Am 7. Mai wählten die Chilen:innen die Personen, die einen neuen Verfassungstext erarbeiten. Dieser zweite Verfassungsprozess wird anders verlaufen als der gescheiterte erste: Er wird stärker reglementiert und von den Parteien kontrolliert. Zudem dominieren rechtsradikale und konservative Kräfte den Verfassungsrat.

  • Claudia Zilla

    Claudia Zilla ist Senior Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin. Sie forscht zu Fragen von Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik, Außenpolitik und deutsch- bzw. EU-lateinamerikanischen Beziehungen sowie zu feministischer Außen- und Entwicklungspolitik.

Chile befindet sich heute inmitten seines zweiten Verfas­sungs­pro­zesses. Der erste begann mit der „Über­ein­kunft für den Sozialen Frieden und die Neue Verfas­sung“ vom November 2019. Darin einigten sich die Partei­spitzen auf die Einlei­tung eines Verfas­sungs­pro­zesses als insti­tu­tio­nellen Ausweg aus einer poli­ti­schen Krise, deren sicht­barster Ausdruck der „soziale Ausbruch“ (estallido social) war. Im Oktober 2019 mobi­li­sierten sich mehr als eine Million Menschen. Die meisten verhielten sich fried­lich, aber es kam auch zu gewalt­tä­tigen Ausschrei­tungen und Repres­sion durch die Polizei. Auslöser der Proteste war die Preis­er­hö­hung des U-Bahn-Tickets um 30 Pesos in der Haupt­stadt Sant­iago. Dieser Preis­auf­schlag war der letzte Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte. Der Slogan „Es sind nicht die 30 Pesos, es sind die 30 Jahre!“ brachte die Unzu­frie­den­heit mit einer als unge­recht empfun­denen poli­ti­schen und sozio­öko­no­mi­schen Ordnung auf den Punkt. 

Seit dem Über­gang zur Demo­kratie 1989/90 nach rund sech­zehn Jahren Mili­tär­dik­tatur unter Augusto Pino­chet haben die Reformen der wech­selnden Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Koalitionen zwar zu einer deut­li­chen Redu­zie­rung von Armut und sozialer Ungleich­heit geführt. Doch das neoli­be­rale Wirt­schafts­mo­dell, in dem der Markt die zentrale Instanz für die Allo­ka­tion von Ressourcen auch in wich­tigen Berei­chen wie Gesund­heit und Bildung war, blieb erhalten, so dass private Insti­tu­tionen und Geld den Zugang zu öffent­li­chen Dienst­leis­tungen weit­ge­hend bestimmen. Wach­sende gesell­schaft­liche Ansprüche stießen an die Grenzen der Reform­fä­hig­keit des poli­ti­schen Systems und der Reform­be­reit­schaft der tradi­tio­nellen Parteien. Eine konsens­ori­en­tierte poli­ti­sche Elite mit engen bis direkten Verbin­dungen zur Wirt­schaft schot­tete sich zuneh­mend ab. Die geschätzte chile­ni­sche Stabi­lität wurde zur Starre. Erste Brüche zeigten sich jedoch bereits u.a. in der Mobi­li­sie­rung von Schüler:innen (2006) und Studie­renden (2011), die gegen einen subsi­diären Staat protes­tierten, der nicht für gerechte Bildungs­chancen sorgte.

Möglich wurde der Kompro­miss der Partei­füh­rungen von 2019 durch einen Posi­ti­ons­wechsel der Mitte-Rechts-Parteien. Diese hatten sich tradi­tio­nell gegen die Verab­schie­dung einer neuen Verfas­sung ausge­spro­chen. Die geltende Verfas­sung Chiles stammt noch aus der Zeit der Mili­tär­dik­tatur und wird oft als Erbe Pino­chets ange­sehen, obwohl sie nach dem Regime­wechsel durch zahl­reiche Reformen des Parla­ments weit­ge­hend von ihren auto­ri­tären Zügen befreit wurde. Ihr fehlt aber die demo­kra­ti­sche Ursprungs­le­gi­ti­ma­tion (legi­ti­midad de origen), da sie von einer von der dama­ligen Regie­rung beauf­tragten Kommis­sion ausge­ar­beitet und am 11. September 1980 in einem Plebiszit unter den unfairen Bedin­gungen einer Auto­kratie rati­fi­ziert wurde. In dieser „Pinochet-Verfassung“ sahen viele das neoli­be­rale Verhältnis von Wäch­ter­staat und Markt­wirt­schaft veran­kert sowie die konsti­tu­tio­nellen Bremsen für eine demo­kra­ti­sche Vertie­fung. Zwar war die gesell­schaft­liche Forde­rung nach einem völlig neuen Text, der die „Pinochet-Verfassung“ ersetzen sollte, immer wieder laut geworden. Nachdem der Unter­nehmer und konser­va­tive Präsi­dent Sebas­tián Piñera mit seinen punk­tu­ellen sozio­öko­no­mi­schen Zuge­ständ­nissen die Proteste nicht eindämmen konnte, war ein Verfas­sungs­pro­zess das Angebot der Parteien, die viel­fäl­tigen Forde­rungen nach mehr Inklu­sion zu bündeln und von der Straße in die Insti­tu­tionen zu tragen.

Der erste Versuch

Mit der Über­ein­kunft und einer Reform der geltenden Verfas­sung durch den Kongress wurde im Jahr 2019 der proze­du­rale und inhalt­liche Rahmen für den Verfas­sungs­pro­zess abge­steckt. In einem Eingangs­re­fe­rendum konnte die Wähler­schaft über die Ausar­bei­tung einer neuen Verfas­sung sowie über das hierfür zustän­dige Verfas­sungs­organ entscheiden. Dieses hatte maximal zwölf Monate Zeit, einen völlig neuen Verfas­sungs­text zu erar­beiten – auf einem ‚weißen Blatt‘, d.h. ohne Vorent­würfe. Der Text der neuen Verfas­sung, der einem Ausgangs­re­fe­rendum (mit Wahl­pflicht) unter­zogen wurde, musste ledig­lich vier Grund­prin­zi­pien respek­tieren: den repu­bli­ka­ni­schen Charakter des chile­ni­schen Staates, sein demo­kra­ti­sches Regime, die rechts­kräf­tigen und voll­streck­baren Gerichts­ur­teile sowie die von Chile rati­fi­zierten und in Kraft befind­li­chen inter­na­tio­nalen Verträge. Das Verfas­sungs­organ musste seine Geschäfts­ord­nung und die Verfas­sungs­ar­tikel mit Zwei­drit­tel­mehr­heit seiner Mitglieder im Plenum beschließen. Verschie­dene Betei­li­gungs­me­cha­nismen ermög­lichten den Bürger:innen eine breite Einbin­dung in den Verfassungsprozess.

Der Zeit­plan konnte einge­halten werden, wenn auch mit einer gewissen Verzö­ge­rung aufgrund der COVID 19-Pandemie. Beim ersten Refe­rendum im Oktober 2020 spra­chen sich rund 78 Prozent der Wähler:innen für eine neue Verfas­sung und deren Ausar­bei­tung durch einen voll­ständig neu gewählten Verfas­sungs­kon­vent aus. Bei den Wahlen zu dieser außer­or­dent­li­chen Insti­tu­tion im Mai 2021 entschied sich eine große Mehr­heit gegen die tradi­tio­nellen poli­ti­schen Parteien, die sie für die anhal­tende soziale Unge­rech­tig­keit und die ‚Kartel­li­sie­rung‘ der Politik verant­wort­lich machten. Unab­hän­gige Einzel­per­sonen oder Aktivist:innen zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tionen zogen mehr­heit­lich über unab­hän­gige oder Partei­listen in den Verfas­sungs­kon­vent ein, der wie keine andere Insti­tu­tion in der poli­ti­schen Geschichte Chiles die Diver­sität der Gesell­schaft wider­spie­gelte. Er war pari­tä­tisch besetzt und 17 der 155 Mandate waren für zehn indi­gene Gemein­schaften reser­viert. Beim Ausgangs­re­fe­rendum im Dezember 2022 lehnten jedoch rund 62 Prozent der Wähler:innen den vom Verfas­sungs­kon­vent im Juli verab­schie­deten neuen Text ab, so dass die „Pinochet-Verfassung“ bis heute in Kraft ist.

Die Ableh­nung des neuen Verfassungstextes

Eine Reihe von Faktoren erklärt dieses Ergebnis. Während die Teil­nahme am Eingangs­re­fe­rendum und an der Wahl zum Verfas­sungs­kon­vent frei­willig war, galt für das Ausgangs­re­fe­rendum Wahl­pflicht, da die neue Verfas­sung eine breite demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­tion erhalten sollte. Dieses unter­schied­liche Wahl­recht führte auch zu einer unter­schied­li­chen Wahl­be­tei­li­gung (ca. 51, 43 bzw. 86 Prozent) und Wähler­schaft. Dieje­nigen, die dem Verfas­sungs­pro­zess gleich­gültig oder ableh­nend gegen­über­standen und mögli­cher­weise deshalb den ersten beiden Urnen­gängen fern­blieben, wurden erst am Ende des Prozesses zur Stimm­ab­gabe bewegt. Hoch­rech­nungen machen es plau­sibel, dass der neue Verfas­sungs­text ohne Wahl­pflicht ange­nommen worden wäre. 

Es gab aber nicht wenige Bürger:innen, die sich zwar für eine neue Verfas­sung ausspra­chen, den vorge­legten Verfas­sungs­text aus unter­schied­li­chen inhalt­li­chen Gründen ablehnten. Vage Formu­lie­rungen ließen viele Fragen offen und schürten Ängste. Einigen gingen die Rechte der indi­genen Gemein­schaften – als Nationen in einem inter­kul­tu­rellen Staat mit Rechts­plu­ra­lismus aner­kannt – zu weit. Anderen war der Text zu liberal in Bezug auf Abtrei­bung, wieder anderen zu protek­tio­nis­tisch im Verhältnis von Umwelt­schutz und wirt­schaft­li­cher Entwick­lung. Auch die (unaus­ge­wo­gene) Ausge­stal­tung des insti­tu­tio­nellen Systems wurde kritisiert.

Es ist jedoch davon auszu­gehen, dass nur eine Minder­heit den neuen Verfas­sungs­text gelesen hatte oder gut kannte. Die meisten haben sich ihre Meinung während der Arbeit des Verfas­sungs­kon­vents gebildet, die von einer unge­schickten Kommu­ni­ka­ti­ons­po­litik und von Skan­dalen geprägt war, auf die sich die Bericht­erstat­tung der größten Medien stürzte. Das schlechte Image des Konvents nährte den Glauben, er könne keinen guten Verfas­sungs­text hervor­bringen. Dazu trug eine inten­sive und hoch­fi­nan­zierte Kampagne zur Ableh­nung des neuen Verfas­sungs­textes (einschließ­lich massiver Fake News) bei, die sehr früh einsetzte. Schließ­lich spielte auch die Wahl­ab­sicht eine Rolle. Viele nutzten das Ausgangs­re­fe­rendum als (kriti­sche) Abstim­mung über die Regie­rung von Gabriel Boric, der im März 2022 sein Amt ange­treten hatte und den neuen Verfas­sungs­text unter­stützte. Der 1986 gebo­rene links-progressive Präsi­dent gehört zu einer neuen Gene­ra­tion von Politiker:innen, die aus der univer­si­tären Protest­be­we­gung stammen, die Pinochet-Diktatur – wenn über­haupt – nur in ihren letzten Jahren bewusst erlebten und eine Demo­kra­ti­sie­rung der chile­ni­schen Demo­kratie verfolgen.

Der zweite Versuch

Nach dem Schei­tern des ersten Verfas­sungs­pro­zesses rückten die poli­ti­schen Parteien in den Mittel­punkt der Verfas­sungs­de­batte. Seit den Parla­ments­wahlen im November 2021, die zeit­gleich mit den Präsi­dent­schafts­wahlen statt­fanden, domi­nieren im Kongress konser­va­tive und rechte poli­ti­sche Kräfte. Im Dezember 2022 einigten sich vier­zehn Parteien und drei poli­ti­sche Bewe­gungen auf den „Kompro­miss für Chile“, der mit einer Verfas­sungs­re­form den – im Vergleich zur Über­ein­kunft von 2019 – engeren Rahmen für den zweiten Verfas­sungs­pro­zess fest­legt. Er defi­niert einen „Mini­mal­kon­sens“ von zwölf Grund­prin­zi­pien, die der neue Verfas­sungs­text berück­sich­tigen soll. Dazu gehören unter anderem der Charakter einer demo­kra­ti­schen Repu­blik, das Prinzip der Volks­sou­ve­rä­nität, der Einheits­staat, die Aner­ken­nung der indi­genen Völker als Teil der chile­ni­schen Nation, ein sozialer und demo­kra­ti­scher Rechts­staat, der dem Prinzip der Steu­er­ver­ant­wor­tung unter­liegt und die progres­sive Entwick­lung sozialer Rechte durch öffent­liche und private Insti­tu­tionen fördert, die Gewal­ten­tei­lung sowie die Bewah­rung der natio­nalen Embleme.

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Der Kompro­miss sieht außerdem die Schaf­fung von drei Organen vor, die in den Verfas­sungs­pro­zess einge­bunden werden sollen. Erstens ein direkt gewählter, pari­tä­tisch zusam­men­ge­setzter Verfas­sungsrat (Consejo Consti­tu­cional), der nicht mehr wie im ersten Verfas­sungs­pro­zess aus 155 Mitglie­dern besteht, sondern nur noch aus 50. Zu seiner Wahl sind diesmal nur Partei­listen zuge­lassen, die aller­dings auch unab­hän­gige Kandidat:innen enthalten können. Die erfor­der­liche Mehr­heit für Beschlüsse wurde von zwei Drit­teln auf drei Fünftel gesenkt. Die indi­genen Mandate werden nicht mehr von vorn­herein fest­ge­legt, sondern nach dem Anteil der bei der Wahl tatsäch­lich abge­ge­benen (indi­genen) Stimmen, um eine Über­re­prä­sen­ta­tion zu vermeiden. Zwei­tens eine Fach­kom­mis­sion (Comi­sión Técnica), die sich aus 24 vom Parla­ment gewählten Personen zusam­men­setzt. Sie hat die Aufgabe, einen Vorent­wurf zu erar­beiten, der als Grund­lage für die Bera­tung und Ausar­bei­tung des neuen Verfas­sungs­textes durch den Verfas­sungsrat dienen soll. Drit­tens gibt es ein Tech­ni­sches Komitee für Zuläs­sig­keit (Comité Técnico de Admi­ni­si­bil­idad), dessen 14 Mitglieder vom Parla­ment gewählt werden. Dieses Komitee prüft die Verein­bar­keit der von den verschie­denen Organen verab­schie­deten Bestim­mungen mit den zwölf Grund­prin­zi­pien des Kompro­misses. Die Betei­li­gung der Zivil­ge­sell­schaft über verschie­dene Mecha­nismen ist nun zeit­lich und insti­tu­tio­nell enger gere­gelt als im ersten Verfas­sungs­pro­zess. Schließ­lich ist auch in diesem zweiten Anlauf ein (obli­ga­to­ri­sches) Rati­fi­zie­rungs­ple­biszit vorgesehen.

Noch einmal, aber anders

Mit dem zweiten Verfas­sungs­pro­zess kehrt Chile zum alten, tech­no­kra­tisch geprägten und stark durch die Partei­füh­rungen kontrol­lierten Poli­tik­stil zurück. Die sozialen Unruhen hatten die etablierten Parteien unter Druck gesetzt und sie gezwungen, einen wenig struk­tu­rierten, stark parti­zi­pa­tiven und ausge­spro­chen trans­pa­renten Verfas­sungs­pro­zess zuzu­lassen. Im Zuge der massiven Unruhen mussten sie den Verfas­sungs­kon­vent für Protest, Zivil­ge­sell­schaft und Unab­hän­gige öffnen. Sie selbst mussten dann mehr­heit­lich draußen bleiben, so entschied die Wähler­schaft. Aktivist:innen mit engen Agenden, Maxi­mal­for­de­rungen und revan­chis­ti­schen Haltungen gelang es, die Debatten stark zu beein­flussen und die breite Öffent­lich­keit zu erschre­cken. Die Live-Übertragung der Sitzungen und die einfache Mehr­heit als Entschei­dungs­regel in den Ausschüssen trugen dazu bei, dass auch absurde Anträge auf die Tages­ord­nung kamen und die chile­ni­sche Gesell­schaft davon erfuhr. Die für Parteien typi­schen Aufgaben der Inter­es­sen­ver­mitt­lung, Konsens­bil­dung und Kompro­miss­fin­dung konnten die Advocacy-Organisationen und unab­hän­gigen Kandidat:innen nicht über­nehmen. Der Verfas­sungs­kon­vent war in seiner Viel­falt zwar ein getreues Abbild der Gesell­schaft (deskrip­tive Reprä­sen­ta­tion), aber nicht in der Lage, diese ideo­lo­gisch zu reprä­sen­tieren (substan­zi­elle Repräsentation).

Ein nega­tiver Konsens ist leichter zu errei­chen als ein posi­tiver. Eine Mehr­heit möchte die bestehende Verfas­sung ersetzen. Doch der erste Verfas­sungs­pro­zess ist geschei­tert. Unter den tradi­tio­nellen Kräften fühlen sich die Mitte-Rechts-Parteien als Sieger und die Mitte-Links-Parteien haben die Notwen­dig­keit einer perso­nellen und inhalt­li­chen Erneue­rung noch nicht begriffen. Auch wenn die alten Forde­rungen leiser geworden sind, sind die Probleme der Exklu­sion nicht verschwunden. Zu den Ermü­dungs­er­schei­nungen nach dem ersten Verfas­sungs­pro­zess kommen die Auswir­kungen der Pandemie und der wirt­schaft­li­chen Rezes­sion. Das Gefühl der Unsi­cher­heit hat zuge­nommen, sowohl im Sinne von Unge­wiss­heit als auch von Krimi­na­lität. Ein wach­sender Teil der Gesell­schaft hat den Eindruck, dass der Verfas­sungs­pro­zess wenig mit ihren Alltags­pro­blemen zu tun hat. Die poli­ti­schen Parteien haben den zweiten Verfas­sungs­pro­zess in ein insti­tu­tio­nelles Korsett gezwängt. Es gibt selten gute Politik ohne Parteien. Aber es gibt auch selten gute Politik nur mit Parteien – zumal, wenn sie sich nicht für die Forde­rungen der Gesell­schaft öffnen.

Der zweite Verfas­sungs­pro­zess ist im Gange. Im März konsti­tu­ierte sich die Fach­kom­mis­sion, die zwar aus zwölf Männern und zwölf Frauen besteht (davon 21 Jurist:innen!), in ihrer Zusam­men­set­zung aber weniger die chile­ni­sche Gesell­schaft als viel­mehr ihre poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Elite wider­spie­gelt. Am vergan­genen 7. Mai wurde der Verfas­sungsrat gewählt: Bei Wahl­pflicht lag der Anteil der ungül­tigen und leeren Stimmen bei rund 22 Prozent. Die 2019 gegrün­dete rechts­ra­di­kale Repu­bli­ka­ni­sche Partei wurde mit rund 35 Prozent der Stimmen zur klaren Siegerin. Sie ist die Partei von José Antonio Kast, der Präsi­dent­schafts­kan­didat, der 2021 im ersten Wahl­gang vor Boric lag. An zweiter Stelle folgt die Koali­tion (der Regie­rungs­par­teien) „Einheit für Chile“ mit rund 29 Prozent. Die meisten tradi­tio­nellen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien, die bis zur Wahl von Boric die wech­selnden Regie­rungs­ko­ali­tionen gebildet hatten, gehen noch einmal geschwächt aus den Wahlen hervor: Erstere im Bündnis „Sicheres Chile“ erreichten einen Stim­men­an­teil von rund 21 Prozent, letz­tere im Bündnis „Alles für Chile“ nur rund 9 Prozent der Stimmen – ohne den Einzug in den Verfas­sungsrat zu schaffen. Damit werden die rechts­ra­di­kalen und Mitte-Rechts-Parteien eine deut­liche Mehr­heit der Mitglieder des Verfas­sungs­rates stellen. Was für einen Verfas­sungs­text wird dieser den chile­ni­schen Bürger:innen im Dezember 2023 zur Abstim­mung vorlegen? Das Pendel ist in die andere Rich­tung ausge­schlagen. Besorgte Stimmen spre­chen bereits von der Gefahr eines „konsti­tu­tio­nellen Rück­schritts“, sollte der neue Verfas­sungs­text im Refe­rendum ange­nommen werden. Doch das Ergebnis ist heute unge­wisser denn je.