Ein neues Wort geht um: postmigrantisch. In den letzten Jahren hat es ausgehend von Deutschland Verbreitung gefunden und ist längst auch in der Schweiz angekommen. Man kann das Aufkommen dieses Worts als ein Symptom gesellschaftspolitischer Verschiebungen deuten, fügt es sich doch offensichtlich in die Risse und Brüche ein, die sich im etablierten Migrations- und Integrationsdiskurs längst mehr als deutlich abzeichnen – oder aber als Ausdruck eines zunehmenden Bedürfnisses, die „Gegenwart zu verstehen“ und zwar, so schreibt Janina Kehr in ihrem Beitrag in diesem Forum, „jenseits binärer Kategorien des Eigenen und Fremden, wie es in Debatten um Migration und Integration immer wieder geschieht“. Sie sieht den Mehrwert einer postmigrantischen Perspektive in dieser Hinsicht eher skeptisch.

„Türken in Deutschland“, Candida Höfer 1976 (Talk Back K.E.)
In ihren theoretischen Überlegungen zum Nutzen und Nachteil des „Präfix post“ übersieht Janina Kehr jedoch das Wichtigste: Das Postmigrantische ist kein Kind der Akademie. Es wurde weder auf Konferenzen noch in einer Publikation geboren. Es ist auch nicht die neueste Erfindung einer heiss gelaufenen kulturwissenschaftlichen Theorieproduktion, in dem Trendbegriffe bekanntlich immer kürzere Halbwertszeiten aufweisen. Das Postmigrantische stammt aus einer Welt, die keinen Bruno Latour kennt und für die der Migrations- und Integrationsdiskurs nichts ist, was man nur aus den Nachrichten und aus Büchern erfährt, sondern eine permanente Zumutung im Alltag. Es hat sich da herausgebildet, wo diese Lebenswirklichkeit dazu ansetzte, trotz aller Hürden aus dem Schatten des dominanzkulturellen Diskurses heraus- und in dessen privilegierte Institutionen einzutreten, also in die Redaktionen, Kunstbetriebe und Universitäten.
Ein neues Wort für eine (nicht ganz so) neue Realität
Das Wort selbst wurde von Shermin Langhoff eingeführt, die zusammen mit Kolleg*innen in Berlin Ende der 2000er Jahre das „postmigrantische Theater“ aufbaute. Ziel war es, den neuen sozialen Realitäten, die sich in Folge der unterschiedlichen Einwanderungsbewegungen in Deutschland herausgebildet haben, einen eigenen künstlerischen Ausdruck jenseits der dominanten Narrative gelingender oder scheiternder Integration zu geben. Im Zentrum stehen Lebensgeschichten, die einerseits von eigenen bzw. familiären Einwanderungserfahrungen und Mehrfachzugehörigkeiten geprägt sind, und die andererseits im Schatten eines dominanzkulturellen Migrations- und Integrationsdiskurses stehen, der diese Erfahrungen nicht als gesellschaftliche Normalität anerkennt, sondern als fremd stigmatisiert. Dieses ambivalente Verhältnis zur Migration als gelebte Erfahrung einerseits und diskursive Zumutung andererseits bildet das Herzstück des Postmigrantischen.
Doch die Erfindungsgeschichte eines Wortes allein erklärt nicht dessen Verbreitung über die deutsche Theaterszene hinaus bis in die Schweiz. Die Kraft des Postmigrantischen lässt sich somit, und das übersieht man aus einer rein theoriebezogenen Sprechposition, nur angemessen aus den geteilten Erfahrungen verstehen, die hier zusammenfliessen, sich in einer bestimmten historischen Situation artikulieren und zugleich über diese hinausstreben. Das Postmigrantische ist in Selbstermächtigungsprozessen der „Ausländerkinder“, wie sie lange genannt wurden, bzw. der sogenannten „zweiten Generation“ seit den 1980er und 1990er Jahren verwurzelt. Es ist diese genealogische Verbindung zu einer durchaus transnationalen Sozialgeschichte individueller und kollektiver Kämpfe um Anerkennung der eigenen Existenz, um Respekt, um Teilhabe, aus dem das Postmigrantische heute seine Legitimität, Triftigkeit und Evidenz zieht – und die eben nicht erfasst wird, wenn man versucht, das Ganze in einer akademischen Erörterung der Vor- und Nachteile der Vorsilbe „post“ abzuwickeln.

Bahnhof München 2015, Quelle: Medienbubble (Talk Back K.E.)
Um das Postmigrantische zu verstehen, reicht es nicht, danach zu fragen, was das Wort bedeutet, man muss vielmehr empirisch nachvollziehen, was es tut. So bildete sich etwa in Deutschland rund um die Bezeichnung im Anschluss an das postmigrantische Theater eine Arbeitsgruppe von Sozialforscher*innen vornehmlich mit Migrationshintergrund bzw. Rassismuserfahrung, die nach den Sarrazin-Debatten auf der Suche nach neuen Ansätzen für eine kritische Gegenwartsanalyse waren. Dabei standen die zunehmenden Stigmatisierungstendenzen im Migrations- und Integrationsdiskurs im Mittelpunkt, die vor allem auch im antimuslimischen Rassismus Ausdruck fanden. In dem Sinne ist das Konzept der „postmigrantischen Gesellschaft“, das in dieser Arbeitsgruppe, die mittlerweile Teil des deutschen Rats für Migration ist, diskutiert wurde, beileibe keine naiv-utopistische Neuauflage eines ‚bunten‘ Multikulturalismus oder einer ‚farbenblinden‘ postracial society. Das Konzept des Postmigrantischen zielt auf eine aktualisierte Analyse des Rassismus in einer Gesellschaft ab, die sich wie Riem Spielhaus feststellt, „obsessiv“ um Migrations- und Integrationsthemen dreht und die von Ambivalenzen, Ungleichzeitigkeiten, Widersprüchlichkeiten und zunehmend auch antagonalen Konflikten um Zugehörigkeit geprägt ist, wie mit Naika Foroutan ein weiteres Mitglied der Arbeitsgruppe betont.
Es geht also weniger darum, wie Janina Kehr vor dem Hintergrund eines akademischen Debattenhorizonts kritisiert, mit dem „post“ von aussen eine „lineare Teleologie“ in die komplexe Zeitlichkeit von Migrationsbewegungen in Ländern wie Deutschland und auch der Schweiz einzuziehen. Der Einsatz ist ein ganz anderer: Während der heute vorherrschende Migrations- und Integrationsdiskurs auf die Regulation und Eindämmung zukünftiger Migration fixiert ist, wird die komplexe gesellschaftliche Migrationsvergangenheit wenn dann nur im selektiven und zugleich technokratisch zugerichteten Rückblick durch die ‚Integrations-Brille‘ wahrgenommen. Der Vielfalt sozialer Tatsachen, die in Ländern wie Deutschland und der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Migration hervorgegangen sind, wird kaum ernsthaft Aufmerksamkeit und noch weniger wirkliche Anerkennung zuteil. In dem Sinne zeichnet sich die postmigrantische Perspektive durch eine bewusst plakative Umkehr der Blickrichtung aus: von einer angstbesetzten Zukunft hin zu einer Geschichte der Gegenwart. So betonen Juliane Karakayali und Vassilis Tsianos mit „der Chiffre postmigrantische Gesellschaft“ dezidiert die „politischen, kulturellen und sozialen Transformationen von Gesellschaften mit einer Geschichte der postkolonialen und der Gastarbeiter-Migration“.
Eine Gesellschaft mit Migrationsvordergrund
Auch die heutige Schweiz ist Ergebnis derartiger Transformationsprozesse. Im Nachkriegsboom nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges holte man Hundertausende „Fremdarbeiter“ ins Land, um das wirtschaftliche Wachstum am Laufen zu halten. Das vorherrschende Rotationsmodell sah vor, dass „die Fremden“ das Land nach getaner Arbeit wieder verlassen und eben nicht heimisch werden sollten. Wie so häufig hielt sich die Realität nicht an die Planvorgaben der Wirtschaft und Politik. Viele blieben auch nach der Konjunkturkrise Mitte der 1970er Jahre im Land und liessen sich mit ihren Familien nieder. Während die europäische Fremdarbeit zahlenmässig massiv abnahm, gewann dann in den frühen 1980er Jahren die aussereuropäische Asyl-, Flucht- bzw. postkoloniale Migration zunehmend an Bedeutung. Die Schweiz ist also wie Deutschland eine Gesellschaft nach der Migration, wie man es mit Erol Yildiz nennen könnte. Bevölkerungsstrukturen und Lebenswirklichkeiten haben sich aufgrund von Migration längst tiefgreifend verändert.

„Schweizer Rekruten“, Quelle: Medienbubble (Talk Back K.E.)
Auf den ersten Blick bietet sich der Anteil an Menschen mit „Migrationshintergrund“ als einfacher Gradmesser für den demografischen und soziokulturellen Wandel an. Doch der steile Aufstieg dieser bevölkerungsstatistischen Kategorie seit der Jahrtausendwende ist eher ein gutes Beispiel für die Ambivalenzen des Ein- und Ausschlusses, die Naika Foroutan in ihrem Verständnis postmigrantischer Gesellschaften in den Vordergrund rückt. Einerseits ermöglichte es die neue Kategorie des Migrationshintergrunds, demografische Entwicklungen statistisch zu erfassen und zu thematisieren, andererseits wurde hier eine neue Fremdheitskategorie eingeführt, die nunmehr auch die eingebürgerten „Fremden“ erfasst. Zudem wird Migrationsbezug nur einem Teil der Bevölkerung zugeschrieben, obwohl die Gesellschaft längst als Ganze durch „Erfahrung der Migration strukturiert ist“, wie Vassilis Tsianos und Juliane Karakayali schreiben – über Freundeskreise, Partnerschaften, Bildungseinrichtungen, Konsumgewohnheiten, Kulturproduktion, mediale Diskurse, politische Prozesse etc.
Aus einer postmigrantischen Perspektive müsste man, davon wegkommen, das Migrantische an Personen und Bevölkerungsgruppen festzumachen. Stattdessen ginge es darum, eine Gesellschaft zu analysieren, die zwar – bildlich gesprochen – insgesamt längst ‚Migrationsvordergrund‘ hat, ohne dass sich dies jedoch angemessen in den gesellschaftlichen Selbstbildern und Teilhabestrukturen widerspiegelt. Die Dominanzkultur imaginiert sich und legitimiert sich eben weiterhin in einer selektiven Problematisierung der migrantischen Anderen – der „anwesenden Fremden“. Wobei diejenigen, die darunter verstanden werden, nicht identisch sind mit denen, die statistisch unter die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ fallen. Das Migrantische wird im Alltagsrassismus weiterhin an Körpermerkmalen, Aussehen, Hautfarbe, Name, Kleidung etc. festgemacht, während offiziell auch weiss-privilegierte Einwanderer aus europäischen Nachbarländern unter die Kategorie Migrationshintergrund fallen. Entsprechend wäre wenig gewonnen, statt ‚Migrant‘ oder ‚MimiMi‘ (des Mitbürger*innen mit Migrationshintergrund) einfach neu ‚Postmigrant‘ zu sagen. Sein kritisches Potenzial entfaltet das Postmigrantische, wenn es auf Gesellschaftsanalyse abzielt.
Mit dem postmigrantischen Perspektivenwechsel hin zur Geschichte der Gegenwart ist selbstverständlich nicht gemeint, dass die Ära der Migration beendet ist, im Gegenteil: nach der Migration ist immer auch vor der Migration. Die Bedeutung dieser Feststellung liegt in Anbetracht gegenwärtiger Fluchtbewegungen auf der Hand. Und doch lässt sich der heutige Umgang mit Migration und Integration eben nur vor dem Hintergrund historischer Pfadabhängigkeiten angemessen reflektieren. Wenn man etwa verstehen will, wie heute mit Geflüchteten umgegangen wird, muss man sich klarmachen, dass es historische Erfahrungen mit Fluchtmigration vor allem seit den 1980er Jahren gibt, die heutige Wahrnehmungsraster, Reaktionsmuster und Handlungsspielräume mitprägen. Den Blick für diese verstellte Geschichte der Gegenwart zu öffnen, wäre das analytische Angebot und zugleich der politische Einsatz einer postmigrantischen Gesellschaftskritik. Dabei kommt eben auch die Entstehungsgeschichte des heute so unumgänglich wirkenden Migrations- und Integrationsdiskurses selbst in den Blick.
Der Geist des Postmigrantischen

„Secondos in der Nati“, Quelle: keystone/watson.ch (Talk Back K.E.)
Folgt man der These von Riem Spielhaus, so entstand der Migrations- und Integrationsdiskurs in Deutschland als eine Art verspätete dominanzkulturelle Reaktion auf die Tatsache der Einwanderung. Das Argument liesse sich durchaus auch auf die Schweiz übertragen. Erst als man hier ab den 1960er Jahren in Politik und Öffentlichkeit realisierte, dass viele der Arbeitskräfte, die man gerufen hatte, nicht vorhatten, wieder zu gehen, begann man, sich für deren Leben zu interessieren (vgl. Beitrag zur Studienkommission). Allerdings war hier weniger der Wunsch nach einem anerkennenden Kennenlernen der neuen Mitmenschen ausschlaggebend als vielmehr das Bestreben, diese neuen Lebenswirklichkeiten wieder unter Kontrolle zu bringen und regierbar zu machen. Die heute so deutlich zu Tage tretende Ambivalenz des Migrations- und Integrationsdiskurses zwischen Anerkennung und Disziplinierung, zwischen Angebot und Zumutung ist demnach bereits in seinem historischen Entstehungsprozess angelegt.
Insbesondere die Eingliederung der „Ausländerkinder“ entwickelte sich zum Standardmodell und Lackmustest der Assimilations- und Integrationslogik. Die Narrative und Ikonografien der sogenannten „zweiten Generation“ etablierten sich als realitätsschaffende Bezugspunkte von Fremd- und Selbstzuschreibungen, etwa auch in widerständigen Projekten wie der ‚Secondo‘-Bewegung in der Schweiz der 1990er und 2000er Jahre. Es ist genau dieser von Linien der Inklusion und Exklusion durchzogene und entsprechend umkämpfte Raum der „zweiten Generation“ mit seinem ambivalenten Bezug auf Kategorien der Migration und Integration, in dem sich seit den 1980er Jahren ein postmigrantisches Bewusstsein formiert hat. Tsianos und Karakayali sprechen hier durchaus generationenübergreifend von „postnationalen Wahrnehmungs- und Handlungsräumen von Biografien, deren Selbstverhältnisse sich nicht unbedingt auf eigene Migrationserfahrungen beziehen, jedoch zwischen Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierung reflektiert und gelebt werden“. Die Mehrdeutigkeit und Sperrigkeit des Wortes postmigrantisch, die nicht nur Janina Kehr in ihrem Beitrag kritisiert, ist so gesehen kein begriffliches Defizit, sondern Ausdruck eines lebensweltlichen Bezugs und einer historischen Genese in umkämpften Zwischenräumen. Die Familienähnlichkeit mit dem Postkolonialen ist hier nicht von ungefähr. Das Postmigrantische ist auch kein elegantes Theorem zuhanden akademischer Debatten. Wie die gegenwärtige Nachfrage nach dem Begriff in unterschiedlichsten Kontexten und Projekten in der Schweiz zeigt, leistet das Postmigrantische wichtige Arbeit, es hilft zu verstehen, es fordert heraus, es empowert, es vernetzt, es organisiert, es schafft neue Debattenräume. Diese Soziologie des Wortgebrauchs sollte der Bewertungsmassstab sein, und nicht die akademische Begriffsanalyse. Die saubere Trennung von Wissen und Politik, Theorie und Praxis, Analyse und Intervention, Kritik und Widerstand ist ein Privileg, das das Postmigrantische nicht hat. Es ist ein Bastard. Das ist seine Stärke.