Die Eisenbahn veränderte die Wahrnehmung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert radikal. Mit dem „industrialisierten“ Reisen verschwand die naturgebundene Vormoderne. Schivelbusch zeigte die Eisenbahn als Ort gesellschaftlicher Selbstbetrachtung und schrieb ein Manifest gegen die intellektuelle Geringschätzung der Technik.

  • Niklas Weber

    Niklas Weber hat Geschichte studiert und promoviert in Berlin zu einer Geschichte der Eisenbahnreise im 20. Jahrhundert.

„Klima­retter oder Nerven­killer – Was kann die Deut­sche Bahn?“ lautete kürz­lich der Titel einer thera­peu­ti­schen Fern­seh­sen­dung zur Prime­time, in der sich Gäste beim Chef der Deut­schen Bahn beschweren durften. Die Bahn, vor wenigen Jahren noch ein Auslauf­mo­dell, erfreut sich einer medialen Renais­sance, als klima­neu­trales „Verkehrs­mittel der Zukunft“ und als Ziel­scheibe immer­glei­cher Kritik. Verspä­tungen, Zugaus­fälle, falsche Wagen­rei­hen­folge, nicht ange­zeigte Reser­vie­rungen, schlechter Service, unprak­ti­sche Apps, man kennt das übliche Lamento. Die Kritik wird gern in der Form der Anek­dote präsen­tiert, deren Pointe, ein belie­biges Versagen der Bahn, zum trös­tenden Hohn­ge­lächter einlädt, in dem die Leidens­ge­mein­schaft der Reisenden zu sich selbst findet. Im Wind­schatten der allge­meinen Bahn­kritik hat, vor allem auf Twitter, gele­gent­lich im Feuil­leton, ein tradi­ti­ons­rei­ches Genre des Eisen­bahn­dis­kurses an Boden gewonnen: die Passagierkritik.

Passa­gier­kritik

Auch die Passa­gier­kritik erfolgt meist anek­do­tisch, muss aber nicht queru­lan­tisch sein. Komi­sche Gespräche, Szenen der Soli­da­rität oder Liebes­ge­schichten gehören ebenso zu ihrem Reper­toire wie Beschwerden über breit­bei­nige Sitz­nach­barn, pöbelnde Jung­sgruppen oder egomane Busi­ness­people. „Ich möchte keine Storys von ICE-Fahrten mehr hören, sorry“, twit­terte die Jour­na­listin Judith Liere vor ein paar Wochen genervt. Die Eisen­bahn­reise ist (wieder) ein privi­le­giertes Medium gesell­schaft­li­cher Selbst­be­ob­ach­tung, die Passa­gier­kritik dementspre­chend eine Form der Alltags­so­zio­logie, die die Reise­ge­sell­schaft in Gruppen oder Typen einteilt. Aller­dings neigt auch die Passa­gier­kritik zum Missmut, denn Gesell­schaft stellt sich oft als Ärgernis heraus. Ein beliebter Topos ist beispiels­weise die Schweig­sam­keit der Reisenden, die nicht mehr mitein­ander spre­chen wollen oder können, allen­falls Zuhörer für ihr Genörgel brau­chen und ansonsten mit ihren Smart­phones beschäf­tigt sind; eine Beob­ach­tung, die zu grund­sätz­li­cher Kultur- und Tech­nik­kritik verführt.

Es ist eine der schönsten Aufgaben der Kultur­ge­schichte, gegen Kultur­kritik zu immu­ni­sieren, indem sie zeigt, dass dieses oder jenes Grusel­phä­nomen der Gegen­wart nichts schreck­lich Neues ist, sondern so oder ähnlich schon früher beklagt wurde. Das Schweigen der Passa­giere, lernt man in Wolf­gang Schi­vel­buschs Geschichte der Eisen­bahn­reise, begleitet die Eisen­bahn seit ihrer Einfüh­rung. Das Vis-à-vis-Verhältnis, das die von der Kutsche über­nom­mene U-Form des Abteils mit sich bringt, wurde plötz­lich als unan­ge­nehm und pein­lich empfunden, weshalb man sich hinter Zeitungen verschanzte, um die Kommu­ni­ka­tion zu vermeiden. Die heutigen Smartphonenutzer_innen haben ihren Vorläufer also in der Figur des ehrwür­digen Zeitungs­le­sers, ein, wie ich finde, beru­hi­gender Gedanke.

Karriere eines Standardwerks

Erst­aus­gabe 1977

Doch die Geschichte der Eisen­bahn­reise ist sonst keine beru­hi­gende Lektüre. Sie erzählt die Geschichte einer kollek­tiven Verstö­rung, eines histo­ri­schen Bruchs, der die Menschen aus der Natur ins Reich der Maschinen getrieben hat. Dem „indus­tria­li­sierten Bewusst­sein“ hat sich am Ende des 19. Jahr­hun­derts die „Technik als zweite Natur“ einge­schrieben, ein schmerz­hafter Prozess, dem der Mensch mehr ausge­lie­fert war, als dass er ihn steuern konnte. Vor diesem unheim­li­chen Hinter­grund mag es viel­leicht über­ra­schen, dass die Geschichte der Eisen­bahn­reise für viele, mich einge­schlossen, eine Art Lieb­lings­sach­buch ist. Seit 1977 wurde sie fünfmal neu aufge­legt und ist weiterhin Schi­vel­buschs bekann­teste Arbeit, vergleichbar in ihrem Erfolg mit den Männer­phan­ta­sien von Klaus Thewe­leit (eben­falls 1977), mit denen sie den Stil­willen ihres Autors und die antiaka­de­mi­sche Aura teilt.

Keine deut­sche Insti­tu­tion habe sein Projekt fördern wollen, schreibt Schi­vel­busch etwas schnip­pisch in der Vorbe­mer­kung, der Klap­pen­text weist ihn als „Außen­seiter und Quer­denker der Histo­ri­ker­zunft“ aus. Dazu muss man wissen, dass die Geschichte der Eisen­bahn­reise ursprüng­lich als sozio­lo­gi­sche Habi­li­ta­tion ange­legt war. Doch die Gutachter konsta­tierten mangelnde theo­re­ti­sche und metho­di­sche Strin­genz; die Arbeit lasse nichts anderes erwarten als eine „vom Mate­rial getra­gene asso­zia­tive Inter­pre­ta­tion ‚inter­es­santer‘ Phäno­mene.“ Seitdem hat die Geschichte der Eisen­bahn­reise eine merk­wür­dige Karriere zurück­ge­legt: Bei ihrem Erscheinen vom Wissen­schafts­be­trieb weit­ge­hend igno­riert, gilt sie heute als „wegwei­sendes Stan­dard­werk“. Eine kriti­sche Diskus­sion von Schi­vel­buschs Thesen ist unter­dessen weit­ge­hend unterblieben.

Das liegt sicher­lich auch am Buch selbst. Zum einen nimmt sich Schi­vel­busch die Frei­heit, aus dem übli­chen Refe­renz­rahmen wissen­schaft­li­chen Arbei­tens auszu­bre­chen. Die Ausein­an­der­set­zung findet vor allem mit Klas­si­kern der Kultur­wis­sen­schaften statt, Marx, Elias, Mumford, Sombart oder Freud, und kaum mit den zeit­ge­nös­si­schen Fachkolleg_innen. Das hat einen Zeit­lo­sig­keits­ef­fekt, der enorm zur heutigen Lesbar­keit beiträgt, konnte aber damals als bewusste Miss­ach­tung akade­mi­scher Spiel­re­geln und inso­fern als Belei­di­gung verstanden werden. Zum anderen geht der Erklä­rungs­an­spruch der Geschichte der Eisen­bahn­reise weit über das hinaus, was sich histo­ri­sche Arbeiten norma­ler­weise vornehmen. In zwölf Kapi­teln geht es um nichts weniger als die Trans­for­ma­tion des Menschen in der Indus­tria­li­sie­rung – so lautet der Unter­titel denn auch „Zur Indus­tria­li­sie­rung von Raum und Zeit im 19. Jahr­hun­dert“. In der Eisen­bahn werden die revo­lu­tio­nären Umwäl­zungen der Moderne erfahrbar, für die Zeit­ge­nossen im Gefühl der Angst, für Histo­riker in der kriti­schen Arti­ku­la­tion der Verluste.

Zivi­li­sa­to­ri­sche Rindenbildung

Mit der Dampf­ma­schine und dem „maschi­nellen Ensemble“ der Eisen­bahn eman­zi­piert sich die moderne Produk­ti­ons­weise „von den Schranken der orga­ni­schen Natur“. Die Eisen­bahn „macht Schluss“ (das ist Schi­vel­buschs Lieb­lings­for­mu­lie­rung) mit der Bindung mensch­li­cher Fort­be­we­gung an die erschöpf­liche Kraft der Pferde und somit mit der bishe­rigen Ordnung von Raum und Zeit; mit dem „Hier und Jetzt“, der Indi­vi­dua­lität der Orte und der Dinge; mit der Inte­gra­tion des Reisenden in den Reise­raum und somit mit der Reise selbst; mit der „ästhe­ti­schen Frei­heit“ des Subjekts, und schließ­lich mit der „räum­li­chen und histo­ri­schen Konti­nuität“ der alten Städte. Das ist eine ansehn­liche Zerstö­rungs­bi­lanz, die man der Eisen­bahn, mitt­ler­weile selbst Objekt nost­al­gi­scher Betrach­tungen, vor der Lektüre nicht zuge­traut hätte.

Schi­vel­busch bleibt hier frei­lich nicht stehen und entwi­ckelt im Anschluss an Freud und Elias eine Theorie „zivi­li­sa­to­ri­scher Rinden­bil­dung“. Das über­for­derte Subjekt wird nicht einfach mit der Zeit indif­fe­rent gegen­über den Zumu­tungen seiner Erfin­dungen, sondern „assi­mi­liert“ sich der Technik und entwi­ckelt neue Formen der Wahr­neh­mung und des Verhal­tens. Am fass­barsten wird das im Begriff des „panora­ma­ti­schen Blicks“. Goethe, Parade-Reisender der Vormo­derne, nimmt auf einer Kutsch­fahrt eine Viel­zahl von Eindrü­cken wahr, die Beschaf­fen­heit der Böden, Gerüche, die Tempe­ratur, einen „Klettrer, der mit Strick und Eisen an den Schuhen auf die starken und hohen Buchen stieg.“ Er ist Teil des Raums, den er durch­quert und mit dem er „unmit­telbar“ interagiert.

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Erste deut­sche Eisen­bahn­fahrt von Nürberg nach Fürth, 1835; Quelle: tagessspiegel.de

Dem (unge­übten) Eisen­bahn­rei­senden geht alles viel zu schnell. Er fühlt sich als „mensch­li­ches Paket“, das durch den Raum geschossen wird. Auf Grund der enormen Geschwin­dig­keit der Eisen­bahn (1835 ca. 30 km/h) ist er nicht in der Lage, die vorbei­zie­henden Dinge einzeln wahr­zu­nehmen. „Die nächsten Gegen­stände, Bäume, Hütten und derglei­chen kann man gar nicht recht unter­scheiden; so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei“, schreibt Jacob Burck­hardt 1840. Lange­weile, Stumpf­sinn, Müdig­keit sind die Folge. Doch die Entfer­nung des Reisenden aus dem „Vorder­grund“ erlaubt es ihm, eben­jenen Raum nun als flüch­tiges „Tableau“ zu begreifen – die Geschwin­dig­keit synthe­ti­siert die Einzel­ein­drücke zum „Panorama“.

Diese Denk­be­we­gungen machen den Reiz der Geschichte der Eisen­bahn­reise aus. Auch wenn die Vormo­derne verschwinden mag, die Lücken, die ihr Unter­gang hinter­lässt, werden immerzu von neuen Dingen, Phäno­menen, Erfah­rungen ausge­füllt. Homo­ge­ni­sie­rung und Stan­dar­di­sie­rung bedeuten nicht nur „Vernich­tung von Raum und Zeit“, sondern führen zu neuen Diffe­ren­zie­rungen. Der elegante Sound des Marxismus trägt dazu bei, dass die Darstel­lung ange­nehm sach­lich, nüch­tern, cool wirkt. Das Werk Schi­vel­buschs sei ein „Mani­fest gegen den wohl­feilen Zivi­li­sa­ti­ons­pes­si­mismus und die intel­lek­tu­elle Gering­schät­zung der Technik“, heißt es in der Laudatio, die Henning Ritter 2003 anläss­lich der Verlei­hung des Heinrich-Mann-Preises hielt, gegen den „Kultur­pes­si­mismus der akade­mi­schen Welt“ und „Foucaults schwarze Legende der Moderne“ gerichtet. Unge­fähr so hatte ich die Argu­men­ta­tion des Buchs auch in Erin­ne­rung, bevor ich es für diesen Text wieder­ge­lesen habe.

Kultur­kritik von links

Bei der zweiten Lektüre fällt die scharfe Dicho­to­mi­sie­rung von Tradi­tion und Moderne ins Auge. Die Konstruk­tion (zu) grober Oppo­si­ti­ons­paare könnte man beinahe jeder Moder­ni­sie­rungs­ge­schichte vorwerfen; wahr­schein­lich braucht es solche Gegen­sätze, um den Bruch, den die Indus­tria­li­sie­rung zwei­fellos bedeutet, verständ­lich zu machen. Die chro­ni­sche Unschärfe der Schil­de­rung vormo­derner Verhält­nisse bringt aber eine Verklä­rung mit sich, die die vorgeb­liche „Natür­lich­keit“ des Lebens vor dem Maschi­nen­zeit­alter idea­li­siert. Wie hat man sich das eigent­lich vorzu­stellen, die „unmit­tel­bare Inter­ak­tion“ mit den nicht-warenförmigen Dingen? Und ist der panora­ma­ti­sche Blick als aufre­gende neue Kultur­technik oder eher als „Entwirk­li­chung“ und Verküm­me­rung zu verstehen? Täuscht der Eindruck, dass die Geschichte der Eisen­bahn­reise letzt­end­lich doch von einer kultur­pes­si­mis­ti­schen Perspek­tive geprägt ist, frei­lich eines Kultur­pes­si­mismus von links, der die kapi­ta­lis­ti­sche Moderne als Vertrei­bung aus dem Para­dies der Authen­ti­zität begreift?

Das schmä­lert die Faszi­na­tion für das Buch keines­wegs, jedoch seinen Wert als Heil­mittel gegen Kultur­kritik. Das Schweigen der Passa­giere ist eine Kinder­krank­heit der Eisen­bahn, die offenbar nicht zu kurieren ist. Auch bei der Inter­pre­ta­tion der pein­li­chen Stille arbeitet Schi­vel­busch mit dem schroffen Gegen­satz: War die Post­kut­sche noch von lebhaftem Geplauder erfüllt, beendet die Eisen­bahn die Reise­un­ter­hal­tung, da sich die Reisenden nicht mehr als Reise­ge­mein­schaft begreifen. Ob es in der Kutsche wirk­lich so lustig zuging, sei einmal dahin­ge­stellt. Rele­vanter ist das unter­schied­liche Klassenverhalten.

Eisen­bahn­fahren in der Darstel­lung der Garten­laube, 1887; Quelle: wikipedia.org

Während sich die Passa­giere der I. und II. Klasse hinter ihren Zeitungen verbergen (wie hier in der Darstel­lung der Garten­laube von 1887), bleibt die Kommu­ni­ka­tion in der III. und IV. Klasse – in denen die große Mehr­zahl der Fahr­gäste, 1913 in Deutsch­land über 90 Prozent, unter­wegs war –  „unge­bro­chen“. Schi­vel­busch beschreibt das, erklärt es aber nicht. Die Perspek­tive von Arbeiter_innen spielt für die Darstel­lung keine Rolle. Sein Mensch ist ein Bürger – eine Denk­figur, die selbst Kern­be­stand bürger­li­cher Ideo­logie ist.

Dabei ist es nicht so, dass die Geschichte der Eisen­bahn­reise die soziale Dimen­sion ihres Gegen­stands komplett außen vor lässt. Schi­vel­busch beschreibt, wie die saint-simonistische Utopie von der Eisen­bahn als Schritt­ma­cherin sozialer Gleich­heit von der Einfüh­rung des Klas­sen­sys­tems konter­ka­riert wurde, das wiederum die histo­ri­sche Klas­sen­ge­sell­schaft reflek­tierte. Der impli­zite Anspruch der Passa­gier­kritik, Aussagen über die Gesell­schaft zu treffen, gründet, so könnte man folgern, auf diesem Spie­gel­ver­hältnis. Sie verlässt sich unbe­wusst darauf, dass die Eisen­bahn­ge­sell­schaft eini­ger­maßen reprä­sen­tativ ist.

DB-Werbung 2019; Quelle: twitter.com

„Welche Gesell­schaft soll das abbilden?“, empörte sich der Tübinger Ober­bür­ger­meister Boris Palmer, weil auf einem Werbe­foto der Bahn People of Color zu sehen waren. Wenn es hier um Diver­sität, in der Twitter-Passagierkritik vor allem um Sozi­al­typen geht, ist von „Klassen“ im sozialen Sinn nie die Rede. Seit 1956 gibt es ja auch nur noch zwei. Ist das Spie­gel­ver­hältnis intakt? Oder hat die Eisen­bahn auch damit „Schluss gemacht“?