„Klimaretter oder Nervenkiller – Was kann die Deutsche Bahn?“ lautete kürzlich der Titel einer therapeutischen Fernsehsendung zur Primetime, in der sich Gäste beim Chef der Deutschen Bahn beschweren durften. Die Bahn, vor wenigen Jahren noch ein Auslaufmodell, erfreut sich einer medialen Renaissance, als klimaneutrales „Verkehrsmittel der Zukunft“ und als Zielscheibe immergleicher Kritik. Verspätungen, Zugausfälle, falsche Wagenreihenfolge, nicht angezeigte Reservierungen, schlechter Service, unpraktische Apps, man kennt das übliche Lamento. Die Kritik wird gern in der Form der Anekdote präsentiert, deren Pointe, ein beliebiges Versagen der Bahn, zum tröstenden Hohngelächter einlädt, in dem die Leidensgemeinschaft der Reisenden zu sich selbst findet. Im Windschatten der allgemeinen Bahnkritik hat, vor allem auf Twitter, gelegentlich im Feuilleton, ein traditionsreiches Genre des Eisenbahndiskurses an Boden gewonnen: die Passagierkritik.
Passagierkritik
Auch die Passagierkritik erfolgt meist anekdotisch, muss aber nicht querulantisch sein. Komische Gespräche, Szenen der Solidarität oder Liebesgeschichten gehören ebenso zu ihrem Repertoire wie Beschwerden über breitbeinige Sitznachbarn, pöbelnde Jungsgruppen oder egomane Businesspeople. „Ich möchte keine Storys von ICE-Fahrten mehr hören, sorry“, twitterte die Journalistin Judith Liere vor ein paar Wochen genervt. Die Eisenbahnreise ist (wieder) ein privilegiertes Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, die Passagierkritik dementsprechend eine Form der Alltagssoziologie, die die Reisegesellschaft in Gruppen oder Typen einteilt. Allerdings neigt auch die Passagierkritik zum Missmut, denn Gesellschaft stellt sich oft als Ärgernis heraus. Ein beliebter Topos ist beispielsweise die Schweigsamkeit der Reisenden, die nicht mehr miteinander sprechen wollen oder können, allenfalls Zuhörer für ihr Genörgel brauchen und ansonsten mit ihren Smartphones beschäftigt sind; eine Beobachtung, die zu grundsätzlicher Kultur- und Technikkritik verführt.
Es ist eine der schönsten Aufgaben der Kulturgeschichte, gegen Kulturkritik zu immunisieren, indem sie zeigt, dass dieses oder jenes Gruselphänomen der Gegenwart nichts schrecklich Neues ist, sondern so oder ähnlich schon früher beklagt wurde. Das Schweigen der Passagiere, lernt man in Wolfgang Schivelbuschs Geschichte der Eisenbahnreise, begleitet die Eisenbahn seit ihrer Einführung. Das Vis-à-vis-Verhältnis, das die von der Kutsche übernommene U-Form des Abteils mit sich bringt, wurde plötzlich als unangenehm und peinlich empfunden, weshalb man sich hinter Zeitungen verschanzte, um die Kommunikation zu vermeiden. Die heutigen Smartphonenutzer_innen haben ihren Vorläufer also in der Figur des ehrwürdigen Zeitungslesers, ein, wie ich finde, beruhigender Gedanke.
Karriere eines Standardwerks

Erstausgabe 1977
Doch die Geschichte der Eisenbahnreise ist sonst keine beruhigende Lektüre. Sie erzählt die Geschichte einer kollektiven Verstörung, eines historischen Bruchs, der die Menschen aus der Natur ins Reich der Maschinen getrieben hat. Dem „industrialisierten Bewusstsein“ hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts die „Technik als zweite Natur“ eingeschrieben, ein schmerzhafter Prozess, dem der Mensch mehr ausgeliefert war, als dass er ihn steuern konnte. Vor diesem unheimlichen Hintergrund mag es vielleicht überraschen, dass die Geschichte der Eisenbahnreise für viele, mich eingeschlossen, eine Art Lieblingssachbuch ist. Seit 1977 wurde sie fünfmal neu aufgelegt und ist weiterhin Schivelbuschs bekannteste Arbeit, vergleichbar in ihrem Erfolg mit den Männerphantasien von Klaus Theweleit (ebenfalls 1977), mit denen sie den Stilwillen ihres Autors und die antiakademische Aura teilt.
Keine deutsche Institution habe sein Projekt fördern wollen, schreibt Schivelbusch etwas schnippisch in der Vorbemerkung, der Klappentext weist ihn als „Außenseiter und Querdenker der Historikerzunft“ aus. Dazu muss man wissen, dass die Geschichte der Eisenbahnreise ursprünglich als soziologische Habilitation angelegt war. Doch die Gutachter konstatierten mangelnde theoretische und methodische Stringenz; die Arbeit lasse nichts anderes erwarten als eine „vom Material getragene assoziative Interpretation ‚interessanter‘ Phänomene.“ Seitdem hat die Geschichte der Eisenbahnreise eine merkwürdige Karriere zurückgelegt: Bei ihrem Erscheinen vom Wissenschaftsbetrieb weitgehend ignoriert, gilt sie heute als „wegweisendes Standardwerk“. Eine kritische Diskussion von Schivelbuschs Thesen ist unterdessen weitgehend unterblieben.
Das liegt sicherlich auch am Buch selbst. Zum einen nimmt sich Schivelbusch die Freiheit, aus dem üblichen Referenzrahmen wissenschaftlichen Arbeitens auszubrechen. Die Auseinandersetzung findet vor allem mit Klassikern der Kulturwissenschaften statt, Marx, Elias, Mumford, Sombart oder Freud, und kaum mit den zeitgenössischen Fachkolleg_innen. Das hat einen Zeitlosigkeitseffekt, der enorm zur heutigen Lesbarkeit beiträgt, konnte aber damals als bewusste Missachtung akademischer Spielregeln und insofern als Beleidigung verstanden werden. Zum anderen geht der Erklärungsanspruch der Geschichte der Eisenbahnreise weit über das hinaus, was sich historische Arbeiten normalerweise vornehmen. In zwölf Kapiteln geht es um nichts weniger als die Transformation des Menschen in der Industrialisierung – so lautet der Untertitel denn auch „Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“. In der Eisenbahn werden die revolutionären Umwälzungen der Moderne erfahrbar, für die Zeitgenossen im Gefühl der Angst, für Historiker in der kritischen Artikulation der Verluste.
Zivilisatorische Rindenbildung
Mit der Dampfmaschine und dem „maschinellen Ensemble“ der Eisenbahn emanzipiert sich die moderne Produktionsweise „von den Schranken der organischen Natur“. Die Eisenbahn „macht Schluss“ (das ist Schivelbuschs Lieblingsformulierung) mit der Bindung menschlicher Fortbewegung an die erschöpfliche Kraft der Pferde und somit mit der bisherigen Ordnung von Raum und Zeit; mit dem „Hier und Jetzt“, der Individualität der Orte und der Dinge; mit der Integration des Reisenden in den Reiseraum und somit mit der Reise selbst; mit der „ästhetischen Freiheit“ des Subjekts, und schließlich mit der „räumlichen und historischen Kontinuität“ der alten Städte. Das ist eine ansehnliche Zerstörungsbilanz, die man der Eisenbahn, mittlerweile selbst Objekt nostalgischer Betrachtungen, vor der Lektüre nicht zugetraut hätte.
Schivelbusch bleibt hier freilich nicht stehen und entwickelt im Anschluss an Freud und Elias eine Theorie „zivilisatorischer Rindenbildung“. Das überforderte Subjekt wird nicht einfach mit der Zeit indifferent gegenüber den Zumutungen seiner Erfindungen, sondern „assimiliert“ sich der Technik und entwickelt neue Formen der Wahrnehmung und des Verhaltens. Am fassbarsten wird das im Begriff des „panoramatischen Blicks“. Goethe, Parade-Reisender der Vormoderne, nimmt auf einer Kutschfahrt eine Vielzahl von Eindrücken wahr, die Beschaffenheit der Böden, Gerüche, die Temperatur, einen „Klettrer, der mit Strick und Eisen an den Schuhen auf die starken und hohen Buchen stieg.“ Er ist Teil des Raums, den er durchquert und mit dem er „unmittelbar“ interagiert.

Erste deutsche Eisenbahnfahrt von Nürberg nach Fürth, 1835; Quelle: tagessspiegel.de
Dem (ungeübten) Eisenbahnreisenden geht alles viel zu schnell. Er fühlt sich als „menschliches Paket“, das durch den Raum geschossen wird. Auf Grund der enormen Geschwindigkeit der Eisenbahn (1835 ca. 30 km/h) ist er nicht in der Lage, die vorbeiziehenden Dinge einzeln wahrzunehmen. „Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei“, schreibt Jacob Burckhardt 1840. Langeweile, Stumpfsinn, Müdigkeit sind die Folge. Doch die Entfernung des Reisenden aus dem „Vordergrund“ erlaubt es ihm, ebenjenen Raum nun als flüchtiges „Tableau“ zu begreifen – die Geschwindigkeit synthetisiert die Einzeleindrücke zum „Panorama“.
Diese Denkbewegungen machen den Reiz der Geschichte der Eisenbahnreise aus. Auch wenn die Vormoderne verschwinden mag, die Lücken, die ihr Untergang hinterlässt, werden immerzu von neuen Dingen, Phänomenen, Erfahrungen ausgefüllt. Homogenisierung und Standardisierung bedeuten nicht nur „Vernichtung von Raum und Zeit“, sondern führen zu neuen Differenzierungen. Der elegante Sound des Marxismus trägt dazu bei, dass die Darstellung angenehm sachlich, nüchtern, cool wirkt. Das Werk Schivelbuschs sei ein „Manifest gegen den wohlfeilen Zivilisationspessimismus und die intellektuelle Geringschätzung der Technik“, heißt es in der Laudatio, die Henning Ritter 2003 anlässlich der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises hielt, gegen den „Kulturpessimismus der akademischen Welt“ und „Foucaults schwarze Legende der Moderne“ gerichtet. Ungefähr so hatte ich die Argumentation des Buchs auch in Erinnerung, bevor ich es für diesen Text wiedergelesen habe.
Kulturkritik von links
Bei der zweiten Lektüre fällt die scharfe Dichotomisierung von Tradition und Moderne ins Auge. Die Konstruktion (zu) grober Oppositionspaare könnte man beinahe jeder Modernisierungsgeschichte vorwerfen; wahrscheinlich braucht es solche Gegensätze, um den Bruch, den die Industrialisierung zweifellos bedeutet, verständlich zu machen. Die chronische Unschärfe der Schilderung vormoderner Verhältnisse bringt aber eine Verklärung mit sich, die die vorgebliche „Natürlichkeit“ des Lebens vor dem Maschinenzeitalter idealisiert. Wie hat man sich das eigentlich vorzustellen, die „unmittelbare Interaktion“ mit den nicht-warenförmigen Dingen? Und ist der panoramatische Blick als aufregende neue Kulturtechnik oder eher als „Entwirklichung“ und Verkümmerung zu verstehen? Täuscht der Eindruck, dass die Geschichte der Eisenbahnreise letztendlich doch von einer kulturpessimistischen Perspektive geprägt ist, freilich eines Kulturpessimismus von links, der die kapitalistische Moderne als Vertreibung aus dem Paradies der Authentizität begreift?
Das schmälert die Faszination für das Buch keineswegs, jedoch seinen Wert als Heilmittel gegen Kulturkritik. Das Schweigen der Passagiere ist eine Kinderkrankheit der Eisenbahn, die offenbar nicht zu kurieren ist. Auch bei der Interpretation der peinlichen Stille arbeitet Schivelbusch mit dem schroffen Gegensatz: War die Postkutsche noch von lebhaftem Geplauder erfüllt, beendet die Eisenbahn die Reiseunterhaltung, da sich die Reisenden nicht mehr als Reisegemeinschaft begreifen. Ob es in der Kutsche wirklich so lustig zuging, sei einmal dahingestellt. Relevanter ist das unterschiedliche Klassenverhalten.

Eisenbahnfahren in der Darstellung der Gartenlaube, 1887; Quelle: wikipedia.org
Während sich die Passagiere der I. und II. Klasse hinter ihren Zeitungen verbergen (wie hier in der Darstellung der Gartenlaube von 1887), bleibt die Kommunikation in der III. und IV. Klasse – in denen die große Mehrzahl der Fahrgäste, 1913 in Deutschland über 90 Prozent, unterwegs war – „ungebrochen“. Schivelbusch beschreibt das, erklärt es aber nicht. Die Perspektive von Arbeiter_innen spielt für die Darstellung keine Rolle. Sein Mensch ist ein Bürger – eine Denkfigur, die selbst Kernbestand bürgerlicher Ideologie ist.
Dabei ist es nicht so, dass die Geschichte der Eisenbahnreise die soziale Dimension ihres Gegenstands komplett außen vor lässt. Schivelbusch beschreibt, wie die saint-simonistische Utopie von der Eisenbahn als Schrittmacherin sozialer Gleichheit von der Einführung des Klassensystems konterkariert wurde, das wiederum die historische Klassengesellschaft reflektierte. Der implizite Anspruch der Passagierkritik, Aussagen über die Gesellschaft zu treffen, gründet, so könnte man folgern, auf diesem Spiegelverhältnis. Sie verlässt sich unbewusst darauf, dass die Eisenbahngesellschaft einigermaßen repräsentativ ist.

DB-Werbung 2019; Quelle: twitter.com
„Welche Gesellschaft soll das abbilden?“, empörte sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, weil auf einem Werbefoto der Bahn People of Color zu sehen waren. Wenn es hier um Diversität, in der Twitter-Passagierkritik vor allem um Sozialtypen geht, ist von „Klassen“ im sozialen Sinn nie die Rede. Seit 1956 gibt es ja auch nur noch zwei. Ist das Spiegelverhältnis intakt? Oder hat die Eisenbahn auch damit „Schluss gemacht“?