. Eine Möglichkeit, Sorgen erträglich zu machen, ist die Vorsorge. Sie beugt Gefahren vor, mildert sie oder wendet sie im Idealfall ganz ab. Es gibt jedoch einen Haken: Vorsorge produziert selbst Bedrohungen. Dahinter steckt ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch. Bei der Einnahme von Medikamenten haben wir uns daran gewöhnt, dass sie Krankheiten heilen, aber gleichzeitig auch neue Beschwerden hervorrufen können. Beipackzettel listen detailliert die Nebenwirkungen auf. Die Wahrscheinlichkeiten sind zumeist jedoch gering, was es erträglicher und weniger paradox macht. Was aber, wenn die unerwünschten Nebenfolgen der Regelfall sind, sie sogar das Ausmaß der Gefahr übersteigen, gegen die sie eigentlich gerichtet waren?
Epidemiologen kennen noch ein zweites Vorsorgeparadox. Je wirksamer Maßnahmen sind, die ein Infektionsgeschehen unterbrechen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau diese Maßnahmen unnötig wirken. Das zeigt sich bei erfolgreichen Impfprogrammen. Krankheiten verschwinden aus der Erfahrungswelt, weshalb immer mehr Menschen impfmüde werden. Auch in der Coronakrise lässt sich dieser Effekt beobachten. Viele halten den Lockdown für unverhältnismäßig, weil das Virus doch gar nicht so gefährlich sei, obwohl gerade diese Maßnahme die Bedrohung eindämmt. Mit anderen Worten: Der eigene Erfolg gefährdet Vorsorge.
Zur Geschichte des Vorsorgestaats
Das Verhältnis der Moderne zur Zeit ist dennoch von Voraussicht geprägt, von Vorgriffen auf die Zukunft, die es in der Gegenwart zu planen gilt. Die Coronakrise führt der ganzen Welt vor Augen, welche Bedeutung es hat, das Kommende im Hier und Jetzt zu gestalten. Der größte Zankapfel, so scheint es, ist aber nicht die Bedrohung durch SARS-CoV-2, sondern die Vorsorgefolge. Gemeint sind damit zwei Dinge: erstens die abstrakte Vorsorgeschleife, wie Kafka sie beschreibt, in der Versäumnisse von gestern stets neue, bessere Eingriffe im Heute notwendig machen; zweitens ganz konkrete, sofort spürbare Auswirkungen, die konzertierte Vorsorgemaßnahmen zeitigen. In Coronazeiten ging es insbesondere um wirtschaftlichen Schaden durch einen rigiden Lockdown, um die Einschränkung von Freiheitsrechten sowie physische und psychische Folgen des social distancing. Schnell kamen Verschwörungstheorien auf, die das Vorsorgeparadox missverstanden und den Regierungsverantwortlichen unterstellten, unter dem Deckmantel der Vorsorge Grundrechte einzuschränken und Menschen zu überwachen.
Ein Blick in die Vorgeschichte dieser Gegenwart zeigt, dass solche Reflexe nicht neu sind. Aber er erhellt noch mehr: Die Vorsorgefolge ist Teil einer historisch gewachsenen Vorsorgelogik, deren Tücken sich nicht nur im Umgang mit Pandemien, sondern auch mit anderen Gefahren zeigen.
Vorsorge erscheint uns oft als Retterin, doch bleibt sie stets paradox. Sie verlangt, abzuwägen zwischen Schäden, die eintreten, wenn vorbeugende Maßnahmen nicht oder nur gebremst erfolgen, und Schäden, die sie erzeugt. Vorsorge hantiert mit mehreren Zukunftsebenen: zunächst mit einer unerwünschten Gefahrenzukunft, die eintritt, sofern man sich gegen vorbeugende Maßnahmen entscheidet, und einer gewünschten Vorsorgezukunft, die sich erfüllt, wenn man rechtzeitig interveniert. Hinzu kommt eine dritte Ebene, die der Vorsorgefolgenzukunft. Auf dem Zeitstrahl liegt sie noch weiter vorn und ist daher nur schwer zu berechnen. Denn es gilt abzuschätzen, welche Nebenfolgen aus Maßnahmen hervorgehen, von denen man gar nicht weiß, wie sie mit der Bedrohung reagieren, gegen die man vorsorgen möchte.
Die Zusicherung, dieses Vorsorgegeflecht zu entwirren, war ein zentrales Motiv bei der Gründung moderner Staaten. Sie versprachen ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Schutz vor äußeren Feinden und Verbrechen, sondern auch vor Krankheiten, Naturgefahren und Unfällen, schließlich auch vor Verarmung und sogar vor sozialer Isolation. Der Einzelne delegierte seinen Schutz an den Staat, während dieser Vorkehrungen traf, die Gefahren fernhielten.
Der Interventionsstaat war ein Vorsorgestaat.

Prepper-Bunker, USA; Quelle: netflix.com
Analog dazu entwickelten sich im zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Bereich parallele Vorsorgekulturen. Erinnert sei an Deichverbände, die sich bereits seit Jahrhunderten dem Hochwasserschutz widmen. Hinzu kam die Versicherungsbranche, die im 19. Jahrhundert Vorsorge kapitalisierte und im Schadensfall finanzielle Kompensation anbot. Einigen ging dies nicht weit genug. In den USA formierte sich Mitte des 20. Jahrhunderts die „Prepper“-Szene, die heute auch in Europa immer mehr Anhänger findet. Sie bereitet sich auf apokalyptische Zeiten vor und kapselt sich vom Vorsorgemainstream ab.
Die meisten Menschen jedoch verlernten es, selbst vorzusorgen, gerade weil sie einen Großteil ihrer Vorsorgeverantwortung abgaben. Das Gefahrenpotential von Vorsorge verdunkelte sich, wie überhaupt ihre Logik und Widersprüchlichkeit. Zugleich wuchsen die Ansprüche an Staat und Privatwirtschaft, Bedrohungen zu verbannen – das zeigte sich immer dann besonders deutlich, wenn es zu Katastrophen kam. Behörden und Unternehmen leiteten daher wissenschaftliche Forschung an, hielten Reserven vor, entwickelten einen umfassenden Versicherungsschutz und trafen technische Vorkehrungen. Vorsorge wurde komplexer, voraussetzungsreicher, anspruchsvoller – und invasiver.
Die Natur ist dafür ein treffendes Beispiel. Ein mitteleuropäischer Zeitreisender des 18. Jahrhunderts würde bereits einhundert Jahre später seine Landschaft nicht mehr wiedererkennen. Meliorationen und Flussbegradigungen, die Überschwemmungsgefahren bannen sollten, gaben ihr ein völlig neues Äußeres. Doch bereits diese Maßnahmen, die Hydrotechnikern lange Zeit als Wunderwaffe gegen Hochwasser galten, polarisierten. Die einen verwiesen auf Vorsorgefolgen, etwa auf erhöhte Fließgeschwindigkeiten von Flüssen. Immer wieder kam es zu Sabotage und Blockaden. Anderen wiederum konnte es gar nicht schnell genug gehen, bis die mäandernden Flüsse endlich in schnurgerade Kanäle verwandelt waren.
Die langfristigen Resultate schienen zunächst den Befürwortern Recht zu geben. Die Hochwasserhäufigkeit sank rapide. Allerdings weckte die umgestaltete Landschaft Begehrlichkeiten. Der Mensch siedelte enger am Fluss, Unternehmen ließen sich nieder und konzentrierten hohe Werte an den Ufern. So reichte häufig schon eine Überschwemmung, um als Vorsorgefolge einen größeren Schaden anzurichten als dutzende Hochwasser aus Zeiten vor den Begradigungen.
Vorsorgelust vs. Vorsorgefrust
Der Geschichte von Vorsorge scheint das Scheitern eingeschrieben zu sein. Kafka würde sagen, sie kann gar keine Erfolgsgeschichte sein. Die Dualität von Vorsorgelust und Vorsorgefrust motivierte daher einen Strategiewandel. Resilienz lautete die neue magische Formel, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr Behörden, Schutzdienste und Think Tanks in ihren Bann zog. Man gestand sich ein, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt bestimmte Gefahren nicht völlig aus der Welt schaffen, aber doch abmildern und Gesellschaften widerstandsfähiger machen kann. Aus der Krise, so die Hoffnung, solle keine gerettete, sondern eine optimierte Gegenwart hervorgehen.
Damit versuchte man, die Spielregeln des Kafka-Kreislaufs zu ändern und Vorsorge in einen neuen Zirkel einzuspannen, in dem sie sich neben anderen Maßnahmen wie Vorbereitung, Schutz und Erholung gleichberechtigt wiederfand. Vorsorge wurde reflexiv, weil ihre Nebenfolgen immer häufiger das Gefahrenmanagement prägten und in Risikokalkulationen eingepreist wurden. In den siebziger Jahren fragten US-amerikanische Forscher in einer Simulationsstudie nach den Auswirkungen einer Erdbebenvoraussage. Ihre Befunde waren so zynisch wie fatal. Unzählige gerettete Menschenleben standen in ihrer Abschlussrechnung dem ökonomischen Kollaps einer gesamten Region gegenüber. Der wirtschaftliche Schaden einer Vorhersage erschien größer als der des Erdbebens. Forschungen wie diese machten Vorsorgefolgen sichtbar und zwangen Regierungen dazu, in ihrer Risikopolitik abzuwägen zwischen den Gefahren, gegen die man vorsorgte, und denen, die sich erst aus der Vorsorge ergaben.
Am Vorsorgepranger: Pandemiezeiten

Corona-Party „Der letzte Tanz“ in Klagenfurt, Mitte März 2020; Quelle: krone.at
Je engmaschiger das Vorsorgenetz wurde, desto häufiger kam es zur Verweigerung – eine typische Vorsorgefolge, ob es um Anschnallpflicht im Auto oder um Impfgegner geht. Sobald sich ein rigides Vorsorgeregime aufspannt, suchen Menschen Schlupflöcher, da Vorsorge mit Einschränkungen und Aufwand verbunden ist. Das zeigt sich nicht erst auf heimlichen Coronapartys. Als die Bundesrepublik Deutschland 1960 Afrikanern, Südamerikanern und Asiaten vorschrieb, bei ihrer Einreise einen Pockenimpfschein vorzulegen, wichen viele auf einen Schweizer Flughafen aus und fuhren mit dem Auto Richtung Deutschland weiter, weil sie an den Grenzen keinen Immunitätsausweis vorlegen mussten.
Solche Formen der Vorsorgevermeidung konnten wiederum Stigmatisierungsreflexe unter den Vorsorgebeflissenen auslösen, die xenophobe und rassistische Stereotypen aktualisierten. Das öffentliche Anprangern der „fliegenden Pockenträger“, wie der Spiegel Reisende aus besagten Regionen taufte, ist ein treffendes Beispiel dafür. Aber auch chinafeindliche Reaktionen zu Beginn der Coronakrise und shit storms mit ausländerfeindlichen Parolen gegen Anwohner eines Göttinger Hochhauses, die gegen Quarantänemaßnahmen verstoßen hatten, zeugen von diesem Zusammenhang. Dass Rechtspopulisten unter dem Deckmantel der Behauptung, sich für Bürgerrechte einzusetzen, Straßenproteste von Vorsorgegegnern kapern oder gegen Muslime hetzen, die sich angeblich nicht an Lockdownregeln halten, spricht ebenfalls für diese Tendenzen. Diffamierungen und Exklusionen zählen zu den sozialen Vorsorgefolgen – das zeigen pauschale Zuschreibungen gegenüber AIDS-Kranken in den achtziger Jahren genauso wie bestimmte Ressentiments in Coronazeiten.
Bereits im 19. Jahrhundert hatte sich die Seuchenprävention zu einer Leistungsschau moderner Vorsorgestaaten entwickelt. Wechselseitig stellten sie sich Zeugnisse aus, wessen Hygienekonzepte Epidemien am besten vorbeugten. Im 20. Jahrhundert verschärfte dieser Vorsorgewettlauf die Blockbildung und nährt bis heute den Nationalismus. In der Coronakrise wurde dies sinnfällig nicht nur in Grenzschließungen und überwiegend nationalen Investitionen in Gesundheitssysteme, sondern auch in täglich aktualisierten Covid-19-Statistiken. Wie ein umgedrehter Medaillenspiegel bei Olympiaden weisen sie Infektions- und Todeszahlen im Ländervergleich aus und zeigen, wem es wie gut gelingt, die Bedrohung in den Griff zu bekommen.
Nationale Bewältigungsstrategien widersprechen jedoch der Logik viraler Infektionen und Mutationen. Die Virussphäre ist transnational und lässt sich nur durch Grenzen innerhalb eines jeden Körpers einhegen. Und um diese zu befestigen, braucht es vor allem im Seuchenfall Gesundheitssysteme, die auf internationale Kooperation, nicht auf nationale Überlegenheit abzielen und Atemgeräte horten, Lieferungen von Schutzmasken abfangen oder Lizenzrechte an Impfstoffen zu sichern versuchen.
Vorsorgekonkurrenz
In historischer Perspektive zeigt sich, dass die Coronakrise kein Unikum ist, das uns erstmals die Paradoxien der Vorsorge vor Augen führt. Vielmehr wird deutlich, dass wir es mit einem systematischen Problem zu tun haben, einem erzwungenen Abwägen zwischen potentiellen Gefahren. Vorsorge kann und muss Menschenleben retten. Sie sollte selbst Risiken eingehen, zumal das zukünftige Krisenmanagement von Vorsorgeevaluation profitiert.
Damit ist jedoch eine weitere Vorsorgefolge auf den Plan gerufen, vielleicht die verhängnisvollste: die Vorsorgekonkurrenz. Große Vorsorgeanstrengungen wie in der Coronakrise ziehen Aufmerksamkeit und Ressourcen aus anderen vorsorgebedürftigen Bereichen ab, von Gefahren, die sich in einem anderen Tempo entwickeln. Klima- und nukleare Risiken, die zu den größten Herausforderungen des Anthropozäns zählen, finden sich schnell auf den niederen Rängen gesellschaftlicher Relevanz wieder – ähnlich geht es Initiativen, die sich mit Migration oder demografischem Wandel auseinandersetzen. Sie müssen mit ansehen, wie Regierungen plötzlich Mittel bereitstellen, die sie selbst nie für sich gewinnen konnten. Oder anders gewendet: In Greta-Zeiten war es bedeutend leichter, Projekte zum Klimaschutz auf den Weg zu bringen als in Corona-Zeiten. Diese Mechanismen sind allerdings nicht nur der Coronakrise vorbehalten. Vielmehr sind sie Teil moderner Vorsorgelogik, die umgekehrt auch für andere Großrisiken gilt.
Indem Vorsorge die Zukunft in der Gegenwart zu schützen versucht, kann sie die Welt von morgen retten und zugleich schwächen. Vorsorge ist ein mächtiges Instrument, mit dem moderne Staaten vieles bewegen können. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie wichtig zivilgesellschaftliche Kritik an staatlichen Programmen und deren Folgen ist. Sie sensibilisiert für die Paradoxien des Vorgriffs auf die Zukunft. Die Vorsorgelogik sollte sie aber durchschauen. Denn das Abwägungsdilemma, in dem sich Entscheidungsträger befinden, ist groß und verlangt Kalkulationen mit mehreren Unbekannten. Viele machen es sich zu leicht und gehen komplexitätsreduzierenden Verschwörungstheorien auf den Leim – was übrigens auch eine nicht zu unterschätzende Vorsorgefolge ist.