Ehrgeizige und gut geplante Entwicklungshilfeprojekte scheitern aus unterschiedlichen Gründen. Wenig Aufmerksamkeit erfährt das Nachleben solcher „Interventionen“, wenn lokale Gemeinschaften versuchen, sich in Form von Gerüchten und Geschichte, aber auch durch alternative Nutzungen die Überreste kreativ anzueignen. Ein Plädoyer dafür, zuzuhören.

  • Andrea Steinke

    Andrea Steinke is a social anthropologist with a research background in humanitarian aid, peace and security studies. The monograph “Faith in Humanitarianism: Professionalism, Faith, and Disaster Intervention in Haiti” (forthcoming 2020), based on ethnographic fieldwork on humanitarian intervention in post-earthquake Haiti, will be published in the series “NGOgraphies”. Currently, Andrea Steinke works as a researcher for the Centre for Humanitarian Action (CHA), based in Berlin. photo: Roberto Stephenson
  • Yonatan N. Gez

    Yonatan N. Gez is a social anthropologist studying international development and religion in East Africa. He currently serves as a Humboldt Fellow at the University of Konstanz, Germany, and as a research fellow at the Graduate Institute of International and Development Studies in Geneva, where he is a Deputy PI on a Franco-Swiss research project titled “Self-Accomplishment and Local Moralities in East Africa”. His recent books include the monograph “Traditional Churches, Born Again Christianity, and Pentecostalism: Religious Mobility and Religious Repertoires in Urban Kenya” and the edited volume “International Development in Africa: Between Theory and Practice”.

Eine alte Bushal­te­stelle in der Mitte eines kleinen Dorfes im sambi­schen Copper­belt, dem größten Kupfer­ab­bau­ge­biet in Afrika, umgeben von Markt­ständen, die Gemüse und Guthaben für Prepaid Handys verkaufen. Kinder laufen herum, unter dem Well­blech­dach der Halte­stelle stehen drei Frauen und unter­halten sich. Ein zufäl­liger Beob­achter würde an dieser Szene zunächst nichts Unge­wöhn­li­ches finden. Doch die Bushal­te­stelle hat keine Beschil­de­rung und es gibt auch keinen Fahr­plan. Darüber hinaus ist die Straße um den Dorf­platz nicht asphal­tiert, was sie zu einer recht unkom­for­ta­blen Kreu­zung für den Verkehr aus den nahe­ge­le­genen Städten Ndola, Luanshya oder Kitwe machen würde – Städte, die sich einst als Umschlag­plätze für den sie umge­benden lukra­tiven Kupfer­bergbau entwi­ckelt hatten.

Der Zusam­men­bruch der Berg­bau­in­dus­trie in den 1970er Jahren, als infolge der Ölkrise der Kupfer­preis auf dem Welt­markt drama­tisch einge­bro­chen ist, hat nicht nur die umlie­genden Orte und Gemeinden uner­wartet getroffen, sondern bedeu­tete insge­samt einen Rück­schlag für die fort­schritts­ori­en­tierte Vision Sambias, für die Entwick­lung ein inte­graler Bestand­teil war.

Den Ort zurückgewinnen

Der Bus wird in abseh­barer Zeit nicht kommen. Der Well­blech­un­ter­stand war Teil eines ehrgei­zigen länd­li­chen Entwick­lungs­vor­ha­bens, einbettet in das umfas­sende Entwick­lungs­pa­ra­digma der 1960er Jahre, mit dem das gesamte länd­liche Afrika über­zogen wurde. Plan­sied­lungen wurden errichtet, in denen kleine Häuser in einheit­li­chen Sektionen zu Klein­sied­lungen ange­ordnet wurden, mit einem Zugang von jedem Haus zu einem kleinen Stück Land für die eigene Bewirt­schaf­tung. Alle Sied­lungs­teile grenzen an den Dorf­platz, auf dem die Bauern ihre Produkte nach einem genos­sen­schaft­li­chen Modell verkaufen, und – über eine geplante asphal­tierte Straße – in den weiteren Copper­belt und darüber hinaus trans­por­tieren sollten.

Project after­life in Tanz­ania (Lake Victoria, 2015); Source: Yonatan N. Gez

Dieses aus Israel impor­tierte Modell basierte übri­gens auf dem Entwick­lungs­plan für die israe­li­sche Lachisch-Region aus den 1950er Jahren, als der damals noch junge Staat Israel versuchte, die Wellen der Neuein­wan­derer aus dem Mitt­leren Osten aufzu­nehmen. Im Zentrum des Lachisch-Modells stand die Stadt Kiryat Gat, in der heute mehrere große High-Tech-Fabriken ange­sie­delt sind. Das sambi­sche Dorf hingegen erlebte ein anderes Schicksal. Heute, etwa fünfzig Jahre nachdem die Blau­pausen für eine Entwick­lung nach auslän­di­schem Vorbild an den Ort gebracht wurden, bleiben die Verspre­chen des Fort­schritts unerfüllt.

Umnut­zung

Den Frauen, die unter dem Well­blech­dach und bei den Metall­kon­struk­tionen der geplanten Bushal­te­stelle plau­dern, sind uner­füllte Verspre­chungen nur allzu vertraut. Für sie ist der Ort längst zu etwas Anderem geworden: zu einem zentralen Treff­punkt, einem Schat­ten­platz, um der Mittags­hitze zu entkommen, einem über­dachten Verkaufs­stand. In gewisser Hinsicht hat die Konstruk­tion schon lange ihre von den Planer*innen vorge­se­hene Funk­tion verloren, in anderer Hinsicht jedoch ist sie immer noch eine Erin­ne­rung an das, was sie einmal war: das Verspre­chen einer besseren Zukunft, einer – wenn auch unscharf gefassten – Moder­nität, und der sozio­öko­no­mi­schen und geogra­fi­schen Mobi­lität. Das halb­fer­tige Baupro­jekt ist Stoff für die unter­schied­lichsten Geschichten, Geschichten über die auslän­di­schen Entwicklungshelfer*innen und ihre wirk­li­chen Absichten, über ihre Miss­ver­ständ­nisse hinsicht­lich der lokalen Macht­ver­hält­nisse und über ihre Versuche, eine Umver­tei­lung des Wohl­stands herbeizuführen.

Project after­life in Tanz­ania (Lake Victoria, 2015); Source: Yonatan N. Gez

Nachdem die Ausländer gegangen waren, brach das Projekt bald zusammen. Ursäch­lich waren eine Kombi­na­tion aus schlechtem poli­ti­schem und wirt­schaft­li­chem Timing sowie über­zo­gene Moder­ni­sie­rungs­er­war­tungen: Die verblei­benden genos­sen­schaft­li­chen Koope­ra­tiven waren nicht in der Lage, die anspruchs­volle impor­tierte Maschi­nerie zu managen, die das Projekt ihnen hinter­ließ – ohne Ersatz­teile und Geld­re­serven fielen die Trak­toren und Pumpen nach und nach außer Betrieb. Eine Abwärts­spi­rale wurde zudem in Gang gesetzt, als sich die Soli­da­rität, das Herz­stück der Koope­ra­tive, verflüch­tigt hatte, und ein Miss­ma­nage­ment der Finanzen sowie die eigen­nüt­zige Aneig­nung von kollek­tivem Eigentum mutmaß­lich über­hand­ge­nommen hatten. Der verblei­bende Besitz wurde von den Banken beschlag­nahmt, sobald klar wurde, dass die Kredite nicht zurück­ge­zahlt werden konnten.

Und doch, neben Zerstö­rung und Entropie bleibt auch eine andere Vergan­gen­heit lebendig. Die neben jedem Haus wach­senden Mango­bäume sind in den fünfzig Jahren seit ihrer Pflan­zung hoch­ge­wachsen und bieten den alten und neuen Bewohner*innen Schatten und Früchte. Erzäh­lungen über die ursprüng­li­chen Entwick­lungs­in­ter­ven­tionen und ihre Ziele zirku­lieren bis heute, und manchmal inspi­rieren sie auch zu neuen, eigen­ständig vor Ort entwi­ckelten Initiativen.

„Patient Null“

Die Geschichte des Schei­terns ist altbe­kannt und beschränkt sich keines­falls auf das subsa­ha­ri­sche Afrika. Das kari­bi­sche Haiti, genauer gesagt das Tal von Marbial, kann als „Patient Zero“ der Entwick­lungs­hilfe ange­sehen werden. Bereits 1948 star­teten die neu gegrün­deten Vereinten Nationen über ihre Orga­ni­sa­tion für Bildung, Wissen­schaft und Kultur (UNESCO) ein Pilot­pro­jekt in der Region. Marbial wurde als eine Region beschrieben, in der „eine Kombi­na­tion aus Tropen­krank­heiten, Boden­ero­sion und Über­be­völ­ke­rung, Unwissen und Elend verbreiten“. Das frühe Entwick­lungs­en­ga­ge­ment der Nach­kriegs­zeit reichte aller­dings nicht sehr weit und galt bereits kurz nach seinem Beginn als geschei­tert. Während die École Natio­nale UNESCO Marbial zwar auch heute noch exis­tiert, 70 Jahre nach den ersten Expe­ri­menten der Vereinten Nationen mit inter­na­tio­naler Entwick­lungs­hilfe und Moder­ni­sie­rung, kann man aus den Entwick­lungs­be­richten über die Region noch immer ein Echo des ersten Berichts zur Lage in Marbial heraus­hören. Wenn aber keine Verbes­se­rung statt­ge­funden hat, was bleibt dann? Wenn das UNESCO-Programm keine Grund­lage für eine bessere Bildung im Marbial-Tal schaffen konnte, welche Perspek­tiven hat das Projekt dennoch geschaffen, und für wen?

Project after­life in Tanz­ania (Lake Victoria, 2015); Source: Yonatan N. Gez

In den letzten Jahr­zehnten häufen sich die Belege dafür, dass die inter­na­tio­nalen Entwick­lungs­hil­fe­pro­gramme, in konkrete Projekt­ziele über­setzt und an diesen gemessen, nur unge­nü­gende Ergeb­nisse erbringen. Der Befund ist so deut­lich, dass er inzwi­schen zum Allge­mein­platz geworden ist. Insbe­son­dere für die erste Welle von groß ange­legten Top-Down-Projekten nach dem hier­ar­chi­schen, ambi­tio­nierten und hoch­mo­der­nis­ti­schen Ansatz der 1960er Jahre sehen die Resul­tate beson­ders desolat aus. Der Ansatz ist seitdem in Ungnade gefallen und wurde von diffe­ren­zier­teren Methoden, und in jüngster Zeit von einer Sprache der Inklu­sion, der basis­de­mo­kra­ti­schen Parti­zi­pa­tion und des „community-based deve­lo­p­ment“ abge­löst. Trotzdem ist es nach wie vor gang und gäbe, dass Entwick­lungs­pro­jekte ihre eigenen Ziel­vor­gaben nicht errei­chen und die weit­rei­chenden Folgen ihrer Inter­ven­tionen kaum vorher­sagen können. Doch nicht nur die physi­schen, auch die psychi­schen, gesell­schafts­po­li­ti­schen und ökono­mi­schen Land­schaften bleiben mit den vergan­genen Entwick­lungs­maß­nahmen verbunden – dem Nach­hall ihrer Erfolge, Miss­erfolge und unbe­ab­sich­tigten Auswir­kungen. Entwick­lungs­maß­nahmen  „Inter­ven­tionen“ im wört­li­chen Sinne  hinter­lassen ihre Spuren und führen zu unbe­ab­sich­tigten Konse­quenzen, die im Grunde aber nicht weniger folge­richtig sind, als die ursprüng­lich geplanten Ziele.

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„Wessen Realität zählt?“

Die Frage des Nach-Lebens von Entwick­lungs­maß­nahmen ist vor allem für die lokale, ansäs­sige Bevöl­ke­rung von entschei­dender Bedeu­tung. Obwohl die betrof­fenen Gemein­schaften Haupt­ak­teure und erklärte Ziel­gruppen der Maßnahmen sind, werden sie oft von anderen Projekt­in­di­ka­toren beisei­te­ge­schoben. Die kriti­sche Entwick­lungs­for­schung, die Entwick­lungs­an­thro­po­logie sowie die Science and Tech­no­logy Studies (STS) liefern hier wert­volle Studien zu Konzepten von „owner­ship“ und „contested narrative-making“, die Robert Cham­bers grund­le­gende Frage aufnehmen: „Wessen Realität zählt?“ (1997). Aus dieser Perspek­tive zeigt sich auch eine gewisse Ironie hinsicht­lich des aner­kann­ter­maßen ebenso über­be­an­spruchten wie vagen Konzepts des „Empower­ment“, dem Leit­bild vieler Entwick­lungs­in­ter­ven­tionen. Denn in dem Moment, in dem Projekte schei­tern und ihre Ziel­vor­gaben preis­geben müssen, wird auch das edle Schlag­wort noch einmal auf die Probe gestellt. Oft zeigt sich erst jetzt deut­lich, wie weit die lokalen Nutzniesser*innen der Projekte, die Hilfeempfänger*innen  tatsäch­lich von Entschei­dungs­pro­zessen entfernt sind.

Häufig werden die lokalen „commu­ni­ties“, die Ziel­gruppen der Projekte, nicht ausrei­chend konsul­tiert und nur unzu­rei­chend darüber infor­miert, was poli­tisch hinter den Kulissen entschieden wird und welches die Gründe und Argu­mente für den Beginn und das Ende eines Projekts sind, oder in welchem weiteren Kontext es steht. Und so ist „Entwick­lung“, trotz des seit den 1980er Jahren vermehrten Gebrauchs einer Rhetorik der Inklu­sion, immer noch vornehm­lich etwas, das den Armen „geschieht“.

Diesen Punkt veran­schau­li­chen die Geschichten und Gerüchte um die Projekte, die eine wich­tige Lücke des Nicht­wiss­baren füllen, und zugleich klar das Ungleich­ge­wicht von Macht und Infor­ma­tion belegen. Da gerade dieje­nigen Menschen, die die lang­fris­tigen Folgen einer Inter­ven­tion zu tragen haben, zugleich am wenigsten über die Politik der Entschei­dungs­fin­dung infor­miert sind, suchen sie nach Erklä­rungen, wo immer sie diese finden. 

In länd­li­chen Gebieten in Mwanza, im Nord­westen Tansa­nias, wo ehrgei­zige Initia­tiven zur länd­li­chen Entwick­lung aus den 1960er Jahren inner­halb weniger Jahre aufge­geben wurden, zirku­lieren zahl­reiche Geschichten und suchen die ehema­ligen Projekt­stand­orte heim. Im Schatten einer düsteren Erin­ne­rung an die Wende in den 1960er Jahren bleiben Gerüchte trotz der Jahr­zehnte, die inzwi­schen vergangen sind, präsent. In einem Dorf etwa, das sich im Herzen eines kleinen Berg­bau­ge­bietes befindet, trafen wir auf eine Fülle von Geschichten, die die „wahren“ Moti­va­tionen auslän­di­scher Inter­ven­tionen mit dem lukra­tiven Rohstoff­ge­schäft der Gegend in Verbin­dung brachten. Die Frus­tra­tion, die die Einhei­mi­schen hinsicht­lich des Schei­terns der Initia­tiven empfanden, über­setzte sich in Verschwö­rungs­theo­rien: Manch einer glaubt, dass die Ausländer so verär­gert waren, den lukra­tiven Ort wieder verlassen zu müssen, dass sie das Land vorsätz­lich vergiftet haben – ein teleo­lo­gi­sches Narrativ, das auch erklärt, warum im eigenen Dorf kein Gold gefunden werden kann, im Nach­bar­dorf hingegen schon. Die Geschichten werfen auch ein Licht auf die Zwei­deu­tig­keit, die Entwick­lungs­pro­jekten inhä­rent ist: Selbst, wenn sie gut gemeint sind, gründen sie auf einer krass unglei­chen Vertei­lung von Hand­lungs­macht und einer Asym­me­trie des Wissens sowie ungleich verteilten Risiken.

Geschichten der Aneignung

Project after­life in Tanz­ania (Lake Victoria, 2015); Source: Yonatan N. Gez

Es ist hervor­zu­heben, dass solche Geschichten und Gerüchte über die „wahren“ Motive auslän­di­scher Inter­ven­tionen nicht nur die Verletz­lich­keit der lokalen Gemein­schaften zeigen, sondern auch ihre Wider­stands­fä­hig­keit und die Krea­ti­vität, mit der sie die ihnen aufge­drängten Narra­tive umge­stalten. Aus diesem Blick­winkel sind die Menschen, denen die Entwick­lungs­hilfe zugu­te­kommen soll, weit davon entfernt, passive Rezipient*innen oder Opfer zu sein. Sie können sich die Verspre­chen der entwick­lungs­ori­en­tierten Reformen aneignen und sie neu ausrichten und zwar im Dienst ihrer eigenen poli­ti­schen Agenda. Sie können den uner­wünschten und externen Einmi­schungen Wider­stand leisten und diese sabo­tieren, oder aber die Ressourcen, die sie aufgrund der von außen kommenden Inter­ven­tionen gewinnen, auf eine unvor­her­ge­se­hene Weise gegen die ursprüng­li­chen Ziele der Planer – und deren latente Ideo­lo­gien – wenden. Dieses Handeln bringt uns zu dem inter­es­santen Gedanken, dass «Entwick­lung» weit davon entfernt ist, das folge­rich­tige Resultat klar formu­lierter Ziele zu sein, sondern sich viel­mehr gegen unzäh­lige Wider­stands­formen und Gegen­nar­ra­tive durch­setzen muss, die sich gegen die aufer­legten Struk­turen und Bestim­mungen richten. Unter einem solchen Gesichts­punkt sollte dem krea­tiven Nutzen und Umnutzen des „Rohma­te­rials“ der Entwick­lung mehr Aufmerk­sam­keit geschenkt werden, den mate­ri­ellen Über­resten und den Reprä­sen­ta­tionen im Zusam­men­hang mit der (Wieder-)Herstellung von Bedeu­tungen, mit Mythen und Ursprungs­ge­schichten, Prak­tiken, Perfor­mances – und Gerüchten.

Vergan­gen­heit als Chance

Inso­fern dürfen wir nicht vergessen, dass aufge­ge­bene Projekte nicht nur ein Mani­fest kollek­tiver Not sind, sondern auch neue autarke Akti­vi­täten anregen können. Ein Beispiel dafür führt zurück in das sambi­sche Dorf im Kupfer­gürtel und insbe­son­dere zu der erfolg­reichsten Koope­ra­tive, die heute im Dorf tätig ist. Dort gibt es heute eine Genos­sen­schaft, die auf Milch­wirt­schaft ausge­richtet ist. Sie wurde Mitte der 1990er Jahre von einer Dorf­be­woh­nerin mit der Hilfe eines Darle­hens von der NGO Heifer Inter­na­tional gegründet. Trotz der zwei Jahr­zehnte, die zwischen dem Schei­tern der israe­li­schen Inter­ven­tion und der Grün­dung der Molke­rei­ko­ope­ra­tive vergangen sind, und trotz der weiteren zwei Jahr­zehnte zwischen der Grün­dung der Koope­ra­tive und unserem Besuch vor Ort, gaben uns lokale Würden­träger zu verstehen, dass der kurz­le­bige Erfolg der Inter­ven­tion aus den 1970er Jahren die Koope­ra­tive grund­le­gend inspi­riert habe. Zurück­ge­hend auf das Verspre­chen aus den 1970er Jahren, jeden Einwohner mit einem Ei pro Tag zu versorgen, passte die Molke­rei­ko­ope­ra­tive ihre Devise an und versucht heute, ihre Mitglieder und deren Fami­lien mit einem Glas Milch pro Tag zu belie­fern. Das Beispiel zeigt, wie Gemein­schaften Über­reste von Projekten und Projekt­ideen für sich rekla­mieren und umge­stalten, und zwar unter dem Aspekt, der für sie wichtig ist – in diesem Fall war es das Fest­halten am Geist der Koope­ra­tive. Gleich­zeitig weisen solche Fälle aber auch auf die analy­ti­sche und konzep­tio­nelle Schwie­rig­keit hin, vergan­gene Einflüsse und Inspi­ra­tionen eindeutig nachzuvollziehen.

Um das Ganze noch kompli­zierter zu machen, müssen wir die verschie­denen Zeit­schichten unter­schied­li­cher externer und lokaler Inter­ven­tionen berück­sich­tigen. In einer Branche, die ständig mit Vorstel­lungen von Fort­schritt und Inno­va­tion operiert, und zwar häufig entlang vorbe­stimmter, linearer Prämissen, gibt es die Tendenz, den inno­va­tiven Charakter neuer Projekte zu über­be­werten und die Bedeu­tung der Vergan­gen­heit zu unter­schätzen. Die Geschichte, so heißt es, beginnt immer mit dem neuen Projekt, obwohl sich dies mit der zuneh­menden Aner­ken­nung von lokalem Wissen und lokalem „Kapital“ verän­dern könnte. Lokale Gemein­schaften sind die Träger und der Spei­cher lokaler Geschichte und haben den Schlüssel zum Wissen darüber, was zuvor funk­tio­niert hat, was keine Früchte getragen hat und wie man irrele­vante Ideen und „Mate­ria­lien“ in etwas von aner­kanntem Wert und Nutzen verwan­deln kann. Entwicklungspraktiker*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen können bei ihrer Arbeit von einem dezen­tralen Gestal­tungs­an­satz profi­tieren, indem sie sich nicht allein auf die Erfül­lung vorge­ge­bener Ziele konzen­trieren, sondern ihre Aufmerk­sam­keit auf diese krea­tiven Prak­tiken der Aneig­nung richten.

Wir danken Prof. Lynn Schler vom Tamar Golan Africa Center, Ben Gurion Univer­sity, Israel.